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»Dean macht das Rennen!« schrien die Leute wild durcheinander.« Auf den billigeren Plätzen hatte man es zuerst leise geäußert, aber nun ertönte dieser Ruf von allen Seiten.

 

Drei Pferde galoppierten dicht nebeneinander, dem Gros weit voraus. Aber ein viertes Pferd machte sich auffallend bemerkbar. Es war stark und kräftig gebaut, und seine wilde, rotbraune Mähne flatterte im Winde. Alle Augen waren auf Dean gerichtet.

 

Er lief ganz allein auf der Außenseite und holte gegen die Spitzengruppe immer mehr und mehr auf.

 

»Dean macht das Rennen!«

 

Näher und näher kam das Feld. Der berühmte Jockey Mahon spornte Battling Jerry an; denn er hatte sich umgesehen und die drohende Gefahr erkannt.

 

Einmal, zweimal gebrauchte er die Peitsche, aber er konnte nichts mehr aus dem Pferd herausholen.

 

Zwanzig Meter vom Ziel entfernt, strauchelte Battling Jerry und schwankte. Mahon riß ihn wieder in die Höhe, aber es war zu spät. Dean hatte als Erster das Ziel passiert.

 

Eric Stanton wischte sich die Stirn.

 

Was war das für ein Rennen gewesen!

 

»Dieser verdammte Dean!« brummte Wilton, der neben ihm stand.

 

»Wieso denn?«

 

»Ich dachte, Jerry würde gewinnen«, entgegnete Toady Wilton ärgerlich. Er war sonst eine unfehlbare Autorität in bezug auf Rennen, aber heute hatte er viel Geld verloren.

 

»Ich war meiner Sache wegen Jerry nicht so sicher«, erklärte Stanton nachdenklich, »und ich habe auch nichts dagegen, daß der alte Dean gesiegt hat.«

 

Wilton sah ihn verwundert an, denn Stanton war der Eigentümer von Battling Jerry.

 

»Wenn Sie so denken, ist ja weiter nichts über die Angelegenheit zu sagen. Ich wünschte nur, ich hätte nicht auf Jerry gesetzt.«

 

Wilton verschwand in der Menge, und Eric Stanton ging zu seinem Pferd. Sein Trainer Clew überwachte gerade das Absatteln.

 

»Beinahe hätten wir das Rennen gewonnen«, meinte der Mann. »Aber Jerry konnte auf den letzten fünfzig Metern nicht mehr gegen Dean ankommen. Mahon wußte das auch. Und Jerry hat das Letzte hergegeben …«

 

»Mahon kann das ja am besten beurteilen. Ich glaube ihm unbedingt«, entgegnete Eric. »Auf jeden Fall war es ein glänzendes Rennen.« Er sah sich um. »Wo ist Mr. President?«

 

Clew lächelte.

 

»Es ist phantastisch, wie der alte Herr seinen Dean trainiert. Das Pferd muß doch jetzt schon zehn Jahre alt sein!«

 

»Die Australier verstehen sich auf Pferde. Aber ich will nichts gegen Sie gesagt haben, Clew«, fügte er hinzu.

 

»Ich begreife«, entgegnete Clew ruhig. »Aber vor dem alten Mr. President kann man wirklich den Hut abnehmen. Er vollbringt geradezu Wunder mit Dean.«

 

In diesem Augenblick sah Eric den alten Herrn, über den sie gerade gesprochen hatten, und bahnte sich einen Weg durch die Presseleute.

 

John President stand etwas abseits von den anderen. Trotz seiner achtzig Jahre hielt er sich noch vollkommen aufrecht wie ein Soldat.

 

Er hatte einen kleinen, kurzgeschnittenen Bart, und unter dem grauen Zylinder sah man seine schneeweißen Haare. Sein durchfurchtes Gesicht hatte eine frische Farbe und war sonnverbrannt. Als er Eric kommen sah, lächelte er ihm freundlich zu. Seine Bewegungen waren noch jugendlich lebhaft.

 

»Ah, Mr. Stanton«, sagte er mit tiefer, melodischer Stimme, »wir haben Sie geschlagen beim Rennen! Das tut mir einerseits wirklich leid, andererseits bin ich natürlich darüber hocherfreut.«

 

Eric nahm die ausgestreckte Hand und drückte sie kräftig.

 

»Auf jeden Fall war es ein glänzendes Rennen. Es ist wirklich erstaunlich, wie mustergültig der alte Dean von Ihnen trainiert wurde. Sie haben ja allerdings auch nur dieses eine Pferd.«

 

»Nein, das ist ein Irrtum. Ich besitze zwei«, erwiderte Mr. President vergnügt. »Aber Dean ist so groß und stark, daß er einen Stall für sich allein braucht. Die Leute wissen im allgemeinen nicht recht, was sie von mir halten sollen«, fuhr der alte Herr fort und zeigte mit dem Kopf nach der Menge. »Manche sagen, es wäre Hochverrat, daß ein alter Australier wie ich mit einem so alten Pferd nach Ascot geht und die besten Preise wegschnappt. Dean hat tatsächlich kein schnittiges Aussehen, aber auf der Rennbahn zeigt er doch immer noch zähe Ausdauer!«

 

»Auf jeden Fall beweist er durch seinen Galopp, daß er es mit allen anderen Pferden in Ascot aufnehmen kann«, entgegnete Eric lächelnd.

 

»Er ist meine dritte Hoffnung«, sagte Mr. President etwas rätselhaft. »Ich verlasse mich auf ihn – und auf die beiden anderen auch. Eines Tages wird mein sehnlichster Wunsch doch noch in Erfüllung gehen.«

 

Eric sah ihn überrascht an, denn er verstand diese merkwürdigen Worte nicht. Was konnte denn der sehnlichste Wunsch dieses alten Mannes noch sein? Ein Mensch in seinen Jähren hatte gewöhnlich keine Wünsche mehr. Aber Eric bekam keine weitere Erklärung.

 

Er unterhielt sich noch einige Zeit mit Mr. President und trennte sich dann von ihm, um seine Gäste aufzusuchen.

 

Es war ein herrlicher Frühlingstag, und der Andrang des Publikums zu dem Rennen war außergewöhnlich groß;

 

Als Stanton zum Teepavillon kam, fand er nahezu alle Plätze besetzt. Aber schließlich entdeckte er einen kleinen Tisch an der Außenseite, andern noch ein Stuhl frei war. Ihm gegenüber saß eine junge Dame, die anscheinend ohne Begleitung war. Ihre großen, dunklen Augen wirkten äußerst anziehend; sie hatte feingeschnittene Züge, eine gerade Nase und frische, rote Lippen. Er hatte das Gefühl, daß er sie früher schon einmal gesehen haben mußte, und plötzlich entsann er sich.

 

»Verzeihen Sie, habe ich die Ehre mit Miss President?«

 

Sie nickte lächelnd.

 

»Wir haben uns doch bei dem Eisenbahnunglück in Südfrankreich gesehen?«

 

»Das stimmt. Ich kann mich deutlich an Ihre Stimme erinnern. Sie standen hinter mir, als Monsieur Soltescu so laut über seinen Verlust klagte.«

 

Ihre Züge verdüsterten sich einen Augenblick, aber er konnte nicht ahnen, was die Ursache dazu war. Sie plauderten miteinander, und nach einigen Minuten war es ihnen, als ob sie sich schon seit Jahren kennen müßten. Sein freundliches, offenes Wesen gefiel ihr sofort, und auch er fühlte, daß er ihr sympathisch war.

 

Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, daß sie nicht einmal bemerkten, wie sich der Teepavillon allmählich leerte. Erst als das Glockenzeichen von der Rennbahn her ertönte, erkannten sie, daß sie das Rennen versäumt hatten.

 

»Es täte mir sehr leid, wenn ich Sie aufgehalten hätte«, sagte sie lächelnd.

 

»Nein, nein, durchaus nicht. Ich habe sowieso kein großes Interesse an den anderen Rennen, die heute noch gelaufen werden. Darf ich Sie zum Sattelplatz begleiten?«

 

Sie nickte und nahm ihre Tasche auf.

 

»Wahrscheinlich treffen wir meinen Großvater dort«, meinte sie. Diese Feststellung machte sie etwas widerwillig, denn sie hatte sich in der Gesellschaft dieses hübschen jungen Mannes außerordentlich wohl gefühlt.

 

Als sie fortgingen, begegnete ihnen am Ausgang ein Herr. Er grüßte Miss President höflich, aber sie nickte nur kühl.

 

»Kennen Sie Sir George Frodmere auch?« fragte Eric.

 

»Er kennt uns«, sagte sie gleichgültig. »Er bewundert meinen Großvater wegen seiner Tüchtigkeit. In der letzten Zeit war er öfter bei uns, aber ich mag seine Gesellschaft nicht sehr. Hoffentlich ist er nicht Ihr Freund.«

 

Eric lachte.

 

»Nein, er ist durchaus kein Freund von mir. Und er weiß auch, daß ich nicht viel von ihm halte.«

 

Sie betrachtete ihn lächelnd.

 

»Und was halten Sie von Mr. Wilton, der immer in seiner Begleitung ist? Kennen Sie den genauer? Ich sah Sie vorhin zusammen auf der Tribüne.«

 

Sie biß sich auf die Lippen und errötete, denn sie hatte nicht verraten wollen, wie sehr sie sich für ihn interessierte. Während sie in angeregter Unterhaltung über den Platz gingen, warf sie ab und zu einen scheuen Blick auf ihn.

 

Milton Sands beobachtete die beiden und lächelte verständnisvoll.

 

»Sehen Sie einmal dorthin, Miss Symonds«, sagte er.

 

Eine schlanke junge Dame ging neben ihm her. Ihre Augen strahlten, und ihre Umgebung schien sie auf das lebhafteste zu interessieren. Im Gegensatz zu den kostbaren Toiletten, die man bei den Rennen sehen konnte, war sie einfach gekleidet. In Wesen und Haltung aber machte sie durchaus den Eindruck einer Dame.

 

»Wen meinen Sie?« fragte sie eifrig. Sie besuchte zum erstenmal ein Rennen, und alles kam ihr neu und wunderbar vor.

 

»Dort den Herrn und die Dame.«

 

Sie nickte und lachte vergnügt.

 

»Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich freue. Es war zu liebenswürdig von Ihnen, daß Sie mich mitgenommen haben.« Sie lächelte ihn an. »Es ist alles so herrlich, und ich gehe auch so gern mit Ihnen. Sie sind so anders –«

 

»Darauf bilde ich mir auch etwas ein. Ich bin tatsächlich anders als die anderen.«

 

»Ich scherze aber nicht. Sie sind anders als alle meine früheren Chefs, für die ich gearbeitet habe.« In ihren großen Augen zeigte sich Bewunderung. »Sie sind immer so gut zu mir, und ich dachte doch früher, daß die Leute aus den Kolonien einen sehr rohen Charakter hätten.«

 

»Sie haben eben noch nicht den nötigen Überblick im Leben. Habe ich Sie nicht aus dem entsetzlichen Büro des Rechtsanwalts befreit, wo Sie fünfundzwanzig Schilling die Woche für Ihre harte Arbeit erhielten und die unglaublichsten Schriftsätze dafür herunterklappern mußten? Habe ich Sie nicht zur Privatsekretärin des berühmtesten Detektivs gemacht?« Er sah Tränen in ihren Augen und war erstaunt. »Aber was fehlt Ihnen denn, liebes Kind? Ich mache doch nur Spaß.«

 

»Ich dachte, Sie meinten es im Ernst. Aber, bitte, machen Sie sich nicht lustig über mich.«

 

»Soll sich einer bei den Frauen auskennen! Sie müssen doch immer daran denken, daß Sie der Juniorpartner des großen Detektivs Sands sind! Haltung, meine junge Dame!«

 

»Sollen wir uns vielleicht verkleiden und mit falschen Perücken und Bärten hier auf dem Rennplatz herumlaufen?« fragte sie vergnügt.

 

»Das haben wir im Augenblick nicht nötig» Aber wir wollen uns jetzt einmal wie durstige Rennbesucher benehmen und zum Teepavillon gehen.«

 

»Ja, das ist eine gute Idee.«

 

Zwei Jahre waren vergangen, seitdem Milton Sands ein ängstliches Mädchen vor den Angriffen einer wütenden Wirtin beschützt hatte. Milton hatte damals als Abenteurer ziemlich viel Pech und fast all sein Geld auf den Rennen in Ascot verloren. Früher bewohnte er eine Anzahl von Räumen im Imperial-Hotel, aber dann mußte er sich auf ein bescheidenes Zimmer in Pimlico beschränken, für das er die immer noch sehr hohe Miete von acht Schilling wöchentlich zahlte. Janet Symonds wohnte bei derselben Wirtin. Sie nahm damals Unterricht in Maschinenschreiben und Stenographie, war aber noch nicht weit in ihren Kenntnissen gekommen.

 

Sie bekam eine wöchentliche Unterstützung von zehn Schilling, die ihr der Testamentsvollstrecker ihrer Mutter auszahlte. Aber das reichte natürlich nicht für ihren Lebensunterhalt aus, und sie war daher in Rückstand mit ihrer Mietzahlung gekommen. Die Wirtin ging auf ihr Zimmer und schimpfte entsetzlich, und als der Skandal gerade seinen Höhepunkt erreichte, erschien Milton Sands auf der Bildfläche. Er machte der unerquicklichen Szene ein kurzes Ende, nahm die Wirtin beiseite und zahlte die rückständige Miete für Miss Symonds. Die Frau hütete sich nachher, Janet gegenüber auch nur die geringste unangenehme Bemerkung zu machen, da sie sich vor Mr. Sands fürchtete.

 

Von jenem Tag an datierte die Freundschaft der beiden. Milton kümmerte sich auch weiterhin um das Mädchen, sorgte dafür, daß sie in ein Heim für junge Damen aufgenommen wurde, und verschaffte ihr die Stellung bei dem »schrecklichen Rechtsanwalt«, der in Wirklichkeit gar nicht so schrecklich war. Aber es folgten schöne Tage für sie, als er wieder in der Lage war, seine Zimmer im Imperial-Hotel zu beziehen und ein Detektivbüro aufzumachen. Er hatte hübsche, vornehm ausgestattete Räume in der Regent Street mit grausamtenen Vorhängen und einem mauvefarbenen Teppich. Die modernen Möbel paßten vorzüglich dazu. Auch das kleine Büro seiner Sekretärin war elegant eingerichtet.

 

»Sie müssen mir nun aber auch bei der Auffindung von Mr. Stantons Schwester helfen«, sagte er, als sie an dem Abend zur Stadt zurückkehrten. »Ich habe so eine Ahnung, daß Sie gewisse Informationen leichter bekommen können als ich.«

 

»Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht«, entgegnete sie bereitwillig.