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Gehorsam trug er Spirituskocher, Tassen und Schüsseln in die Küche und schaute ihr dann bewundernd zu, wie sie im großen Küchenherd Feuer machte.

 

»Lassen Sie doch mich das besorgen!« bat er.

 

»Das hätten Sie schon vor Stunden selbst machen können«, erwiderte sie vorwurfsvoll. »Aber es wäre Ihnen ja doch nicht gelungen. Sie hätten höchstens eine noch viel größere Rauchwolke zustande gebracht –«

 

»Feuer anzünden ist allerdings eine Kunst – ich habe das bisher noch nicht gewußt.«

 

»Sehen Sie einmal in der Speisekammer nach, ob Sie nicht etwas Bratfett finden!«

 

Er gehorchte und kam mit dem Gewünschten wieder.

 

Sie hatte sich vor dem knisternden Feuer auf die Knie niedergelassen und sah ihn neugierig an.

 

»Warum sind Sie eigentlich nicht nach London zurückgegangen? Sie haben doch eine schöne Stadtwohnung?«

 

»Ich bleibe lieber hier.«

 

»Wie hochmütig – ich bleibe lieber hier!« Sie ahmte seine Stimme nach. »Sie werden hier noch verhungern, mein lieber Freund, und sich zu Tode frieren. Sie müssen doch nun schon wissen, daß die Leute in Creith es nicht zulassen, daß ihre reinen Seelen durch die Berührung mit einem Menschen mit Ihrer Vergangenheit befleckt werden. Holen Sie sich doch Dienstboten aus London, die sind weniger kleinlich in ihren Ansichten!«

 

Sie machte sich mit den Eiern zu schaffen.

 

»Wissen Sie denn auch, warum dieser Widerstand gegen Sie im Dorf erwacht ist?« fragte sie nach einer Weile. »Sie müssen nicht denken, daß die Leute das nur getan haben, weil sie sittenstreng sind. Vor einer Woche kam Mr. Hamon hierher und hetzte alle gegen Sie auf. Ich nehme an, daß er auch Ihr Personal aufsässig gemacht hat. Ich weiß es von meinem Mädchen, das hier im Dorf wohnt –«

 

»Von wem wissen Sie es?« fragte er schnell.

 

»Von meinem Mädchen – ich wollte sagen, von meiner Tante«, erwiderte sie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Also, meine Tante, die hier im Dorf lebt und allen Klatsch hört, hat es mir gesagt.«

 

»Dann waren Sie also hier?«

 

»Nein, ich war zu der Zeit in London – sie erzählte es mir, als ich herkam. So, nun sind die Eier fertig.«

 

»Aber ich kann doch unmöglich drei essen«, protestierte er.

 

»Das sollen Sie auch gar nicht. Eins ist für mich.«

 

Sie ging in die Diele und nahm dort aus einer Tasche Brot und Butter.

 

»Wir werden in der Küche essen, dort fühle ich mich mehr zu Hause. Und nach dem Frühstück sehe ich mich einmal um, was hier alles getan werden muß. Ich kann täglich nur ein paar Stunden kommen.«

 

»Wollen Sie morgen wiederkommen?« fragte er freudig.

 

Sie nickte, und er seufzte erleichtert auf.

 

»Es war so merkwürdig, daß ich Sie nicht kommen sah. Ich schaute doch gerade durch das Fenster auf die Einfahrt.«

 

»Ich bin auch nicht auf dem großen Paradeweg, sondern auf einem Geheimpfad gekommen. Natürlich habe ich so viel Rücksicht auf meinen Ruf zu nehmen, daß ich heimlich kommen muß.«

 

Er lachte.

 

»Wenn Sie damit sagen wollen, daß Sie sich auch nur einen Deut um das kümmern, was die Leute im Dorf von Ihnen denken, dann glaube ich davon kein einziges Wort. Und dann – Sie mögen ja aus dem Dorf stammen, sonst könnten Sie nicht soviel von den Leuten hier wissen, aber daß Sie zu den Dienstboten gehören, glaube ich Ihnen niemals.«

 

»Holen Sie mir den Teppichklopfer! Ich will Ihnen einmal zeigen, wie man damit umgeht – und daß ich wirklich zu arbeiten verstehe.«

 

Ihm verging die Zeit wie im Fluge, und als sie sich schließlich verabschiedete, glaubte er, daß kaum zehn Minuten seit ihrer Ankunft vergangen seien.

 

»Sie wollen schon gehen?« fragte er enttäuscht.

 

»Allerdings – und Sie werden so gut sein und hierbleiben und nicht versuchen, mir zu folgen. Ich vertraue auf Ihre Diskretion, daß Sie im Dorf nicht bei Bekannten fragen, wer ich bin und wer meine Verwandten sind. Ich möchte den Namen Smith reinhalten. Übrigens habe ich mein möglichstes getan, um die Kaufleute zu beruhigen, und ich denke, morgen werden sie Ihnen wieder alles schicken, was Sie brauchen.«

 

»Auf Wiedersehen, Jane, und herzlichen Dank!« sagte er begeistert.

 

Als Jim am nächsten Morgen herunterkam und die Tür öffnete, saß der Ladenjunge des Kolonialwarenhändlers auf den Stufen und wartete, um Aufträge entgegenzunehmen.

 

Auch Jane Smith kam wieder, aber es fiel ihm eine Veränderung auf.

 

»Sie haben geweint?« fragte er mitfühlend.

 

»Nein, ich habe nur wenig geschlafen – das ist alles.«

 

»Aber Sie haben doch geweint.«

 

»Wenn Sie das noch einmal sagen, gehe ich sofort wieder weg. Sie langweilen mich mit Ihren Wiederholungen.«

 

Er schwieg. War sie durch ihren Besuch bei ihm in Schwierigkeiten geraten? Er glaubte auf keinen Fall, daß sie ein Dienstmädchen war. Vielleicht war sie eine arme Verwandte einer der reichen Familien in der Nachbarschaft.

 

Als sie beim Mittagessen saßen, wollte die Unterhaltung kaum in Gang kommen.

 

»Wo wohnen Sie eigentlich?« fragte er sie plötzlich ganz offen.

 

»Ach, irgendwo hier in der Gegend.«

 

»Haben Sie mir überhaupt schon einmal die Wahrheit gesagt?«

 

»Ich war der ehrlichste Mensch von der Welt, bis ich –« sie brach plötzlich ab.

 

»Bis Sie –«

 

»Bis ich eben zu lügen anfing – das ist doch sehr einfach.«

 

»Ich wollte Ihnen noch sagen, daß heute morgen zwei Dienstmädchen zurückgekommen sind. Sie wollen ihre Stellung wieder antreten.«

 

»Nehmen Sie sie nicht«, entgegnete sie hastig. »Wenn Sie es tun, werde ich gehen.«

 

Aber dann kam ihr doch ihr Egoismus zum Bewußtsein.

 

»Ach, nehmen Sie sie ruhig«, fuhr sie schnell fort. »Es ist das beste, wenn Sie Ihr gewohntes Personal so bald wie möglich wiederhaben. Nur sagen Sie mir bitte genau, wann die Leute zurückkommen.«

 

Nach dem Essen half er ihr beim Geschirrspülen, dann ging er in sein Arbeitszimmer, um einige Briefe zu schreiben, während sie das Abendessen für ihn vorbereiten wollte. Die Küchentreppe mündete in einen kleinen Flur, und er war sehr erstaunt, dort eine junge Dame zu finden. Er hatte die Haustür weit offenstehen lassen und entweder nicht gehört, daß sie geklingelt hatte, oder sie hatte nicht geläutet. Sie war sehr schön, das sah er auf den ersten Blick. Auch war sie schick gekleidet. Vielleicht war sie eine Abgesandte der Damen von Sussex, die ihn aufforderten, die Gegend so bald wie möglich zu verlassen.

 

Aber sie lächelte ihn an und trat näher.

 

»Sie sind Mr. Morlake?« fragte sie und reichte ihm die Hand. »Ich habe Sie gleich nach der Fotografie erkannt. Sie kennen mich nicht?«

 

»Ich fürchte, daß ich bisher nicht die Ehre hatte …« Jim führte sie ins Wohnzimmer.

 

»Ich wollte Sie einmal besuchen, Mr. Morlake. Dieser gräßliche Streit zwischen Ihnen und meinem Bruder muß endlich aufhören.«

 

»Ihrem Bruder?« fragte er verwundert.

 

Sie lachte schelmisch.

 

»Nun sagen Sie mir nur nicht, daß Sie nichts gegen den armen Ralph im Schilde führen!«

 

»Ach, Sie sind Miss Hamon?«

 

»Ja, erraten. Ich bin direkt von Paris gekommen, nur um Sie aufzusuchen. Ralph ist sehr bekümmert wegen dieses unseligen Streites, den Sie mit ihm haben.«

 

»Ja, vermutlich«, erwiderte Jim gewandt. »Und Sie sind den weiten Weg von Paris gekommen, um unsere Zwistigkeiten beizulegen? Aber natürlich, Sie sind Lydia Hamon. Wie man doch vergeßlich sein kann! Ich habe Sie gesehen, bevor Ihr Bruder sein großes Vermögen erwarb.«

 

Lydia wollte unter keinen Umständen an diese Zeit erinnert werden und versuchte, die Unterhaltung von dem gefährlichen Thema abzulenken.

 

»Mr. Morlake, ist es denn nicht möglich, daß Sie sich mit Ralph vertragen und mit ihm zusammenarbeiten?«

 

Die Tür öffnete sich plötzlich, und Jane Smith trat herein. Sie wollte wieder nach Hause gehen und zog gerade die Handschuhe an.

 

»Ich dachte, Sie seien in Ihrem Arbeitszimmer –« begann sie, als sie die fremde Dame bemerkte.

 

Wenn die Gegenwart Lydia Hamons sie in Verwunderung setzte, so war doch der Eindruck, den sie umgekehrt auf die Besucherin machte, weit größer.

 

»Ich irre mich doch sicher nicht?« rief sie. »Da ist ja Lady Joan Carston?«