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Mr. Reeder interessierte sich wirklich außerordentlich für den Fall, der für ihn ziemlich klar lag. Alle diese seltsamen Einzelheiten ordneten sich ihm zu einer zusammenhängenden Geschichte. Nur wußte er nicht, wer Ernie eigentlich war, und noch geheimnisvoller erschien ihm der Mann mit dem falschen Schnurrbart und dem gewandten Auftreten, der die Familie Panton mitten in der Nacht aufgesucht hatte, um das Erscheinen einer Verlobungsanzeige zu verhindern. Mr. Reeder fragte Lizzie, ob sie den Text der Annonce wisse.

 

Sie erklärte triumphierend, daß sie den genauen Wortlaut in ein Heft eingetragen hätte, das sie zu Hause aufbewahrte.

 

»Ich glaube«, fuhr sie fort, »daß Mr. Molyneux meine Schwester los sein will. Vielleicht steckt sein Onkel dahinter, wahrscheinlich aber seine Mutter. Sie wissen ja, wie solche Leute denken – sie haben immer Angst, daß ihr Sohn nicht standesgemäß heiratet. Aber darin täuscht sich die Frau! Ich sage Ihnen, meine Schwester hat einen guten Charakter und ist sehr anständig, und außerdem findet man bei den einfacheren Leuten mehr glückliche Ehen als bei den sogenannten ›Vornehmen‹. Man braucht nur in der Zeitung von all den Ehescheidungen zu lesen …«

 

»Ja, ja, Sie mögen recht haben«, erwiderte Mr. Reeder zerstreut. »So genau bin ich darüber allerdings nicht informiert.«

 

Er erhob sich, ging langsam im Zimmer auf und ab und runzelte die Stirn. Die Hände hatte er in die Taschen gesteckt, und die Schultern ließ er herabhängen.

 

»Und noch etwas«, begann Lizzie wieder, die merkte, daß ihre Geschichte großen Eindruck auf ihn gemacht hatte. »Auch wenn sein Onkel ihn enterben will, könnten die beiden heiraten. Enas Schmuck ist ziemlich wertvoll – mindestens tausend Pfund …«

 

»Wie wäre es – könnte ich einmal mit Ena sprechen?« unterbrach Mr. Reeder das Mädchen. »Sie weiß doch wahrscheinlich, daß Sie mir das alles mitteilen? Oder etwa nicht?«

 

Lizzie schlug verlegen die Augen nieder.

 

»Wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll«, entgegnete sie verwirrt, »so hat sie keine Ahnung davon. Was wird sie bloß sagen, wenn sie erfährt, daß ich zu einem Detektiv gegangen bin!«

 

Er nickte ihr zu.

 

»Sagen Sie ihr das ruhig«, erwiderte er freundlich. »Und dann bringen Sie Ihre Schwester morgen abend einmal hierher. Sie soll auch die anderen Briefe mitbringen, die sie von Ernie bekommen hat. Mir kann sie ruhig alles anvertrauen, ich verstehe gut, daß sie jetzt sehr traurig ist.«

 

Er wollte den Brief behalten, den Lizzie ihm gezeigt hatte, aber sie bestand darauf, ihn wieder mitzunehmen.

 

*

 

Den größten Teil der Nacht versuchte sie, ihre Schwester zu überreden, mit ihr zusammen Mr. Reeder aufzusuchen. Ena erschrak, als sie alles erfuhr und machte ihrer Schwester heftige Vorwürfe. Aber schließlich gab sie nach.

 

Am nächsten Abend begleitete sie Lizzie sogar bereitwillig zu der Wohnung Mr. Reeders, denn im Laufe des Tages hatte sich wieder etwas Merkwürdiges ereignet. Sie hatte von Ernie einen eingeschriebenen Brief erhalten, in dem sich drei Banknoten zu je hundert Pfund befanden. Auch eine kurze Mitteilung war dabei:

 

 

›Wenn ein Telegramm mit einer bestimmten Adresse bei Dir eintrifft, so erzähle niemand etwas davon. Verbrenne es und komme sofort zu mir. Ich halte es einfach nicht mehr aus ohne Dich. Besorge dir sofort einen Reisepaß. Sprich aber darüber nicht zu Deiner Mutter oder zu Lizzie. Du brauchst keine Angst zu haben, es wird alles wieder gut.‹

 

 

Auf der Rückseite des Briefes war mit Bleistift eine lange Reihe von Zahlen hingekritzelt, und zwar mußte das in größter Eile geschehen sein.

 

Mr. Reeder zählte die Beträge zusammen, die eine Summe von 310 740 Pfund ergaben.

 

Ena hatte sich einen Detektiv ganz anders vorgestellt. Aber so ging es den meisten Leuten, und Mr. Reeder teilte schon seit langem die Menschen, die er kennenlernte, in zwei Kategorien ein. Die einen waren enttäuscht, wenn sie ihn sahen, die anderen atmeten erleichtert auf. Ena gehörte zu den letzteren.

 

Er war freundlich und liebenswürdig und drängte sie nicht, was sie als sehr angenehm empfand. Sie hatte erwartet, daß er sie mit Fragen bestürmen und in die Ecke treiben würde. Er fragte sie zwar einiges, blieb dabei aber immer zuvorkommend und bemühte sich, sie in keiner Weise zu verletzen.

 

Sie erzählte ihm weit mehr, als sie sich vorgenommen hatte. Es kam ihr selbst erstaunlich vor, einem Fremden so viel anzuvertrauen. Sie schätzte und liebte Ernie sehr; er hatte sich ihr gegenüber immer anständig benommen, und es gab für sie nicht den mindesten Grund zur Klage.

 

»Er hätte doch offen mit mir sprechen können, wenn er mich nicht mehr haben wollte. Ich hätte ihm deswegen bestimmt keine Vorwürfe gemacht«, sagte sie niedergeschlagen.

 

»Aber er mag Sie doch gern und sehnt sich nach Ihnen«, erwiderte Mr. Reeder freundlich. »Trotzdem fürchte ich …«

 

Er schüttelte den Kopf.

 

»Sie glauben, daß er es nicht aufrichtig meint, wenn er schreibt, daß ich mir einen Paß besorgen und zu ihm kommen soll?« fragte sie ängstlich.

 

»Ich bin im Gegenteil fest davon überzeugt, daß er das ehrlich gemeint hat«, entgegnete Mr. Reeder bedächtig. »Nein, ich dachte eben an etwas anderes …«

 

»Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt soviel Gedanken mache«, sagte Ena trotzig. »Meiner Meinung nach sind seine Eltern dagegen. Aber wir müssen doch unser eigenes Leben führen, schließlich heiraten wir ja nicht die Eltern – die ich nicht einmal kenne!«

 

Mr. Reeder schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.

 

»Hat er jemals gesagt, daß er mit Ihnen eine Reise nach Übersee machen wollte?«

 

»Nein.«

 

»Oder unterhielt er sich mit Ihnen darüber, wo Sie einmal Ihre Flitterwochen verbringen würden?«

 

Ena erklärte, daß sie über so etwas niemals gesprochen hätten – solchen Themen wäre er immer ausgewichen.

 

Er rieb sich die Nase und war ein wenig verwundert.

 

»Sie können mir also gar nichts darüber sagen? Hat er nie eine Andeutung über einen Aufenthalt im Ausland gemacht?«

 

Sie schüttelte den Kopf. Das Gespräch begann ihr allmählich auf die Nerven zu gehen, und besonders die letzte Frage erschien ihr völlig abwegig, nachdem es zumindest unwahrscheinlich war, daß sie Ernie jemals heiraten würde.

 

»Wenn er mir auch geschrieben hat, daß ich zu ihm kommen soll, so weiß er doch ganz genau, daß ich nur zusammen mit meiner Mutter reisen würde.«

 

»Selbstverständlich«, pflichtete er ihr bei.

 

So geschickt er sie auch ausfragte, sie konnte ihm nur wenig von Ernies Charakter erzählen. Er war ganz einfach ein Gentleman für sie, wenn er auch nie über seinen Beruf mit ihr gesprochen hatte. Immerhin schien schon die Tatsache, daß er ihr dreihundert Pfund geschickt hatte, zu beweisen, daß er ein gutes Einkommen bezog. Ena wußte auch, daß er in Birmingham wohnte, weil er dort geschäftlich zu tun hatte. Was er aber eigentlich tat und wie seine genaue Adresse dort lautete, konnte sie auch nicht sagen.

 

»Ich lasse mich nicht so behandeln«, erklärte sie zum Schluß kriegerisch. »Wenn Ernie mich aufgegeben hat, weil ich irgend jemand in seiner Familie nicht gut genug bin, dann …«

 

»Schon gut, Sie haben vollkommen recht«, beruhigte sie der Detektiv.

 

Er nahm wieder den künstlichen Schnurrbart in die Hand und betrachtete ihn nachdenklich, dann stellte er noch einige Fragen. Er wollte wissen, wie groß der fremde Herr gewesen sei, und er erkundigte sich nach dem Klang seiner Stimme, der Kleidung und irgendwelchen besonderen Merkmalen.

 

Sie gab ihm Auskunft, so gut sie konnte. Ziemlich genau glaubte sie sich erinnern zu können, daß er einen Smoking getragen hatte. Völlig sicher war sie sich aber mit der Feststellung, daß sie ihn weder vorher noch nachher jemals gesehen hatte.

 

Als Ena mit ihrer Schwester wieder nach Hause ging, war sie ziemlich ärgerlich.

 

»So habe ich mir einen Detektiv wirklich nicht vorgestellt«, erklärte sie enttäuscht. »Nach jedem Satz macht er eine Pause und sagt ›hm‹. Und dann diese Fragen – ich finde, daß sie in gar keinem richtigen Zusammenhang mit dem Fall stehen. Und meine Ringe hat er überhaupt nicht angesehen. Schließlich hätte er doch wenigstens fragen müssen, ob sie echt sind.«

 

»Du weißt ganz genau, daß sie echt sind«, entgegnete Lizzie gereizt.

 

Sie war selbst ein wenig von Mr. Reeder enttäuscht. Vor allem deswegen, weil er sich nicht weiter zu dem schwarzen Schnurrbart geäußert hatte. Mit einer Bemerkung, daß er sehr kunstvoll angefertigt wäre, hatte er dieses in ihren Augen äußerst wichtige Corpus delicti abgetan.

 

»Am wenigsten gefällt mir, daß er meine Briefe behalten hat«, meinte Ena empört. Ihr ganzer Ärger entlud sich jetzt auf Mr. Reeder, der ihr im Anfang doch eigentlich ganz sympathisch gewesen war.

 

»Es ist doch nur ein Brief, Ena«, beschwichtigte sie Lizzie. »Ich werde Mr. Reeder morgen früh danach fragen, wenn ich ihn sehe. Bestimmt gibt er ihn mir dann zurück.«

 

»Das glaube ich durchaus nicht! Ich habe ihn doch vorhin noch darum gebeten, und er hat sich einfach geweigert, ihn mir zu geben«, erklärte Ena aufgebracht. »An deiner Stelle würde ich bei einem solchen Menschen nicht arbeiten, sondern mir eine andere Stellung suchen.«

 

Lizzie erwiderte nichts darauf. Sie ging ihren eigenen Gedanken nach, und es stieg ein Verdacht in ihr auf, der sich aber nicht gegen den Detektiv richtete.

 

*

 

Am nächsten Morgen ging Mr. Reeder, wie immer tief in Gedanken versunken, in sein Büro. Sogar in der überfüllten U-Bahn beschäftigte er sich eifrig mit Lizzies Schwester und deren sonderbarem Verlobten. Wenn er im Augenblick auch wenig unternehmen konnte, war ihm doch alles klar, was Ernie betraf – und vor allem war er sich über die Bedeutung des Briefes völlig sicher.

 

Es kostete ihn einige Mühe, seinem Chef den Fall auseinanderzusetzen. Er hörte ihm zwar interessiert zu, aber als Reeder alles erzählt hatte, schüttelte er den Kopf.

 

»Man könnte der Sache natürlich auf den Grund gehen«, meinte er, »aber ich bezweifle, daß das unsere Aufgabe ist. Vielleicht benachrichtigen Sie Scotland Yard, die können da mehr tun. Uns geht es eigentlich nichts an. Wenn Scotland Yard etwas damit anfangen kann, müssen wir uns später ja sowieso mit dem Fall beschäftigen.«

 

Mr. Reeder schien damit einverstanden zu sein, aber er meldete die Angelegenheit nicht Scotland Yard, obwohl er noch am selben Tag mit dieser Behörde zu tun hatte. Er wurde nämlich wegen eines aufsehenerregenden Falles konsultiert, der wochenlang die ganze Presse in Atem halten sollte.

 

In Wirklichkeit war es nicht nur ein Fall, sondern eine ganze Reihe von geheimnisvollen Begebenheiten, die scheinbar in keiner Beziehung zueinander standen.

 

Zunächst handelte es sich um Mr. Friston, einen Lehrer in Eton. Er war allgemein bekannt, und man wußte, daß er in bestimmten Dingen eine festumrissene Meinung hatte – besonders was die Wirtschaftspolitik betraf. Er hatte darüber schon öfters auf Versammlungen in London gesprochen und dabei so scharf Stellung genommen, daß man ihn von der Schule aus ersuchte, in dieser Weise nicht mehr in der Öffentlichkeit hervorzutreten.

 

Er war achtundvierzig Jahre alt und äußerst tatkräftig. Dabei hatte er die Angewohnheit, unglaublich früh aufzustehen; allen Leuten erzählte er, daß er höchstens fünf Stunden Schlaf brauche. Da er meist abends um neun Uhr zu Bett ging, saß er für gewöhnlich schon morgens um drei in seinem Studierzimmer und arbeitete, nachdem er einen längeren Spaziergang gemacht hatte.

 

Die Polizeibeamten wußten das und waren auch nicht erstaunt, wenn er ihnen um zwei Uhr nachts begegnete und einen guten Morgen wünschte.

 

Eines Nachts um diese Zeit herrschte leichter Nebel, aber ein Polizist, der im Schatten einer Mauer stand, erkannte Mr. Friston, der hinunter nach Eton wanderte. Der Lehrer wandte sich dann nach links, und man sah ihn nicht wieder, bis ihn derselbe Polizist auf seinem Patrouillengang entdeckte.

 

Inzwischen hatte sich der Nebel in einen Nieselregen verwandelt. Es war Viertel nach drei Uhr, als der Beamte einen Mann fand, der halb auf dem Gehweg, halb auf der Fahrbahn lag. Er leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht und erkannte zu seinem Schrecken Mr. Friston.

 

Sofort telefonierte er nach einem Krankenwagen. Man brachte den Bewußtlosen ins Krankenhaus und stellte dort fest, daß er eine schwere Gehirnerschütterung erlitten hatte.

 

Polizeibeamte suchten die Umgebung ab und machten dabei eine wichtige Entdeckung: Sie fanden einen blutigen Schraubenschlüssel, ein langes, schweres Werkzeug, mit dem man ohne weiteres einen Menschen niederschlagen konnte. Der Schlüssel lag nicht mehr als einen Meter von der Stelle entfernt, wo man den Bewußtlosen aufgefunden hatte.

 

Der Polizeipräsident von Berkshire, dem die Sache gemeldet wurde, wandte sich an die Mordkommission von Scotland. Yard. Der Fall war um so ernster, als Mr. Friston am anderen Mittag starb, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Man hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt gefunden, wer der Täter sein könnte.

 

Mr. Reeder fuhr mit einigen Beamten der Mordkommission nach Windsor und betrachtete den Toten und den blutigen Schraubenschlüssel. Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß die Tat mit diesem Werkzeug ausgeführt worden war. Der Täter mußte mehrmals mit aller Kraft auf sein Opfer eingeschlagen haben, wie aus den schweren Verletzungen zu schließen war.

 

»Also, die Waffe, mit der Friston ermordet wurde, haben wir hier«, sagte der Polizeiinspektor, der den Fall bearbeitete. »Wir haben Blut und Haare an dem Schraubenschlüssel gefunden, und der Arzt sagte außerdem, daß das eine Ende des Eisens genau in die Wunde paßte.«

 

Mr. Reeder untersuchte die Wunde und den Schraubenschlüssel genau und legte ihn dann beiseite, ohne ein Wort zu sagen.

 

Er hatte etwas entdeckt, was ihn erstaunte. Allem Anschein nach rührte die Verletzung des Toten von dem Schraubenschlüssel her. Aber es gab da gewisse Einzelheiten, die nicht zu dieser Theorie paßten.

 

»Ein Raubmord kommt nicht in Betracht«, erklärte der Beamte. »Friston hatte zehn Pfund in der Tasche, als er gefunden wurde. Nein, er muß mit jemand in Streit geraten sein – oder seine politischen Gegner haben ihm eins ausgewischt. Wir wissen ja, daß er von dieser Seite mehrmals Drohbriefe erhalten hat. Was meinen Sie dazu, Mr. Reeder?«

 

Der Detektiv schüttelte den Kopf.

 

»Ich kann Ihnen leider nicht zustimmen«, entgegnete er höflich. »Mit Politik hat diese Sache bestimmt nichts zu tun.«

 

»Dachte ich mir doch, daß Sie wieder mal eine ganz andere Ansicht haben würden als wir«, erwiderte der Inspektor ironisch. »Das Gefühl hatte ich schon, als Sie zugezogen wurden.«

 

»Wirklich ein merkwürdiger Fall«, sagte Mr. Reeder, ohne sich um die Worte des anderen zu kümmern. »Als Mr. Friston gefunden wurde, hatte er doch noch seinen weichen Filzhut auf dem Kopf. Der Hut war ziemlich verbeult, aber immerhin nicht heruntergefallen. Inzwischen habe ich mit seinem Diener gesprochen, der mir sagte, daß Mr. Friston den Hut immer sehr fest auf den Kopf setzte, ja, daß er ihn sich fast bis über die Ohren zog. Das haben wir ja auch gesehen – der Hut fiel nicht einmal vom Kopf, als Mr. Friston zu Boden stürzte.«

 

»Der Hut ist aber doch durchlöchert, nicht wahr?«

 

Mr. Reeder nickte.

 

»Ganz richtig. Filzteilchen wurden außerdem in der Wunde gefunden – Sie haben ja selbst gesagt, daß der Täter mit aller Wucht zugeschlagen haben muß.«

 

Mr. Reeder sah von einem zum anderen.

 

»Ich pfusche Ihnen nicht gern ins Handwerk, Inspektor, glauben Sie mir das! Abgesehen davon könnte ich auch noch gar keine Erklärung des Falles geben – ich muß Ihnen gestehen, daß ich bis jetzt noch vor einem Rätsel stehe.«

 

»Das geht uns allen so«, entgegnete der Inspektor, etwas besser gelaunt. »Aber so ist es ja bei jedem Fall, Mr. Reeder – zuerst stehen Sie vor einem Rätsel, und nachdem Sie sich ein wenig mit der Sache beschäftigt haben, finden Sie auch die richtige Lösung. Der Mann, der das getan hat …«

 

»Darüber zerbreche ich mir nicht den Kopf«, erwiderte Mr. Reeder. »Die Frage, die mich vor allem interessiert, lautet ganz anders: Wer war der zweite Mann, der ermordet wurde?«

 

Der Inspektor starrte ihn entsetzt an.

 

»Was reden Sie da von einem zweiten Mann? Wir haben doch nur einen gefunden.«

 

Mr. Reeder nickte.

 

»Gewiß. Aber es ist noch jemand mit diesem Schraubenschlüssel ermordet worden. Es sind Blut und Haare an dem Eisen.«

 

»Nun, das ist doch leicht zu erklären«, widersprach Inspektor Laymen. »Bei einem so gewaltsamen Mord kann man wohl annehmen, daß Blut und Haare an der Waffe kleben.«

 

»Ich bin da anderer Ansicht«, erklärte Mr. Reeder höflich. »Meiner Meinung nach kam die Waffe nicht direkt mit der Wunde in Berührung. Und außerdem ist Mr. Friston kahlköpfig.

 

Laymen war geschlagen. Aufgeregt rieb er sich die Stirn.

 

»Sie haben recht«, sagte er langsam. »Die Wunde hat kaum geblutet, und der Ermordete hat tatsächlich eine Glatze.«

 

Er nahm den Schraubenschlüssel wieder in die Hand und betrachtete ihn.

 

»Die Sache ist mir ein Rätsel«, fuhr Mr. Reeder fort. »Der Mörder von Mr. Friston tötete auch noch einen anderen mit derselben Waffe oder verletzte ihn zum mindesten sehr schwer.«

 

Der Inspektor ließ sich überzeugen und ordnete an, daß die Umgebung genau abgesucht werden sollte. Die Polizei kämmte das Gelände am Flußufer zwei Meilen aufwärts und abwärts durch, ohne jedoch eine Spur, die zur Aufklärung dieses geheimnisvollen Falles hätte dienen können, zu finden.

 

Mr. Reeder brachte den größten Teil des Tages damit zu, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Er kehrte nicht zu Laymen und den anderen Beamten zurück, sondern fuhr allein im Zug nach London.

 

In Paddington kaufte er alle Abendzeitungen und las die Berichte über den Mord sorgfältig durch, denn Journalisten beobachten manchmal Dinge, die der Aufmerksamkeit der Polizei entgehen.

 

Aber Mr. Reeder entdeckte nichts, was zur Lösung des Rätsels beitragen konnte.

 

Nachdem er in den Bus gestiegen war, der ihn nach Hause bringen sollte, setzte er sich in eine Ecke und beschäftigte sich mit den anderen Nachrichten, die in den Blättern standen.

 

Er ging dabei sorgfältig und systematisch vor und übersah so leicht nichts. Sogar die Annoncen las er aufmerksam durch, und manche Leute behaupteten, daß er auch noch die Kreuzworträtsel löse.

 

Nach einer Weile entdeckte er einen Bericht mit der Überschrift:

 

 

›Dollarpaket in einem Heuschober. Überraschender Fund eines Landarbeiters. Ein Knecht namens Ward, der bei dem Farmer John Carter arbeitet, machte heute morgen eine seltsame Entdeckung. Er mußte auf einen großen Heuschober klettern, von dem der Wind einige Ziegel abgedeckt hatte. Dabei bemerkte er ein flaches Päckchen, das oben auf dem Heu lag, nahm es mit und brachte es Mr. Carter. Als dieser das Päckchen untersuchte, stellte sich heraus, daß es Banknoten im Wert von fünfundzwanzigtausend Dollar enthielt. Es war mit einem Gummiband verschnürt. Die obersten Scheine waren vom Regen durchnäßt, aber sonst hatten sie nicht gelitten. Mr. Carter setzte sich sofort mit der Polizei in Farnham in Verbindung, die die Banknoten in Verwahrung nahm und Nachforschungen über ihre Herkunft anstellte.

 

 

 

In der Umgebung ist in den letzten drei Monaten verschiedentlich eingebrochen worden, und man neigt zu der Ansicht, daß die Scheine vielleicht ein Teil der Beute sind, die von Dieben während des vergangenen Sommers bei mehreren reichen Amerikanern gemacht wurden, die in der Gegend wohnten. Ungeklärt bliebe dann allerdings, warum die Diebe die Banknoten ausgerechnet in einem Heuschober versteckten und nicht mitnahmen. Natürlich durchsuchten Mr. Carter und der Knecht den ganzen Heuschober, konnten aber sonst nichts mehr finden.‹

 

 

Mr. Reeder, der ein geradezu fabelhaftes Gedächtnis für alles hatte, was auch nur von ferne wie ein Verbrechen aussah, wußte genau, daß verschiedene kleinere Diebstähle in der Gegend von Farnham vorgekommen waren; er konnte sich aber durchaus nicht darauf besinnen, daß dort ein größerer Einbruch verübt worden war. Wenigstens war der Polizei nichts dergleichen gemeldet worden.

 

Er blätterte um und fand auf der letzten Seite unter der Überschrift ›Letzte Meldungen‹ noch folgende Notiz, die sich auf den Geldfund in dem Heuschober bezog:

 

 

›Nach dem unvermuteten Dollarfund in einem Heuschober, über den wir schon berichteten, wurde jetzt ein weiteres Päckchen mit Banknoten, abermals in Höhe von fünfundzwanzigtausend Dollar, in einem trockenen Graben entdeckt, etwa zwei Kilometer von dem ersten Fundort entfernt.‹

 

 

»Hm«, brummte Mr. Reeder und las die nächste Meldung.

 

 

›Wie die polizeilichen Ermittlungen ergaben, wurde der ausgebrannte Wagen, über den wir auf Seite 6 berichtet haben, gebraucht von einem gewissen Mr. Waterloo Stevenson in der Brickfield-Reparaturwerkstätte gekauft.‹

 

 

Reeder blätterte auf Seite 6 zurück und erteilte sich selbst einen Verweis, weil er diese Nachricht übersehen hatte. Was er dann aber las, war nicht besonders aufregend.

 

Man hatte in einem Straßengraben zwischen Shrewton und Tilshead in Wiltshire ein Auto entdeckt, das vollkommen ausgebrannt war. Von dem Eigentümer war keine Spur zu finden. Das Nummernschild war außerdem nicht mehr zu entziffern, so daß die Polizei vorerst keinerlei Anhaltspunkte hatte.

 

»Hm«, brummte Mr. Reeder wieder.

 

Zur Hälfte verdankte er seine Erfolge der Fähigkeit, sich auf Grund noch so unscheinbarer Anhaltspunkte eine Geschichte auszudenken. Er hatte eine ganz merkwürdige Gabe, die seltsamsten Dinge miteinander in Verbindung zu bringen. Die Geschichten, die dabei entstanden, waren auch demnach, das heißt, so phantastisch, daß man den Eindruck hatte, er erfinde sie nur zu seinem eigenen Vergnügen.

 

In der Geschichte, die sich Mr. Reeder auf dem Heimweg ausdachte, spielten ein ausgebranntes Auto und zwei Päckchen amerikanischer Banknoten eine Rolle – außerdem ein in Eton angestellter Lehrer, der während der Nacht von einem unbekannten Täter ermordet worden war.

 

Übrigens zog Mr. Reeder keine weiteren Schlüsse aus diesen Geschichten; es sei denn, daß er manchmal plötzlich entdeckte, daß sie der Wahrheit entsprachen. Meistens vertrieb er sich aber nur die Zeit mit diesen Spielereien seiner Phantasie.

 

Er saß gerade beim Abendessen in seiner Wohnung, als er sich eine neue Geschichte ausmalte. Dabei kam ihm auf einmal der Einfall, daß sie diesmal stimmen könnte.

 

Er legte das Brot auf den Teller zurück, trank seine Tasse Tee aus und wischte sich die Hände an der Serviette ab. Dann klingelte er, und, gleich darauf erschien seine Haushälterin.

 

»Bitte räumen Sie das alles ab«, sagte er. »Ich muß jetzt arbeiten.«

 

Dann saß er zwei Stunden vor seinem Schreibtisch, hielt die Hände über der Weste gefaltet und starrte auf seine Schreibunterlage. Nur hin und wieder griff er nach einem Bleistift und schrieb ein paar Worte auf ein Blatt Papier oder strich etwas aus, das er zuvor notiert hatte.

 

Um halb elf ging er in sein Schlafzimmer und zog seinen besten Anzug an. Das war ganz außergewöhnlich, und die Haushälterin erschrak fast, als sie ihn so elegant sah.