9
Der Mann, der nicht sprechen wollte
Mr. Spaghetti Jones war ein großer, stark und kräftig gebauter Mann mit schläfrigen Augen, buschigen Brauen und gutentwickeltem Kinn. Seinen langen, dunklen Schnurrbart zwirbelte er an den Enden in die Höhe und trug eine grün und weiß gestreifte Krawatte zu einem rosafarbenen Oberhemd. Funkelnde Brillantringe zierten seine plumpen Finger, und eine große, goldene Uhrkette lief von einer Westentasche zur anderen. Der lebhaft blaue Anzug war von bestem Schnitt; die Füße steckten in knallgelben Lackschuhen, die für einen so großen Mann ungewöhnlich klein waren. Und allem Anschein nach entsprach Mr. Spaghetti Jones in jeder Beziehung dem Typ eines Gentlemans, den er selbst für sich aufgestellt hatte.
Leon Gonsalez sah ihn auf der Rennbahn, aber er wurde nicht durch sein farbenfreudiges Äußeres oder seine auffallende Gestalt auf ihn aufmerksam. Während das Rennen noch im Gang war, stieg Leon von der Tribüne hinunter und ging zu den Pferdeställen. Dort war alles leer, nur Mr. Jones und zwei andere kleine Herren, die bescheidener gekleidet waren, standen dort.
Leon hatte sich nahe an die Barriere gesetzt, wo die Pferde vor dem Rennen vorbeigeführt wurden. Die drei kamen jetzt langsam auf den Platz, wo er sich niedergelassen hatte. Sie führten eine ziemlich laute Unterhaltung, und Spaghetti Jones machte keine Anstalten, leiser zu sprechen. Er hatte eine schöne, vollklingende Stimme, und Leon hörte jedes Wort. Einer der Begleiter schien mit Jones zu streiten, der andere verhielt sich nach einem vergeblichen Vermittlungsversuch ruhig.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie auf dem Rennen in Lingfield sein sollten«, sagte Mr. Jones. »Aber Sie sind nicht hingekommen!«
Er war gerade damit beschäftigt, seine Nägel mit einem kleinen Federmesser zu reinigen, und soweit Leon beobachten konnte, war seine Aufmerksamkeit scheinbar vollständig auf dieses Verschönerungswerk gerichtet.
»Ich gehe nicht nach Lingfield, ich gehe auch nirgends anders für Sie hin, Jones«, erwiderte der andere ärgerlich.
Er war ein hagerer, bleicher Mann, und Leon erkannte an dem Klang seiner Stimme sofort, daß er sich fürchtete und daß seine angenommene Bravour nur seine Angst verbergen sollte.
»Ach, sehen Sie einmal an … Sie wollen nicht mehr nach Lingfield oder sonstwohin gehen?« wiederholte Spaghetti Jones.
Er schob seinen Hut in den Nacken und schaute den Mann einen Augenblick an, dann aber wandte er sich wieder der Reinigung seiner Nägel zu.
»Ich habe jetzt genug von Ihnen und Ihrer ganzen Bande! Wir sind weiter nichts als dreckige Sklaven für Sie – so ist es! Ich kann viel mehr Geld verdienen, wenn ich auf eigene Faust für mich allein arbeite. Ich denke, nun haben Sie mich verstanden!«
»Ich begreife vollkommen. Aber ich wünsche, daß Sie am nächsten Donnerstag nach Sandown kommen, Tom. Wir werden uns dort auf der Bahn treffen –«
»Fällt mir nicht im Traum ein«, brüllte der andere, rot vor Aufregung. »Ich bin nun endlich mit Ihnen fertig und mit all Ihren anderen Kerlen!«
»Sie sind ein nichtsnutziger Schlingel«, sagte Spaghetti ruhig, fast liebenswürdig.
Zweimal fuhr er mit dem Taschenmesser durch das Gesicht des Mannes, der mit einem lauten Aufschrei zurückprallte.
»Sie sind einfach ein unartiger Bengel.« Jones betrachtete seine Nägel. »Und wenn ich Ihnen sage, daß Sie nach Sandown kommen sollen, so werden Sie dort sein!«
Nachdem er das gesagt hatte, ging er fort.
Tom zog sein Taschentuch heraus und tupfte damit sein blutendes Gesicht ab. Leon sah zwei lange, klaffende Schnittwunden. Mr. Jones wußte ganz genau, wie weit er schneiden durfte, ohne größere Verletzungen hervorzurufen, aber die Wunden waren häßlich und schmerzhaft.
Der Verwundete schaute Jones haßerfüllt nach. Aber Leon wußte doch, daß er sich am nächsten Donnerstag in Sandown melden würde, wie ihm aufgetragen war.
Dieses Schauspiel war für Leon Gonsalez unendlich interessant gewesen, und als er nach Hause kam, war er noch ganz erfüllt von seinem Erlebnis.
Manfred hatte seinen Zahnarzt aufgesucht, aber sobald er zurückkehrte, begann Leon zu erzählen.
»Das ist wirklich der interessanteste Mensch, den ich bisher in meinem Leben gesehen habe, George«, sagte er begeistert. »Ich habe einen unheimlichen Atavismus an ihm beobachtet! Das ist ja ein Überbleibsel aus dem Mittelalter, wie man ihm heute nur noch selten begegnet. Du erinnerst dich doch noch an den Schäfer, den wir damals in der Nähe des Escorial trafen? Er kommt diesem Menschen noch am nächsten. Spaghetti Jones ist der Führer einer Bande, die auf den Rennplätzen die Buchmacher erpreßt. Sein Spitzname kommt von seiner italienischen Abstammung, außerdem lebt er im italienischen Viertel. Aus der Unregelmäßigkeit seiner Gesichtszüge und seinem dicken, vollen Kinn möchte ich beinahe schließen, daß in seiner Familie Geisteskrankheit erblich ist. Sicher aber ist er von mütterlicher Seite aus epileptisch veranlagt.«
Manfred fragte nicht, wie Leon dazu gekommen war, alle diese Entdeckungen zu machen. Er wußte genau, daß sein Freund rastlos tätig war, wenn er einmal die Spur eines interessanten Falles aufgenommen hatte. Er gab sich erst zufrieden, wenn alle Einzelheiten klargelegt waren.
»Er hat vermutlich schon seine Akten bei Scotland Yard?«
Gonsalez lachte belustigt auf.
»Da irrst du, mein lieber Manfred. Er ist noch niemals verurteilt worden, und es wird wahrscheinlich auch niemals dazu kommen. Ich traf einen kleinen Buchmacher im Silberring – so heißen nämlich die Leute, bei denen die kleineren Wetten abgeschlossen werden –, der seit Jahren diesem Verbrecher Tribut zahlt. Der Buchmacher war sehr verärgert und hatte sich bezecht, sonst hätte ich überhaupt nichts aus ihm herausbekommen. Ich habe ihn zu einem Gasthaus in Cobham mitgenommen, wo ich mit ihm allein war. Er trank so viel Geneverschnaps, bis er das heulende Elend bekam und mir unter Tränen alles erzählte, was seine Seele beschwerte.«
Manfred lächelte und klingelte, um das Abendessen zu bestellen.
»Das Gesetz wird ihn schon früher oder später erwischen«, meinte er. »Ich habe großes Zutrauen zu den englischen Gerichten. Hier werden die Verbrecher in viel größerem Maße zur Rechenschaft gezogen als in irgendeinem anderen Land.«
»Glaubst du das wirklich?« erwiderte Leon skeptisch. »Ich möchte doch gern einmal mit dem liebenswürdigen Mr. Fare über Mr. Jones sprechen.«
»Da hast du ja morgen eine schöne Gelegenheit, wir speisen doch abends mit ihm im Metropolitan.«
Ihre Empfehlungsschreiben als spanische Kriminologen hatten sie mit Mr. Fare bekannt gemacht, und sie hatten gegenseitig viel voneinander erfahren und lernen können. Besonders Mr. Fare war den beiden sehr dankbar.
Als sie am nächsten Abend nach dem Essen eine Zigarre rauchten und die meisten Gäste zum Tanzsaal gingen, erzählte Leon von seinem Erlebnis.
Mr. Fare nickte.
»O ja, dieser Spaghetti Jones ist eine harte Nuß für uns. Wir haben ihn noch niemals fangen können, obgleich wir genau wissen, daß er an verschiedenen recht bösen Verbrechen beteiligt ist. Er ist unheimlich schlau, obwohl ihm jede Bildung fehlt. Unbarmherzig und rücksichtslos übt er die Herrschaft über seinen kleinen Kreis aus. Es ist uns noch niemals gelungen, einen Mann zu fassen, der gegen ihn als Zeuge aufgetreten wäre. Und er ist selbstverständlich nie auf frischer Tat ertappt worden.«
Mr. Fare streifte die Asche seiner Zigarre in die Schale und sah nachdenklich auf die Tischdecke.
»In Amerika besteht eine italienische Organisation, die sich die ›Schwarze Hand‹ nennt. Vermutlich wissen Sie das schon? Es ist eine Organisation von Erpressern. Glücklicherweise haben wir von dieser Bande in unserem Lande noch nichts zu spüren bekommen, wenigstens darf ich sagen, daß dies bis vor kurzem der Fall war. Aber ich habe allen Grund zu der Annahme, daß Spaghetti Jones in Verbindung mit dem einen Fall steht, der uns kürzlich gemeldet wurde.«
»Wie, hier in London?« fragte Manfred überrascht. »Ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß sie es auch in England versuchen.«
»Es kann natürlich eine Täuschung sein, aber ich habe einige meiner besten Leute seit einem Monat auf die Spur der Verbrecher gehetzt, die diese Drohbriefe schreiben. Bis jetzt haben wir jedoch nicht den geringsten Erfolg zu verzeichnen. Als ich mich heute morgen anzog, kam mir der Gedanke, ob es nicht ratsam wäre, Sie für diesen Fall zu interessieren. Ich muß wirklich gestehen, daß wir in derartigen Dingen nur wenig Erfahrung haben. Ist Ihnen die Gräfin Vinci bekannt?«
Zu Leons größtem Erstaunen nickte Manfred.
»Ich habe sie vor ungefähr drei Jahren in Rom getroffen«, sagte er. »Sie ist die Witwe des Grafen Antonio Vinci, nicht wahr?«
»Ja, sie ist eine Witwe und hat einen kleinen Sohn von neun Jahren«, entgegnete Mr. Fare. »Sie wohnt am Berkeley Square. Eine sehr reiche Dame und außerordentlich liebenswürdig. Etwa vor zwei Wochen erhielt sie den ersten Brief, der an Stelle der Unterschrift ein schwarzes Kreuz trug. Andere Schreiben folgten. Sie waren in einer wunderbar feinen Schrift geschrieben, und dieser Umstand lenkte den Verdacht auf Spaghetti Jones, der in seinen jungen Jahren Schriftzeichner war.«
Leon nickte lebhaft.
»Natürlich ist es ganz unmöglich, eine derartige Schrift zu identifizieren«, sagte er bewundernd, »denn sie sieht beinahe wie gedruckt aus. Das ist eine neue, ganz besonders geniale Methode. Aber ich habe Sie unterbrochen, entschuldigen Sie bitte. In den Briefen wurde doch sicher Geld verlangt.«
»Natürlich wollten die Leute Geld haben und bedrohten die Gräfin, falls sie das Geld nicht an die angegebene Adresse senden würde. Und hier zeigte sich die maßlose Frechheit von Jones und seinen Komplicen. Jones betreibt in aller Öffentlichkeit das Geschäft eines Nachrichtenagenten. Er hat einen kleinen Laden in Notting Hill, wo er Morgen- und Abendzeitungen verkauft. Außerdem ist er eine Art Lokalagent für berufsmäßige Auskunftgeber über Wetten, deren Plakate man ja manchmal in solchen Läden sieht. Und obendrein dient sein Geschäft noch zur Vermittlung von Briefen, die unter Deckadressen geschrieben werden.«
»Das heißt, daß Leute, die bestimmte Briefe nicht in ihre Wohnung geschickt haben wollen, sie dort abholen können?« fragte Manfred.
Mr. Fare nickte.
»Im allgemeinen werden zwei Pence für den Brief berechnet. Das Gesetz sollte derartige Gebräuche verbieten, denn auf diese Art ist dem Betrug Tür und Tor geöffnet. Die Schlauheit dieser Maßnahme ist ganz offensichtlich. Spaghetti Jones bekommt den Brief natürlich für irgendeinen seiner Kunden. Er ist in seiner Hand, und er kann ihn je nach Belieben öffnen oder geschlossen lassen, so daß er intakt ist, wenn die Polizei den Laden kontrolliert. Neulich haben wir das getan. Wenn es uns nicht gelingt, zu verhindern, daß die Briefe ihn erreichen, sind wir überhaupt machtlos. Der Name des Mannes, an den das Geld von der Gräfin geschickt werden sollte, war ›H. Frascati, p. Adr. John Jones‹. Unser Freund hat natürlich das Antwortschreiben der Gräfin mit all den anderen Briefen erhalten, die täglich bei ihm einlaufen und dann abgeholt werden. Wir beobachteten seinen Laden den ganzen Tag, und als unser Mann abends im Laden erschien, wurde ihm gesagt, daß der Brief bereits abgeholt sei. Der Beamte konnte natürlich nicht jeden durchsuchen, der im Laufe des Tages aus dem Laden kam, und es war infolgedessen unmöglich, ihm etwas nachzuweisen.«
»Wirklich genial!« sagte Gonsalez bewundernd. »Hat die Gräfin tatsächlich das Geld geschickt?«
»Ja, leider war sie so töricht, zweihundert Pfund zu schicken.« Mr. Fare schüttelte bedauernd den Kopf. »Erst als sie wieder einen Drohbrief erhielt, benachrichtigte sie die Polizei. Wir sandten dann von uns aus ein Antwortschreiben an die angegebene Adresse, um die Leute damit zu fangen, hatten aber ein absolut negatives Ergebnis, wie ich Ihnen eben erzählt habe. Daraufhin bekam sie einen weiteren Brief, in dem sofortige Zahlung von ihr verlangt wurde und eine Drohung gegen sie und ihren Sohn enthalten war. Wieder schickten wir Antwort – das war am letzten Donnerstag. Von einem Haus gegenüber seinem Laden beobachteten zwei unserer Beamten mit Ferngläsern alles, was sich dort zutrug. Sie konnten das Innere des Ladens genau sehen. Den ganzen Tag über händigte Jones keine Briefe aus, und als wir abends den Laden revidierten, fanden wir unseren Brief bei den anderen auf dem Ladentisch. Er war nicht einmal geöffnet worden – und wir hatten uns wieder einmal blamiert«, fügte Mr. Fare lächelnd hinzu. Er schwieg eine Weile nachdenklich. »Wollen Sie die Gräfin Vinci nicht einmal besuchen?« fragte er dann.
»O ja, sehr gerne«, erwiderte Gonsalez eifrig und sah auf seine Uhr.
»Heute abend geht es nicht mehr«, meinte Mr. Fare lächelnd. »Aber ich werde für morgen nachmittag ein Zusammentreffen vereinbaren. Vielleicht fällt Ihnen irgendein Mittel ein, wie wir die Leute fassen können.«
Als die beiden Freunde auf dem Heimweg waren, unterbrach Leon Gonsalez plötzlich das Schweigen mit einer merkwürdigen Frage.
»Ich möchte nur wissen, ob es nicht möglich wäre, eine leere Villa mit einem großen Badezimmer zu mieten. Das Badezimmer müßte aber wirklich groß und geräumig sein«, meinte er nachdenklich.
»Was führst du denn schon wieder im Schild?« fragte Manfred lachend. »Ich glaube, ich werde alt, Leon«, sagte er, als sie zu Hause ankamen. »Früher überraschten mich deine kühnen Pläne niemals. Welche charakteristischen Eigenschaften muß denn diese Villa noch besitzen?«
Leon warf seinen Hut so kunstvoll durch das Zimmer, daß er an einem Haken an der Wand hängenblieb.
»Bewunderst du nicht meine Fertigkeiten als Jongleur?« fragte er stolz. »Also, das Haus, nun ja, es müßte etwas abseits liegen, möglichst weit von anderen Gebäuden entfernt. Die Straße dürfte nicht zu nahe und nicht verkehrsreich sein. Am besten wäre es, wenn es durch Büsche und Bäume den direkten Blicken entzogen wäre.«
»Das klingt ja beinahe, als ob du irgendein schreckliches Verbrechen vorbereiten wolltest«, erwiderte Manfred gutmütig.
»O nein, das beabsichtige ich durchaus nicht«, sagte Leon ruhig. »Aber ich denke, unser Freund Jones ist ein ganz gemeingefährlicher Bursche.« Er seufzte schwer. »Ich würde viel darum geben, wenn ich die Abmessungen seines Schädels hätte.«
Ihre Unterredung mit der Gräfin Vinci verlief sehr befriedigend. Sie trafen eine hochgewachsene, schöne Frau von vierunddreißig Jahren, die eine vollendete Dame war.
Manfred, der sie rein menschlich betrachtete, war von ihr entzückt, aber Leon Gonsalez erschien sie zu normal, um sich für sie zu interessieren.
»Natürlich bin ich sehr beunruhigt«, erklärte sie ihnen. »Philipp ist nicht sehr kräftig, obwohl er nicht verzärtelt ist.«
Später kam auch ihr Sohn ins Zimmer, ein schlanker, kleiner Junge mit hellbrauner Gesichtsfarbe und dunklen Augen. Er war selbstbewußter und intelligenter, als Manfred nach seinen Jahren erwartet hatte. Seine Gouvernante, ein hübsches italienisches Mädchen, begleitete ihn.
»Ich traue Beatrice mehr als der Polizei«, sagte die Gräfin, nachdem die beiden das Zimmer wieder verlassen hatten. »Ihr Vater ist ein Polizeioffizier in Sizilien gewesen, und ihr Leben war dauernd bedroht.«
»Macht der Junge weite Spaziergänge?« fragte Manfred.
»Er fährt zweimal am Tag aus. Entweder nehme ich ihn mit oder Beatrice – manchmal begleiten wir ihn auch beide.«
»Womit droht man Ihnen eigentlich?« fragte Gonsalez.
»Ich werde Ihnen einen der Briefe zeigen.«
Sie ging zu einem Schreibtisch, schloß eine Schublade auf und kam mit einem starken Briefbogen zurück. Das Papier war von der besten Qualität, und die Schrift sah wie gestochen aus.
›Sie werden uns am 1. März, 1. Juni, 1. September und 1. Dezember je eintausend Pfund senden. Das Geld muß in Banknoten geschickt werden, und zwar an die Adresse von H. Frascati, p. Adr. J. Jones, 194 Notting Hill Crescent. Sollten Sie dieser Aufforderung nicht nachkommen, so wird es Sie viel mehr kosten, Ihren Sohn zurückzuerhalten‹
Gonsalez hielt das Papier gegen das Licht und trug es ans Fenster, um es besser betrachten zu können.
»Ja, ich dachte es mir schon«, sagte er, als er den Brief zurückgab. »Es wird äußerst schwer sein, den Schreiber dieser Zeilen festzustellen. Da nützen die besten Methoden nichts.«
»Ich fürchte, Sie wissen auch keinen Rat.« Die Gräfin schüttelte bedrückt den Kopf, als sich die Freunde erhoben, um sich zu verabschieden.
Sie hatte diese Worte an Manfred gerichtet, aber Gonsalez antwortete ihr.
»Ich kann Ihnen nur raten, Frau Gräfin, sich sofort mit uns in Verbindung zu setzen, wenn Ihr Sohn verschwinden sollte.«
»Mein lieber Manfred, ich bin ganz sicher, daß dieser junge Graf Philipp entführt wird«, sagte Leon, als sie wieder auf der Straße waren. »Ich werde jetzt ein Auto nehmen und in den Außenbezirken Londons nach einer Villa suchen.«
»Ist das dein Ernst?«
»Ich habe noch niemals eine Sache ernster genommen«, erwiderte Leon trocken. »Ich werde zeitig zum Essen zurück sein.«
Aber er kam erst um acht Uhr, eine Stunde später, zur Jermyn Street zurück und eilte in das Wohnzimmer.
»Ich habe –«, begann er. Als er aber Manfreds Gesicht sah, unterbrach er sich sofort. »Haben sie den Jungen schon geraubt?«
Manfred nickte.
»Vor einer Stunde wurde es mir telefonisch mitgeteilt.«
Leon pfiff vor sich hin.
»Das ist allerdings sehr schnell gegangen«, sagte er zu sich selbst. »Wie ist es denn gekommen?«
»Mr. Fare war schon hier. Er ging fort, kurz bevor du kamst. Die Entführung war lächerlich leicht. Gleich nachdem wir das Haus der Gräfin verließen, fuhr die Gouvernante mit dem Jungen im Auto aus. Sie nahmen ihren üblichen Weg durch Hampstead Heath hinaus ins Freie. Gewöhnlich fuhren sie einige Meilen durch die Heide in der Richtung nach Beacon’s Hill und kehrten dann um.«
»Daß sie jeden Tag denselben Weg machten, war aber auch heller Wahnsinn … Entschuldige, daß ich dich unterbrochen habe.«
»Der Wagen der Gräfin wendet immer an derselben Stelle um«, erklärte Manfred, »und diese Tatsache war natürlich den Entführern genau bekannt. Die Straße ist an der Stelle nicht besonders breit, und mit einem großen Rolls Royce dort zu wenden, erfordert schon einiges Hin- und Hermanövrieren. Der Chauffeur war gerade damit beschäftigt, als ein Radler an ihn heranfuhr und ihm eine Pistole unter die Nase hielt. Zu gleicher Zeit erschienen plötzlich von irgendwoher zwei andere Männer, rissen die Tür des Wagens auf, nahmen den Revolver weg, den die Gouvernante bei sich trug, und brachten den schreienden Knaben zu einem anderen Auto. Der Chauffeur der Gräfin hatte den Wagen vorher an der Seite der Straße stehen sehen, aber keinen Verdacht geschöpft.«
»Haben sie die Gesichter der Männer erkennen können?«
Manfred schüttelte den Kopf.
»Sie trugen diese billigen Theaterbärte, die man für wenig Geld in jedem Spielwarenladen kaufen kann. Außerdem hatten sie Autobrillen. Ich wollte gerade zur Gräfin gehen, als du kamst. Wenn du gegessen hast, Leon, wollen wir –«
»Ich esse heute abend nicht«, erwiderte Leon schnell.
Auch Mr. Fare war bei der Gräfin, als sie bei ihr vorsprachen. Er bemühte sich vergeblich, die verzweifelte Mutter zu beruhigen, und begrüßte die Ankunft der Freunde mit großer Erleichterung.
»Kann ich den Brief sehen?« fragte Leon sofort.
»Welchen Brief meinen Sie?«
»Den Brief, in dem die Entführer ihre Bedingungen und die Höhe des Lösegeldes mitteilen.«
»Er ist bis jetzt noch nicht angekommen«, sagte Mr. Fare leise. »Glauben Sie, daß es Ihnen gelingen wird, die Gräfin zu beruhigen? Sie ist nahe am Zusammenbrechen.«
Gräfin Vinci lag totenblaß und mit geschlossenen Augen auf einem Sofa. Zwei Mädchen bemühten sich, sie wieder zum Bewußtsein zu bringen. Als Manfred zu sprechen begann, öffnete sie die Augen und schaute ihn an.
»Mein Kind, mein Kind!« schluchzte sie und rang die Hände. »Bringen Sie mir meinen Sohn wieder – ich will alles zahlen, was die Leute haben wollen, alles! Nur meinen Sohn muß ich wiederhaben!«
Der Hausmeister trat ein und brachte einen Brief.
Sie sprang auf, aber sie wäre beinahe umgesunken, wenn Manfred sie nicht gestützt hätte.
»Das ist von – ihnen!« rief sie und riß das Schreiben mit zitternden Fingern auf.
Diesmal war der Inhalt etwas länger.
›Ihr Sohn wird an einem Platz gefangengehalten, der nur dem Schreiber dieser Zeilen bekannt ist. Der Raum ist vergittert und verschlossen und enthält Nahrung für vier Tage. Wenn die Summe von fünfundzwanzigtausend Pfund gezahlt ist, wird das Versteck bekanntgegeben. Andernfalls muß er dort verhungern‹
»Ich muß das Geld sofort senden«, rief die Gräfin verstört. »Sofort! Hören Sie? Mein Junge – mein Junge …«
»Vier Tage«, sagte Leon leise, und seine Augen leuchteten auf. »Besser konnte es gar nicht kommen!«
Nur Manfred hatte ihn gehört.
»Frau Gräfin«, sagte Mr. Fare ernst, »nehmen wir einmal an, Sie würden die fünfundzwanzigtausend Pfund zahlen welche Gewißheit haben Sie dann, daß Sie Ihren Sohn wiederbekommen? Sie sind eine reiche Frau – ist es nicht wahrscheinlich, daß dieser Mann weitere Summen von Ihnen verlangen wird, wenn Sie ihm erst einmal das Geld geschickt haben?«
»Außerdem würde das nur Geldvergeudung sein«, unterbrach ihn Leon. »Ich verspreche Ihnen, Ihren Sohn innerhalb zweier Tage wieder herbeizuschaffen. Vielleicht schon früher. Das hängt ganz davon ab, ob Mr. Spaghetti Jones gestern nacht spät zu Bett gegangen ist.«
*
Mr. Spaghetti Jones hatte in seinem Lieblingsrestaurant in Soho gut zu Abend gespeist. Er saß etwas entfernt von den anderen Gästen, und der Eigentümer des Lokals widmete ihm ganz besondere Aufmerksamkeit. Mr. Jones nahm diese Behandlung mit einer Selbstverständlichkeit entgegen, als ob sie sein gutes Recht sei. »
Er benutzte in aller Öffentlichkeit einen Zahnstocher, zahlte dann seine Rechnung, schlenderte selbstbewußt hinaus und rief ein Taxi an. Er wollte gerade einsteigen, als zwei Herren an ihn herantraten und ihn in die Mitte nahmen.
»Sind Sie Mr. Jones?« fragte der eine scharf.
»Ja, das ist mein Name.«
»Ich bin Inspektor Jetheroe von Scotland Yard und verhafte Sie unter der Anklage, den jungen Grafen Philipp Vinci entführt zu haben.«
Mr. Jones starrte ihn an. Es waren schon viele Versuche gemacht worden, ihn in die unwirtlichen Räume eines Staatsgefängnisses zu bringen, aber bisher waren sie alle vergeblich gewesen.
»Sie müssen sich täuschen«, sagte er lachend, denn er vertraute fest darauf, daß man ihm nichts würde beweisen können.
»Steigen Sie in diesen Wagen«, erwiderte der Mann kurz.
Mr. Jones war ein zu gewitzter Spitzbube und kannte das Gesetz zu genau, um irgendwelchen Widerstand zu leisten.
Er war seiner Sache ja sicher. Niemand würde ihn verraten, niemand würde als Zeuge gegen ihn auftreten, und niemand würde den Knaben entdecken. Er hatte nichts zu fürchten. Diese Verhaftung bedeutete nichts weiter als einen kurzen Besuch auf der Polizeistation – im schlimmsten Falle, mußte er eine Nacht dort bleiben.
Einer seiner beiden Wächter hatte eine lange Unterredung mit dem Chauffeur, ehe er einstieg. Mr. Jones sah durch das Fenster, daß er ihm eine Fünfpfundnote gab, und wunderte sich, daß die Polizei plötzlich so freigebig geworden war.
Im schärfsten Tempo fuhren sie durch Westend und Whitehall hinunter, aber zu Mr. Jones‘ Erstaunen bogen sie nicht nach Scotland Yard ein, sondern setzten ihren Weg über die Westminster Bridge fort.
»Wohin bringen Sie mich denn?«
Der kleine Herr, der neben ihm saß und der vorhin mit dem Chauffeur gesprochen hatte, beugte sich vor und drückte einen metallischen Gegenstand gegen Mr. Jones‘ Weste. Bei näherem Zusehen entdeckte der Gefangene, daß es eine Pistole war, und fuhr entsetzt zurück.
»Sprechen Sie jetzt nicht«, sagte der andere.
Jones konnte die Gesichter der beiden Detektive nicht sehen. Als sie aber an der nächsten großen Straßenlaterne vorbeifuhren, faßte ihn neuer Schrecken. Das Gesicht des Mannes ihm gegenüber war von einem dünnen, weißen Schleier bedeckt, so daß nur die Umrisse undeutlich zu erkennen waren. Spaghetti Jones dachte schnell nach. Aber in seiner gegenwärtigen Lage konnte er nichts tun. Die Pistole seines unheimlichen Gegenübers bedrohte ihn dauernd.
Der Wagen sauste durch New Cross, durch Lewisham und fuhr schließlich langsamer Blackheath Hill hinunter. Mr. Jones erkannte die Gegend, er hatte von Zeit zu Zeit hier erfolgreiche Unternehmungen durchgeführt.
Jetzt erreichten sie die Heath Road. Der Mann an seiner Seite öffnete das Fenster, schaute hinaus und sprach dann zum Chauffeur.
Plötzlich fuhr der Wagen durch ein Gartentor und hielt vor der düsteren Tür eines unheimlichen Hauses.
»Bevor Sie aussteigen«, wandte sich der Mann mit der Pistole an Jones, »möchte ich Ihnen eines sagen: Wenn Sie sich unterstehen zu sprechen oder zu schreien oder sich sonstwie dem Chauffeur bemerkbar zu machen, schieße ich Sie durch den Bauch. Es dauert dann drei Tage, bis Sie krepieren, und Sie werden bis dahin unheimliche Schmerzen durchmachen.«
Mr. Jones stieg aus und ging gehorsam und schweigend in das Haus. Der Abend war kühl, und er zitterte, als er den leeren, ungeheizten Flur betrat. Einer seiner Begleiter drehte das elektrische Licht an und schloß die Haustüre sorgfältig zu. Dann machte er das Licht wieder aus, und sie stiegen eine staubige Treppe empor. Leon Gonsalez leuchtete mit einer Taschenlampe.
»So, hier ist nun Ihre neue kleine Wohnung«, sagte Leon zufrieden, als er eine Tür öffnete und Licht einschaltete.
Es war ein geräumiges Badezimmer. Leon hatte offenbar das gefunden, was er suchte. Der Raum war ungewöhnlich groß; außer der Badewanne stand an einer Wand noch ein Bett. George Manfred erkannte, daß sein Freund tagsüber sehr geschäftig gewesen war. Das Bett schien bequem und luxuriös zu sein und sah mit seinen weißen Bezügen und seinen weichen Kissen sehr einladend aus.
In der breiten und tiefen Badewanne stand ein schwerer Eichenstuhl, und von einem der Wasserhähne hing ein langer Gummischlauch mit einer Spritze herab.
Mr. Jones hatte alles erstaunt betrachtet und auch gesehen, daß das Fenster dicht mit Tüchern verhängt war, so daß kein Licht nach draußen fallen konnte.
»Strecken Sie Ihre Hände aus«, befahl Leon kurz, und bevor Spaghetti Jones wußte, was geschah, waren ein Paar Handschellen um seine Handgelenke befestigt. Im nächsten Augenblick zog Leon einen Lederriemen durch die Ösen.
»Setzen Sie sich einmal auf das Bett – Sie sollen nur sehen, wie bequem und weich es ist«, sagte Leon ruhig.
»Ich weiß nicht, ob Sie wissen, was Sie riskieren«, rief Mr. Jones in einem plötzlichen Wutausbruch, »aber Sie werden noch daran denken! Nehmen Sie den Schleier vom Gesicht, damit ich Sie sehen kann!«
»Ich möchte nicht, daß Sie mich sehen«, erwiderte Leon höflich. »Wenn Sie sich meine Züge merken und mich später wiedererkennen könnten, müßte ich Sie töten, und das will ich ja gerade nicht tun. Setzen Sie sich.«
Mr. Jones gehorchte verwundert, und sein Erstaunen wuchs, als Leon ihm die Schuhe und Strümpfe auszog und seine Hosenbeine aufkrempelte.
»Was soll denn das bedeuten?« fragte er ängstlich.
»Setzen Sie sich jetzt auf diesen Stuhl.« Gonsalez zeigte auf die Badewanne.
»Nun, hören Sie doch …«, begann Mr. Jones furchtsam.
»Wollen Sie wohl machen, daß Sie in die Badewanne kommen?« fuhr Leon auf. Mr. Jones folgte sofort.
»Sitzen Sie jetzt bequem?«
Mr. Jones sah ihn düster an.
»Es wird Ihnen noch recht ungemütlich werden, bevor wir mit Ihnen fertig sind! Wie gefällt Ihnen denn das Bett da drüben?« fragte Leon wieder. »Das sieht doch ganz einladend aus, nicht wahr?«
Jones antwortete nicht, Gonsalez klopfte ihm leicht auf die Schulter.
»So, mein lieber Freund, jetzt werden Sie mir sagen, wo Sie den jungen Grafen Philipp Vinci versteckt haben.«
»Ach, deshalb führen Sie das ganze Theater auf?« Mr. Jones grinste plötzlich. »Da können Sie lange fragen!«
Er schaute auf seine nackten Füße hinunter und betrachtete dann die beiden Freunde.
»Ich weiß überhaupt nichts von Philipp Vinci. Wer ist denn das?«
»Wo haben Sie Philipp Vinci versteckt?«
»Sie glauben doch nicht, daß ich es Ihnen sagen würde, wenn ich es auch wüßte?« erwiderte Mr. Jones verächtlich.
»Wenn Sie es wissen, werden Sie es uns gewiß noch sagen«, antwortete Leon ruhig. »Aber wir werden wahrscheinlich noch einige Zeit warten müssen. Vielleicht sind Sie in sechsunddreißig Stunden dazu bereit – George, würdest du so liebenswürdig sein, die erste Wache zu übernehmen? Ich werde mich inzwischen in dieses schöne Bett legen. Aber erst müssen wir noch einige kleine Vorsichtsmaßregeln treffen.« Er ergriff einen Lederriemen und schnallte Mr. Jones fest an den Stuhl. »Damit Sie nicht herunterfallen«, sagte er liebenswürdig.
Dann legte er sich auf das Bett und schlief sofort ein. Er besaß in verblüffendem Maß diese außerordentliche Gabe, die allen großen Feldherren eigen ist.
Mr. Jones sah von dem Schläfer auf den Mann, der ihm gegenüber in einem bequemen Stuhl saß. In den weißen Schleier waren zwei Löcher geschnitten, und sein Wächter las in einem Buch.
»Wie lange soll denn dies noch dauern?«
»Einen Tag oder auch zwei Tage«, erwiderte Manfred ruhig. »Haben Sie Langeweile? Möchten Sie gerne etwas lesen?«
Mr. Jones brummte etwas Unliebenswürdiges und nahm das Angebot nicht an. Er dachte intensiv darüber nach, was die beiden wohl beabsichtigten. Er hatte erwartet, daß man Gewalt gegen ihn anwenden würde, aber offensichtlich täuschte er sich darin. Sie hielten ihn nur gefangen, bis er sprechen würde. Aber er wollte es Ihnen schon zeigen! Allmählich begann er sich müde zu fühlen, und plötzlich fiel sein Kopf vornüber, bis das Kinn die Brust berührte.
»Wachen Sie auf!« sagte Manfred kurz.
Mit einem Ruck schreckte Mr. Jones empor.
»Sie sollen nicht schlafen.«
»Warum denn nicht?« murrte der Gefangene. »Ich werde doch schlafen!« Er setzte sich gemütlich in seinem Stuhl zurecht.
Mr. Jones begann wieder einzunicken, als er plötzlich eine unangenehme Erfahrung machte und seine Füße mit einem Schrei emporzog. George Manfred hatte einen Strahl eiskalten Wassers auf seine nackten Füße gerichtet, so daß Mr. Jones wieder vollständig wach wurde. Aber eine Stunde später übermannte ihn die Müdigkeit aufs neue. Wieder traf der kalte Strahl seine Füße, und wieder nahm Manfred ein Handtuch und trocknete Mr. Jones ab, als ob er ein kranker, hilfsbedürftiger Invalide sei.
Um sechs Uhr morgens starrte Mr. Jones mit roten, entzündeten Augen vor sich hin. Er beobachtete, wie sich Manfred erhob, Leon weckte und sich statt seiner zum Schlafen niederlegte.
Immer wieder sank sein Kopf auf die Brust, und in immer kürzeren Zwischenräumen weckte ihn der Wasserstrahl, bis er schließlich fast wahnsinnig wurde.
»Lassen Sie mich jetzt schlafen!« schrie er in hilfloser Wut und biß an dem Lederriemen. Er war dem Zusammenbruch nahe, seine Augen waren so schwer wie Blei.
»Wo ist Graf Philipp Vinci?« fragte Leon unbarmherzig.
»Dies ist eine Folter, Sie verfluchter Kerl –«.
»Nicht schlimmer für Sie als für den jungen Grafen, den Sie einsperrten und dem Sie für vier Tage Nahrung gaben. Und es ist auch nicht schlimmer, als wenn Sie einem Mann mit dem Federmesser das Gesicht aufschlitzen. Aber vielleicht glauben Sie, daß es nichts auf sich hat, einen kleinen Jungen zu erschrecken?«
»Ich weiß nicht, wo er ist, ich sage es Ihnen doch!« entgegnete Mr. Spaghetti Jones heiser.
»Dann werde ich Sie so lange wachhalten, bis es Ihnen wieder einfällt«, erwiderte Leon lachend und steckte sich eine Zigarette an.
Kurz darauf ging er aus dem Zimmer und kehrte nach einiger Zeit mit Kaffee und Keks zurück. Inzwischen war Mr. Jones fest eingeschlafen. Aber seine Träume endeten plötzlich mit einem furchtbaren Schrecken.
»Lassen Sie mich doch jetzt in Ruhe – lassen Sie mich doch bitte schlafen«, bat er mit Tränen in den Augen. »Ich will Ihnen ja alles geben, wenn Sie mich nur schlafen lassen.«
»Sie können in diesem Bett schlafen – es ist ein sehr schönes, weiches Bett. Aber erst wollen wir wissen, wo Philipp Vinci ist.«
»Sie werden zur Hölle fahren, bevor ich Ihnen das sage«, rief Spaghetti Jones erregt.
»Dann werden Sie eben noch weiter wachen müssen«, antwortete Leon höflich. »Wachen Sie auf!«
So ging es den ganzen Tag weiter. Um sieben Uhr abends war Mr. Jones vollständig gebrochen und nannte stöhnend eine Adresse. Manfred fuhr hin, um sich von der Richtigkeit der Angabe zu überzeugen.
»Nun lassen Sie mich aber schlafen!«
»Sie können noch so lange warten, bis mein Freund wiederkommt!«
Um neun Uhr kam George Manfred von Berkeley Square zurück, nachdem er einen vollständig verschüchterten kleinen Jungen aus einem fürchterlichen Keller in Notting Hill befreit hatte.
Manfred und Leon hoben den halbtoten Mr. Jones aus der Badewanne und lösten seine Fesseln.
»Bevor Sie sich hinlegen, setzen Sie sich hierher. Sie müssen dies unterzeichnen.«
Es war ein Dokument, das Mr. Jones nicht hätte lesen können, selbst wenn er gewollt hätte. Schnell schrieb er seinen Namen darunter, dann legte er sich ins Bett. Noch bevor Manfred die Kleider über ihn deckte, war er eingeschlafen. Und er war noch nicht aufgewacht, als ein Beamter von Scotland Yard ins Zimmer trat und ihn kräftig schüttelte.
Spaghetti Jones wußte nichts von dem, was der Detektiv ihm sagte, er erinnerte sich auch nicht daran, als ihm sein schriftliches Bekenntnis auf der Polizeistation vorgelesen wurde. Er besann sich auf nichts, bis man ihn in seiner Zelle aufweckte. Er sollte vor dem Polizeirichter erscheinen, um erstmalig verhört zu werden.
»Es ist ganz sonderbar«, sagte der Gefängniswärter zu dem Arzt. »Ich kann diesen Karl nicht wachhalten.«
»Vielleicht geben Sie ihm einmal ein kaltes Bad«, schlug der Doktor vor.