16
Der Morgen des Sechsundzwanzigsten zog herauf, nicht freudig und fröhlich, sondern düster und grau. Ein weißlicher, dünner Dunst lag über den Wassern der Themse. Darüber wölbte sich ein schwerer Himmel mit dunklen Wolken. Gegen zwölf Uhr verwandelte sich das feine Rieseln in einen richtigen langweiligen Landregen, der den ganzen Nachmittag über anhielt.
An solchen Tagen ist der Tower verzweifelt trostlos. Der kleine Exerzierplatz ist leer und verlassen. Besucher kommen nur ganz vereinzelt. Die Posten stehen in den Schilderhäusern. Die Aufseher mit den farbenfreudigen langen Röcken verschwinden in Torwegen oder Kiosken, wo sie Schutz vor dem Wetter finden.
Der Regen fiel noch, als Dick Hallowell mit seiner Mannschaft vom Exerzierplatz abmarschierte und sie vor dem Wachhause in langer Reihe antreten ließ. Er machte mit Bobby, den er ablöste, den vorgeschriebenen Rundgang und übernahm die Posten am Ufer und an den anderen Stellen. Er war froh, als Bobbys Mannschaften abmarschiert waren und er sich in seinen Raum zurückziehen konnte.
Bevor die alte Wache abrückte, unterhielten sich die Freunde noch einige Minuten.
»Ich bitte dich, geh heute noch zu Hope und erkläre ihr, warum ich das Essen in meiner Wohnung absagen mußte.«
»Lady Cynthia ist sehr böse auf dich, ich vermute, daß du das weißt.«
»Das kann ich mir denken. Aber das macht mir nicht allzu große Kopfschmerzen. Warum sie wieder böse ist, mag der Himmel wissen. Hat sie dir gesagt, daß sie über mich ärgerlich ist?«
Bobby schüttelte den Kopf.
»Nein, das hat sie Davenport gesagt. Sie erzählte ihm, daß sie extra eine Einladung aufgegeben hat, um dein ›armseliges Mädchen‹ zu treffen – das sollen ihre eigenen Worte gewesen sein –, und daß du sie dann hast sitzenlassen!«
Dick mußte lächeln.
»Sie wird sich wohl nicht so gewöhnlich ausgedrückt haben! Aber die Sache mit Lady Cynthia ist im Augenblick ja auch ziemlich gleichgültig. Sieh dich bitte nach Hope um. Ich habe ihr einen Brief geschrieben und denke, daß sie alles verstehen wird. Aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mit ihr darüber sprechen wolltest.«
Gleich darauf marschierte die Wache ab, und Dick war nun vierundzwanzig Stunden an den Dienst gebunden, der doch für gewöhnlich so uninteressant und langweilig war.
Lady Cynthia war an diesem Tag nicht in liebenswürdiger Stimmung, und wenn der Oberst den geringsten Entschuldigungsgrund gefunden hätte, so wäre er von zu Hause fortgegangen. Unglücklicherweise hielt auch ihn die Pflicht im Tower zurück, und so mußte er daheim bleiben und ihren Unwillen über sich ergehen lassen.
»Sehr unbesonnen von Dick, sicher«, sagte er nun schon zum x-ten Male, »aber er ist sehr empfindlich, wenn es sich um das Mädchen handelt.«
»Empfindlich!« sagte sie vorwurfsvoll. »Es ist unverschämt! Und diese Sache scheint auch den stupiden Longfellow angesteckt zu haben. Dick hat mich nicht nur persönlich gebeten, mit ihr zu speisen, sondern hat das ausdrücklich noch durch einen langen Brief bestätigt. In der letzten Minute hebt er die Einladung auf, weil es ihm diese junge Person suggeriert hat, wie ich vermute!«
»Welche junge Person?« fragte der Oberst, der im Augenblick an etwas anderes gedacht hatte.
»Du hörst niemals zu, wenn ich mit dir spreche«, sagte sie kurz, »es ist doch zu schlimm mit dir, John! Dick Hallowell müßte dir auf den Knien danken und dir jeden Wunsch erfüllen. Er hätte doch den Dienst quittieren müssen, als sein Bruder damals ins Gefängnis kam. Es schadet dem Ansehen des Regiments, wenn der Bruder des ältesten Offiziers ein Verbrecher ist!«
»Dick hat ja damals um seinen Abschied gebeten, aber ich wollte ihn nicht annehmen. Wenn ich das getan hätte, würde es einen Aufstand in der Offiziersmesse gegeben haben. Wir können doch nichts dafür, wenn unsere Verwandten dumme Geschichten machen«, entgegnete der Oberst böse. Sie kannte ihn genügend, um die Warnung zu verstehen, die in seinem Ton lag.
»In der ganzen Familie Hallowell ist irgend etwas faul!« sagte sie. »Ich würde mich nicht wundern, wenn Dick auch noch so etwas Ähnliches anstellte wie sein Bruder.«
»Was ist das nun schon wieder für ein Unsinn!« rief der Oberst aufgebracht. »Sie sind doch nur Halbbrüder. Grahams Mutter war eine üble Frau. Alle schlechten Eigenschaften sind durch sie in die Familie gekommen. Bist du heute zum Essen eingeladen?« fragte er dann und hoffte, eine bejahende Antwort zu erhalten.
»Nein, ich werde hierbleiben. Ich muß dir auch noch sagen, daß Bobby Longfellow neulich sehr unhöflich zu mir war direkt ungezogen.«
»Was hat er denn gesagt?«
»Nicht, was er gesagt hat, war unverschämt, sondern wie er es gesagt hat. Er wird unausstehlich. Du weißt am besten, John, daß die Disziplin im Regiment sehr nachgelassen hat. Ich will ja nicht sagen, daß du das verschuldest –«
»Dann denke einmal darüber nach, wessen Schuld es ist«, sagte der Oberst verschnupft, als er aufstand. »Ich gehe jetzt zum Ordonnanzzimmer. Wir sehen uns später.«
Als er zum Tee zurückkam, hatte sich Mylady mit Kopfschmerzen zurückgezogen. Er sandte ihr ein paar liebenswürdige Worte durch ihre Zofe und freute sich über seine gemütliche Teestunde. Später kam der Adjutant zu ihm. Er zeigte ihm drei Leute in Zivil, die mit einer Leiter über den Exerzierplatz kamen.
»Ich glaube, das Schatzamt hat Angst um die Kronjuwelen!« sagte der Offizier. »Sie haben einen Beamten vom Ministerium ausgeschickt, um die Alarmglocken zu untersuchen.«
Der Oberst lachte. Er war daran gewöhnt, daß von Zeit zu Zeit solche Dinge von Whitehall angeordnet wurden. Einmal hatten sie die Stahltüren zu der Schatzkammer ausgewechselt – bei einer anderen Gelegenheit waren Detektive geschickt worden, um die Aufseher zu verhören, weil ein geheimnisvoller Amerikaner sich zu sehr nach Wert, Gewicht und Größe der beiden großen Diamanten erkundigt hatte, die in dem Tresor oben aufbewahrt wurden.
»Ich möchte mal den Mann sehen, der das Beispiel des Oberst Blood nachzuahmen wagte – ich glaube nicht, daß es einen gibt, wenn er nicht ganz und gar verrückt ist.«
Er war in der Offiziersmesse und las eine eben eingetroffene indische Zeitung, als ein Anruf für Lady Cynthia kam. Sie sandte ihre Zofe mit dem Bescheid, daß sie nicht gestört werden möchte. Das Mädchen kam aber gleich wieder.
»Der Herr sagt, er müßte Sie unbedingt sprechen, gnädige Frau. Er versucht schon seit dem 10. Juni mit Ihnen in Verbindung zu kommen.«
Der Eindruck, den diese Worte auf Lady Cynthia machten, war außerordentlich. Sie setzte sich im Bett aufrecht, und es zuckte in ihrem Gesicht.
»Schon gut – ich werde herunterkommen. Stellen Sie das Telefon zum Arbeitszimmer des Obersten um.«
Ihre Stimme war etwas heiser, das fiel der Zofe auf, aber sie konnte nichts Besonderes in dem Gesichtsausdruck ihrer Herrin erkennen. Cynthia lief fast die Treppe hinunter, schloß die Tür fest und sprach fünf Minuten lang mit leiser Stimme ins Telefon. Als sie wieder herauskam, war sie blaß, wie das Mädchen bemerkte, aber das mochte an den Kopfschmerzen liegen.
Als der Oberst zurückkam, fand er seine Frau im Salon. Sie war in Gesellschaftskleidung, ihr Mantel lag über einer Stuhllehne.
»Gehst du aus, meine Liebe?« sagte er.
»Ja. Ich habe mich eben an eine Verabredung erinnert, die ich schon vor einem Monat traf. Es ist schrecklich. Du hast doch nichts dagegen, John?«
»Dagegen? Nicht im geringsten. Ich werde allein zu Abend speisen oder im Kasino.«
Sparsamkeit war eine Schwäche von Lady Cynthia.
»Das Abendessen ist gerichtet, und es darf nicht umkommen. Lade dir einen Gast ein. Ich werde um elf Uhr zurück sein.« Am liebsten hätte der Oberst Dick Hallowell zu sich gebeten, aber der hatte Dienst. Der Adjutant hatte eine andere Verabredung, und Ruislip war nicht in der Stimmung, höfliche Phrasen mit dem ältesten Major zu wechseln. So entschloß er sich denn, allein zu speisen. Als der Gong erklang und er in das getäfelte Zimmer ging, in dem das Essen auf ihn wartete, kam ein unerwarteter Besuch. Es war Diana Martyn in ihrer fröhlichsten Laune.
»Großer Gott, Diana!« sagte der Oberst verwirrt. »Was führt Sie hierher?«
In diesem Augenblick war er hocherfreut, daß Lady Cynthia ausgegangen war.
»Ich komme auf die Bitte Ihrer Gattin«, War die verwunderte Antwort.
»Cynthias?« fragte er ungläubig.
»Sie bat mich, zum Abendessen zu kommen – sie telefonierte mit meinem Mädchen, als ich ausgegangen war. Natürlich wollte ich gern kommen – ich habe Cynthia gern, und es tut mir sehr leid, daß sie mich nicht mehr mag.«
»Aber meine Liebe« – er war ganz verwirrt über diese Neuigkeiten –. »Cynthia ist ausgegangen. Sie hat eine Verabredung, die sie schon vor einem Monat getroffen hat. Das ist fatal …« Er klingelte nach der Zofe seiner Frau, aber das Mädchen wußte nicht, wohin Lady Cynthia gegangen war.
»Legen Sie ein Gedeck für Miss Martyn auf«, sagte der Oberst. »Sie bleiben natürlich, Diana«, bat er, als sie zögerte. »Cynthia würde es mir nie vergeben, wenn ich Sie gehen ließe!«
Er brachte eine Entschuldigung nach der andern für seine Frau vor, aber im Grund war er gar nicht unzufrieden, eine so entzückende Tischdame zu haben, und das Abendessen wurde viel angenehmer, als er vorher geglaubt hatte.
Gegen Ende der Tafel fragte sie ihn etwas.
»Wie Sie hier herauskommen?« Er lachte heiter. »Wissen Sie, daß Sie im Tower eingesperrt und eingeriegelt sind und daß die Posten Sie erst nach der Parole fragen werden und Sie mit dem Bajonett durchbohren, wenn Sie sie nicht wissen?«
»Dann käme ich wohl schwerlich durch. Haben Sie denn Paßworte im Tower?« fragte sie unschuldig.
Er nickte.
»Ja, es gibt ein Wort für alle Wachen in London, und das wird täglich geändert.«
»Abrakadabra«, rief sie lächelnd.
»Nein, nicht so kompliziert. Der arme, alte Wachmann würde ja einen fürchterlichen Schrecken bekommen, wenn er sich ein solches Wort merken müßte: Nein, es ist gewöhnlich der Name einer Stadt. Heute abend ist es – warten Sie mal – Boston, das ist es!«
»Boston!« Sie konnte ihre Enttäuschung kaum verbergen. Es war also keines der vier Worte, die Trayne erwartet hatte.
Aber wie konnte sie die Änderung durch ein Zeichen klarmachen? Sie dachte bis zum Schluß des Abendessens intensiv darüber nach. Dann kam ihr ein Einfall, der es ihr verhältnismäßig einfach erscheinen ließ. Als sie einen Augenblick allein war, schrieb sie das Wort auf ein Stück Papier, wickelte es um ein Schillingstück und verwahrte es in ihrer Handtasche.
Um zehn Uhr wollte sie gehen. Und sie hatte die richtige Zeit gewählt, denn kaum waren sie aus dem Haus, als Lady Cynthia anläutete, daß sie erst um Mitternacht wiederkommen könnte.
Als sie nach dem Wachhaus gingen, sah sie eine Zeremonie, von der sie oft gehört hatte – jene mittelalterliche Gepflogenheit, die seit Hunderten von Jahren jeden Abend im Tower beobachtet wurde.
Durch das trotzige Tor des Blutturms marschierte eine kleine Anzahl Leute. Das Lampenlicht glitzerte auf den blanken Bajonetten. Ein Mann mit einer Handlaterne ging voran. Dann fragte eine scharfe Stimme: »Halt! Wer kommt dort?«
Die Kolonne hielt, und eine tiefe, martialische Stimme antwortete: »Die Schlüssel!«
»Wessen Schlüssel?« fragte die Schildwache.
»König Georgs Schlüssel«, war die Antwort.
Dann traten die Leute auf ein Kommando in Reih und Glied. Man hörte Dick Hallowells tiefe Stimme. »Übergib König Georgs Schlüssel! – Achtung, präsentiert das Gewehr!«
Die Gewehre flogen mit einem Ruck herunter – nach mehreren Kommandos wurden die Plätze gewechselt. Dann nahm der alte Wärter, der die Schlüssel trug, seinen Hut ab, und sein Ruf hallte über den einsamen Platz hinweg: »Gott schütze König Georg!«
»Nennt man das die Schlüssel?« fragte Diana flüsternd.
»Ja. Es ist sonderbar, nicht? Diese Zeremonie wurde nur in einer Nacht abgeändert, als die Königin Victoria starb und man noch nicht wußte, welchen Namen der neue König annehmen würde.«
Ihr Herz schlug wild, als sie das Schatzhaus passierten. Es stand ein Posten dort, ein anderer war vor dem Verrätertor postiert, weiter unten am Festungsgraben sah sie einen dritten und am äußeren Tor noch einen. Ihre Knie zitterten, als sie nach Tower Hill kamen und der Bursche des Obersten nach einem Auto geschickt wurde.
Ein Zeitungsjunge kam heran. Bevor der Oberst ihn wegjagen konnte, sagte sie schnell:
»Ja, bitte«, und ließ die Münze mit dem Papier in seine Hand gleiten.
Sie hätte vergessen, die Zeitung an sich zu nehmen, aber er reichte sie ihr.
»Ich liebe die Kreuzworträtsel so sehr«, sagte sie atemlos, als der Oberst sie sanft wegen ihrer Neugier nach sensationellen Nachrichten tadelte.
Sie war am Ende ihrer Kräfte, als der Wagen anfuhr.