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Er hörte den Schrei und verschwand schnell nach unten, so daß Joan ihn nicht mehr sehen konnte. Sie sprang auf und hielt sich am Fensterbrett fest. Ihr Herz schlug wild. Wer mochte er sein, und was wollte er von ihr? Im Haus herrschte tiefes Schweigen. Niemand hatte sie gehört, denn die Mauern waren sehr stark.

 

Es kostete sie einige Überwindung, hinauszuschauen, soweit es ihr das Eisengitter gestattete. Der kleine Garten lag friedlich und geheimnisvoll im Mondschein vor ihr, und lange Schatten fielen quer über den Boden. Merkwürdige Gestalten schienen aufzutauchen und wieder zu verschwinden. Dann sah sie den Mann, der sich vorsichtig zur Mauer schlich. Im nächsten Augenblick war er außer Sicht.

 

Warum brachte sie nur diesen mitternächtlichen Vagabunden mit Sadi Hafis in Verbindung? War er irgendein Agent oder Beauftragter des schlauen Arabers?

 

Der Tag graute schon, als sie sich niederlegte, und als sie spät am Vormittag erwachte, blieb ihr keine Zeit, über ihr nächtliches Erlebnis nachzudenken. Kaum hatte sie sich angezogen und ihr Frühstück beendet, als Ralph eintrat. Er war lebhaft und begrüßte sie mit strahlendem Lächeln.

 

»Joan, ich möchte Sie bitten, jetzt Reverend Aylmer Bannockwaite zu empfangen. Sie werden ihn allerdings sehr verändert finden. Er hat zugestimmt, die Trauung vorzunehmen, die hoffentlich der Beginn einer neuen und schönen Zeit für uns beide ist.«

 

»Wann wollen Sie denn –«

 

»Noch heute.«

 

Entsetzt sah sie ihn an.

 

»Sie müssen mir Zeit lassen, Mr. Hamon! Morgen –«

 

»Heute«, bestand er. »Ich will nicht noch einen weiteren Tag verlieren. Ich kenne meinen Freund Sadi Hafis. Er hat genug Respekt vor dem Gesetz und der Heiligkeit der Ehe, um sich nicht an Sie heranzuwagen, wenn Sie verheiratet sind. Aber wenn ich bis morgen warte –«

 

Feste Entschlossenheit prägte sich plötzlich in ihren Zügen aus.

 

»Ich lehne es ein für allemal ab, Sie zu heiraten. Und wenn Mr. Bannockwaite nur noch einen Funken von Ehrgefühl hat, wird er diese Schandtat nicht begehen.«

 

»Bannockwaite hat wirklich nicht mehr das geringste Ehrgefühl. Empfangen Sie ihn jetzt. Er ist augenblicklich in gehobener Stimmung, und man kommt so besser mit ihm aus.«

 

Bei Tageslicht erschien Aylmer Bannockwaite noch schrecklicher als in der Dämmerung. Er zitterte, und Joan hatte den Eindruck, daß ein Teufel in menschlicher Gestalt in den Raum trete, als er auf sie zukam und ihr seine plumpe Hand entgegenstreckte.

 

»Ach, sehen Sie, das ist ja mein liebes, nettes Carstonmädel«, sagte er aufgeräumt. »Ein sehr hübscher Zufall, daß ich Sie zum zweitenmal trauen soll. Ein ganz besonderer Vorzug.«

 

Sie schauderte.

 

»Ich will nicht heiraten, Mr. Bannockwaite! Ich mache Sie ausdrücklich darauf aufmerksam, daß es gegen meinen Willen geschieht, wenn Sie mich trauen.«

 

»Na, na, nun seien Sie doch nicht empfindlich!« rief er laut. »Das habe ich noch nie gehört – eine Braut, die sich ziert! Die Ehe ist doch der natürliche Stand für den Menschen. Ich habe stets bedauert, daß ich –«

 

»Sie sind ein gemeiner, niederträchtiger Mensch«, rief sie empört.

 

Seine Unterlippe schob sich vor, und er schaute sie wütend an.

 

»Ich werde Sie trauen, und wenn ich dafür gehenkt werden sollte!« schrie er wild. »Und die Trauung, die ich vollziehe, ist gesetzmäßig und bindend!«

 

Hamon ergriff ihn am Arm.

 

»Ruhig, ruhig«, sagte er und klopfte ihm begütigend auf die Schulter. Dann wandte er sich zu Joan. »Was hat es denn für einen Zweck, sich zu sträuben? Bei Ihrer ersten Trauung war er doch auch gut genug.«

 

»Ich will Sie nicht heiraten, und ich werde Sie nicht heiraten!« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Eher würde ich den Bettler heiraten, den ich draußen auf der Straße sah, oder den niedersten Sklaven in Ihrem Haus, als einen Dieb und einen Mörder – einen Mann, dem kein Verbrechen zu gemein ist! Ich würde eher noch einen –«

 

»Einbrecher nehmen!« Hamon schäumte vor Wut.

 

»Ja! Zehntausendmal lieber als Sie, wenn Sie Jim Morlake meinen!«

 

»Sie sollen Ihren Willen haben!« zischte er, lief aus dem Zimmer und ließ sie mit dem heruntergekommenen Menschen allein.

 

»Wie können Sie sich so weit erniedrigen?« fragte sie ihn. »Ist denn nichts Gutes mehr in Ihnen, an das man sich wenden könnte?«

 

»Ich brauche keine Predigten, von Ihnen schon gar nicht«, sagte er mit einem Fluch. »Ich werde Ihnen begreiflich machen, daß ich Ihnen an Verstand über bin und gesellschaftlich gleichgestellt –«

 

»Moralisch sind Sie der Staub an meinen Füßen!« rief sie zornig.

 

»An Verstand bin ich Ihnen überlegen, und gesellschaftlich stehe ich Ihnen gleich«, wiederholte er. »Und ich bin erhaben über Ihre Beleidigungen.«

 

Plötzlich stürzte Hamon wieder herein. Mit Entsetzen sah Joan, daß er den Bettler hinter sich herzog, den grinsenden, zahnlosen, unterwürfigen Greis.

 

»Da haben Sie Ihren Mann!« schrie er. »Schauen Sie ihn nur an – Sie wollten doch eher einen Bettler heiraten als mich! Haben Sie das nicht eben gesagt? Nun gut, Sie sollen ihn heiraten und Ihre Flitterwochen in der Wüste verbringen! Nehmen Sie Ihr Ritualbuch, Bannockwaite!« brüllte er. Schaum trat vor seinen Mund; er hatte jede Beherrschung verloren.

 

Bannockwaite zog ein kleines Buch aus der Tasche und öffnete es.

 

»Wir brauchen Zeugen«, sagte er dann.

 

Hamon stürmte wieder hinaus und kam mit einem halben Dutzend Diener zurück.

 

Unter den neugierigen Blicken der kichernden Araber wurde Lady Joan Carston mit Abdul Aziz vermählt. Hamon flüsterte den Leuten auf arabisch etwas zu, dann wurde Joan am Arm ergriffen und in den Garten gebracht.

 

Hamon selbst schleppte sie an das offene Tor und stieß Joan und den Bettler mit solcher Heftigkeit hinaus, daß sie beinahe gefallen wären.

 

»So, nun nimm deinen Mann mit nach Creith!« schrie er höhnisch. »Beim Teufel, du wirst noch froh sein, wenn du zu mir zurückkehren darfst!«