Annette von Droste-Hülshoff

Westfälische Schilderungen

I

Wenn wir von Westfalen reden, so begreifen wir darunter einen großen, sehr verschiedenen

Landstrich, verschieden nicht nur den weit auseinanderliegenden Stammwurzeln seiner

Bevölkerung nach, sondern auch in allem, was die Physiognomie des Landes bildet, oder

wesentlich darauf zurückwirkt, in Klima, Naturform, Erwerbsquellen, und, als Folge dessen, in

Kultur, Sitten, Charakter, und selbst Körperbildung seiner Bewohner: daher möchten wohl wenige

Teile unsers Deutschlands einer so vielseitigen Beleuchtung bedürfen.

Zwar gibt es ein Element, das dem Ganzen, mit Ausnahme einiger kleinen Grenzprovinzen, für den

oberflächlichen Beobachter einen Anhauch von Gleichförmigkeit verleiht, ich meine das des

gleichen (katholischen) Religionskultus, und des gleichen früheren Lebens unter den

Krummstäben, was, in seiner festen Form und gänzlicher Beschränkung auf die nächsten Zustände,

immer dem Volkscharakter und selbst der Natur einen Charakter von bald beschaulicher, bald in

sich selbst arbeitender Abgeschlossenheit gibt, den wohl erst eine lange Reihe von Jahren, und

die Folge mehrerer, unter fremden Einflüssen herangebildeter Generationen völlig verwischen

dürften. Das schärfere Auge wird indessen sehr bald von Abstufungen angezogen, die in ihren

Endpunkten sich fast zum Kontraste steigern, und, bei der noch großenteils erhaltenen

Volkstümlichkeit, dem Lande ein Interesse zuwenden, was ein vielleicht besserer, aber

zerflossener Zustand nicht erregen könnte. – Gebirg und Fläche scheinen auch hier, wie

überall, die schärferen Grenzlinien bezeichnen zu wollen; doch haben, was das Volk betrifft,

Umstände die gewöhnliche Folgenreihe gestört, und statt aus dem flachen, heidigen

Münsterlande, durch die hügelige Grafschaft Mark und das Bistum Paderborn, bis in die, dem

Hochgebirge nahestehenden Bergkegel des Sauerlandes (Herzogtum Westfalen) sich der Natur

nachzumetamorphosieren, bildet hier vielmehr der Sauerländer den Übergang vom friedlichen

Heidebewohner zum wilden, fast südlich durchglühten, Insassen des Teutoburger Waldes. – Doch

lassen wir dieses beiläufig beiseite, und fassen die Landschaft ins Auge, unabhängig von ihren

Bewohnern, insofern die Einwirkung derselben (durch Kultur etc.) auf deren äußere Form dieses

erlaubt.

Wir haben bei Wesel die Ufer des Niederrheins verlassen, und nähern uns durch das, auf der

Karte mit Unrecht Westfalen zugezählte, noch echt rheinische Herzogtum Kleve, den Grenzen

jenes Landes. Das allmählige Verlöschen des Grüns und der Betriebsamkeit; das Zunehmen der

glänzenden Sanddünen und einer gewissen lauen, träumerischen Atmosphäre, sowie die aus den

seltenen Hütten immer blonder und weicher hervorschauenden Kindergesichter sagen uns, daß wir

sie überschritten haben, – wir sind in den Grenzstrichen des Bistums Münster. – Eine trostlose

Gegend! unabsehbare Sandflächen, nur am Horizonte hier und dort von kleinen Waldungen und

einzelnen Baumgruppen unterbrochen. – Die von Seewinden geschwängerte Luft scheint nur im

Schlafe aufzuzucken. – Bei jedem Hauche geht ein zartes, dem Rauschen der Fichten ähnliches

Geriesel über die Fläche, und säet den Sandkies in glühenden Streifen bis an die nächste Düne,

wo der Hirt in halb somnambüler Beschaulichkeit seine Socken strickt, und sich so wenig um uns

kümmert, als sein gleichfalls somnambüler Hund und seine Heidschnucken. – Schwärme badender

Krähen liegen quer über den Pfad, und flattern erst auf, wenn wir sie fast greifen könnten, um

einige Schritte seitwärts wieder niederzufallen, und uns im Vorübergehen mit einem

weissagenden Auge, »oculo torvo sinistroque« zu betrachten. – Aus den einzelnen

Wacholderbüschen dringt das klagende, möwenartige Geschrill der jungen Kiebitze, die wie

Tauchervögel im Schilf in ihrem stachligen Asyle umschlüpfen, und bald hier bald drüben ihre

Federbüschel hervorstrecken. – Dann noch etwa jede Meile eine Hütte, vor deren Tür ein paar

Kinder sich im Sande wälzen und Käfer fangen, und allenfalls ein wandernder Naturforscher, der

neben seinem überfüllten Tornister kniet, und lächelnd die zierlich versteinerten Muscheln und

Seeigel betrachtet, die wie Modelle einer frühern Schöpfung hier überall verstreut liegen, –

und wir haben alles genannt, was eine lange Tagereise hindurch eine Gegend belebt, die keine

andere Poesie aufzuweisen hat, als die einer fast jungfräulichen Einsamkeit, und einer

weichen, traumhaften Beleuchtung, in der sich die Flügel der Phantasie unwillkürlich

entfalten. – Allmählich bereiten sich indessen freundlichere Bilder vor, – zerstreute

Grasflächen in den Niederungen, häufigere und frischere Baumgruppen begrüßen uns als Vorposten

nahender Fruchtbarkeit, und bald befinden wir uns in dem Herzen des Münsterlandes, in einer

Gegend, die so anmutig ist, wie der gänzliche Mangel an Gebirgen, Felsen und belebten Strömen

dieses nur immer gestattet, und die wie eine große Oase, in dem sie von allen Seiten, nach

Holland, Oldenburg, Kleve zu, umstäubenden Sandmeer liegt. – In hohem Grade friedlich, hat sie

doch nichts von dem Charakter der Einöde, vielmehr mögen wenige Landschaften so voll Grün,

Nachtigallenschlag und Blumenflor angetroffen werden, und der aus minder feuchten Gegenden

Einwandernde wird fast betäubt vom Geschmetter der zahllosen Singvögel, die ihre Nahrung in

dem weichen Kleiboden finden. – Die wüsten Steppen haben sich in mäßige, mit einer

Heidenblumendecke farbig überhauchte Weidestrecken zusammengezogen, aus denen jeder Schritt

Schwärme blauer, gelber und milchweißer Schmetterlinge aufstäuben läßt. – Fast jeder dieser

Weidegründe enthält einen Wasserspiegel, von Schwertlilien umkränzt, an denen Tausende kleiner

Libellen wie bunte Stäbchen hängen, während die der größeren Art bis auf die Mitte des Weihers

schnurren, wo sie in die Blätter der gelben Nymphäen, wie goldene Schmucknadeln in emaillierte

Schalen niederfallen, und dort auf die Wasserinsekten lauern, von denen sie sich nähren. – Das

Ganze umgrenzen kleine, aber zahlreiche Waldungen. – Alles Laubholz, und namentlich ein

Eichenbestand von tadelloser Schönheit, der die holländische Marine mit Masten versieht – in

jedem Baume ein Nest, auf jedem Aste ein lustiger Vogel, und überall eine Frische des Grüns

und ein Blätterduft, wie dieses anderwärts nur nach einem Frühlingsregen der Fall ist. – Unter

den Zweigen lauschen die Wohnungen hervor, die langgestreckt, mit tief niederragendem Dache,

im Schatten Mittagsruhe zu halten und mit halbgeschlossenem Auge nach den Rindern zu schauen

scheinen, welche hellfarbig und gescheckt wie eine Damwildherde sich gegen das Grün des

Waldbodens oder den blassen Horizont abzeichnen, und in wechselnden Gruppen durcheinander

schieben, da diese Heiden immer Allmenden sind, und jede wenigstens sechzig Stück Hornvieh und

darüber enthält. – Was nicht Wald und Heide ist, ist Kamp, d.h. Privateigentum, zu Acker und

Wiesengrund benützt, und, um die Beschwerde des Hütens zu vermeiden, je nach dem Umfange des

Besitzes oder der Bestimmung, mit einem hohen, von Laubholz überflatterten Erdwalle umhegt. –

Dieses begreift die fruchtbarsten Grundstrecken der Gemeinde, und man trifft gewöhnlich lange

Reihen solcher Kämpe nach- und nebeneinander, durch Stege und Pförtchen verbunden, die man mit

jener angenehmen Neugier betritt, mit der man die Zimmer eines dachlosen Hauses durchwandelt.

Wirklich geben auch vorzüglich die Wiesen einen äußerst heitern Anblick durch die Fülle und

Mannigfaltigkeit der Blumen und Kräuter, in denen die Elite der Viehzucht, schwerer

ostfriesischer Rasse, übersättigt wiederkaut, und den Vorübergehenden so träge und hochmütig

anschnaubt, wie es nur der Wohlhäbigkeit auf vier Beinen erlaubt ist. Gräben und Teiche

durchschneiden auch hier, wie überall, das Terrain, und würden, wie alles stehende Gewässer,

widrig sein, wenn nicht eine weiße, von Vergißmeinnicht umwucherte Blütendecke und der

aromatische Duft des Münzkrautes dem überwiegend entgegenwirkten; auch die Ufer der träg

schleichenden Flüsse sind mit dieser Zierde versehen, und mildern so das Unbehagen, das ein

schläfriger Fluß immer erzeugt. – Kurz diese Gegend bietet eine lebhafte Einsamkeit, ein

fröhliches Alleinsein mit der Natur, wie wir es anderwärts noch nicht angetroffen. – Dörfer

trifft man alle Stunde Weges höchstens eines, und die zerstreuten Pachthöfe liegen so

versteckt hinter Wallhecken und Bäumen, daß nur ein ferner Hahnenschrei, oder ein aus seiner

Laubperücke winkender Heiligenschein sie dir andeutet, und du dich allein glaubst mit Gras und

Vögeln, wie am vierten Tage der Schöpfung, bis ein langsames »Hott« oder »Haar« hinter der

nächsten Hecke dich aus dem Traume weckt, oder ein grell anschlagender Hofhund dich auf den

Dachstreifen aufmerksam macht, der sich gerade neben dir, wie ein liegender Balken durch das

Gestripp des Erdwalls zeichnet. – So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es

nach vierzig Jahren nimmer sein. – Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen

Bedürfnisse und Industrie. Die kleinern malerischen Heiden werden geteilt; die Kultur des

langsam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen schnellern

Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getreidseen den

Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auch ihre Bewohner von den uralten

Sitten und Gebräuchen mehr und mehr ablassen; fassen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt

in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt,

auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.

Wir haben diesen Raum des Münsterlandes eine Oase genannt, so sind es auch wieder Steppen,

Sand-und Fichtenöden, die uns durch Paderborn, die ehemalige Residenz- und Grenzstadt, in das

Bistum gleichen Namens führen, wo die Ebene allmählich zu Hügeln anschwillt, von denen jedoch

die höchsten – der jenseitigen Grenze zu – die Höhe eines mäßigen Berges nicht übersteigen. –

Hier ist die Physiognomie des Landes bei weitem nicht so anziehend, wie die seiner Bewohner,

sondern ein ziemlich reizloser Übergang von der Fläche zum Gebirge, ohne die Milde der ersten

oder die Großartigkeit des letzteren, – unabsehbare Getreidfelder, sich über Tal und Höhe

ziehend, welche die Fruchtbarkeit des Bodens bezeugen, aber das Auge ermüden, – Quellen und

kleine Flüsse, die recht munter laufen, aber gänzlich ohne Geräusch und die phantastischen

Sprünge der Bergwässer, – steinichter Grund, der, wo man nur den Spaden einstößt, treffliches

Baumaterial liefert, aber nirgends eine Klippenwand vorstreckt, außer der künstlichen des

Steinbruchs, – niedere Berge von gewöhnlicher Form, unter denen nur die bewaldeten auf einige

Anmut Anspruch machen können, bilden zusammen ein wenig hervorstechendes Ganze. – Selbst der

klassische Teutoburger Wald, das einzige zwar nicht durch Höhe, aber durch seine Ausdehnung

und mitunter malerischen Formen imposante Waldgebirge, ist in neueren Zeiten so durchlichtet,

und nach der Schnur beforstet worden, daß wir nur mit Hülfe der roten (eisenhaltigen) Erde,

die fortwährend unter unsern Tritten knistert, sowie der unzähligen fliegenden Leuchtwürmchen,

die hier in Sommernächten an jeden Zweig ihr Laternchen hängen, und einer regen Phantasie von

»Stein, Gras und Grein« träumen können. – Doch fehlt es dem Lande nicht an einzelnen Punkten,

wo das Zusammentreffen vieler kleinen Schönheiten wirklich reizende Partien hervorbringt, an

hübschen grünen Talschluchten, z.B. von Quellen durchrieselt, wo es sich recht anmutig, und

sogar ein wenig schwindelnd, durch die schlanken Stämme bergauf schauen läßt; liegt nun etwa

noch ein Schlößchen droben, und gegenüber ein Steinbruch, der fürs Auge so ziemlich die

Klippen ersetzt, so wird der wandernde Maler gewiß sein Album hervorlangen, und der

benachbarte Flachländer kehrt von seiner Ferienreise mit Stoff zu langen Erzählungen und

Nachentzückungen heim;- ein Dorf am Fuße des Berges kann übrigens das Bild nur verderben, da

das Bistum Paderborn hiervon ausgemacht die elendesten und rauchigsten Exemplare Westfalens

aufzuweisen hat, ein Umstand, zu dem Übervölkerung und Leichtsinn der Einwohner zu gleichen

Teilen beitragen.

Haben wir die paderbornsche Grenze – gleichviel ob zur Rechten oder zur Linken –

überschritten, so beginnt der hochromantische Teil Westfalens, rechts das geistliche

Fürstentum Corvey, links die Grafschaft Mark; ersteres die mit Recht berühmten

Weserlandschaften, das andere die gleich schönen Ruhr-und Lenne-Ufer umschließend. – Diese

beiden Provinzen zeigen, obwohl der Lage nach getrennt, eine große Verwandtschaft der Natur,

nur daß die eine durch segelnde Fahrzeuge, die andere durch das Pochen der Hämmer und Gewerke

belebt wird; beide sind gleich lachend und fruchtbar, mit gleich wellenförmigen, üppig

belaubten Bergrücken geschmückt, in die sich nach und nach kühnere Formen und Klippenwände

drängen, bis die Weserlandschaft wie eine Schönheit, die ihren Scheitelpunkt erreicht hat,

allmählich wieder einsinkt und gleichsam abwelkt, während von der Ruhr aus immer kühnere

Gebirgsformen in das Herz des Sauerlandes dringen, und sich durch die höchste romantische

Wildheit bis zur Öde steigern. Daß die vielbesprochene Porta Westfalica nur einen geringen

Beitrag zu jener Bilderreihe steuert, und nur den letzten zweifelhaften beau jour der bereits

verblichenen Weserschönheit ausmacht, ist schon öfters gesagt worden; desto reizender ist der

Strombord in seinem Knospen, Erblühen und Reifen das Corveyer Ländchen und die anschließenden

Striche entlang bis zur kurhessischen Grenze: so sanfte Berghänge und verschwimmende Gründe,

wo Wasser und Land sich zu haschen und einander mit ihrer Frische anzuhauchen scheinen; so

angenehme Kornfluren im Wechsel mit Wiese und Wald; so kokette Windungen des Stroms, daß wir

in einem Garten zu wandeln glauben. – Immer mannigfaltiger wird die Landschaft, immer reicher

schattiert von Laub- und Nadelholz, scharfen und wellenschlagenden Linien. – Hinter dem alten

Schlosse Wehern und der Türkenruine hebt der Wildberg aus lustigen Hügeln, die ihn wie vom

Spiel ermüdete Kinder umlagern, seinen stachligen Sargrücken, und scheint nur den Kathagenberg

gegenüber, der ihn wie das Knochengebäude eines vorweltlichen Ungeheuers aus roten Augenhöhlen

anstarrt, seiner Beachtung wert zu halten. – Von hier an beginnen die Ufer steil zu werden,

mit jeder Viertelstunde steiler, hohler und felsiger, und bald sehen wir von einer

stundenlangen, mit Mauern und Geländern eingehegten Klippe die Schiffe unter uns gleiten,

klein wie Kinderspielzeug, und hören den Ruf der Schiffer, dünn wie Möwenschrei, während hoch

über uns von der Felsterrasse junge Laubzweige niederwinken, wie die Hände schöner Frauen von

Burgzinnen. – Bei dem neuantiken Schlosse Herstelle hat die Landschaft ihren Höhepunkt

erreicht, und geht, nach einer reichen Aussicht, die Weser entlang, und einem schwindelnden

Niederblicke auf das hessische Grenzstädtchen Karlshafen, der Verflachung und überall dem

Verfall entgegen.

Diesen ähnliche Bilder bietet die Grafschaft Mark, von gleicher teils sanften, teils kräftiger

auftretenden Romantik, und durch die gleichen Mittel. – Doch ist die Landschaft hier belebter,

reicher an Quellengeräusch und Echo, die Flüsse kleiner und rascher, und statt Segel bei uns

vorbeigleiten zu lassen, schreiten wir selbst an schäumenden Wehren und Mühlrädern vorüber,

und hören schon weither das Pochen der Gewerke, denn wir sind in einem Fabriklande. – Auch ist

die Gegend anfangs, von der Nähe des Münsterlandes angehaucht, noch milder, die Täler

träumerischer, und tritt dagegen, wo sie sich dem eigentlichen Sauerlande nähert, schon kühner

auf als die Weser. – Das »Felsenmeer« unweit Menden z.B. – ein Tal, wo Riesen mit wüsten

Felswürfeln gespielt zu haben scheinen – und die Bergschlucht unter der Schloßruine und der

bekannten Tropfsteinhöhle Klusenstein dürfen ungezweifelt einen ehrenvollen Platz im Gebiete

des Wildromantischen ansprechen, sonderlich das letzte, und eben diese starr gegeneinander

rückenden Felswände, an denen sich der kaum fußbreite Ziegenpfad windet – oben das alte

Gemäuer, in der Mitte der schwarze Höllenschlund, unten im Kessel das Getöse und Geschäum der

Mühle, zu der man nur vermittelst Planken und Stege gelangt, und wo es immer dämmert – sollen

dem weiland vielgelesenen Spies den Rahmen zu einem seiner schlimmsten Schauerromane (ich

glaube die Teufelsmühle im Höllental) geliefert haben. – Doch sind dieses Ausnahmen, die

Landschaften durchgängig sanft, und würden, ohne die industrielle Regsamkeit ihrer Bewohner,

entschieden träumerisch sein. – Sobald wir die Fläche überschritten, verliert sich indessen

das Milde mehr und mehr, und bald begegnet es uns nur noch in einzelnen, gleichsam verirrten

Partien, die uns jetzt durch ihre Seltenheit so überraschend anregen, wie früher die kühneren

Formen, von denen wir fortan, durch tagelange Wanderungen, fast übersättigt werden. – Der

Sauerländer rühmt sich eines glorreichen Ursprungs seiner Benennung – »dieses ist mir ein

saures Land geworden«, soll Karl der Große gesagt haben – und wirklich, wenn wir uns durch

die, mit Felsblöcken halb verrammelten Schluchten des Binnenlandes winden, unter Wänden her,

deren Unersteiglichkeit wir mit schwindelndem Auge messen, und aus denen sich kolossale

Balkone strecken, breit und fest genug, eine wilde Berghorde zu tragen, so zweifeln wir nicht

an der Wahrheit dieses Worts, mag es nun gesagt sein oder nicht. – Das Gebirge ist

wasserreich, und in den Talschlünden das Getöse der niederrauschenden und brodelnden Quellen

fast betäubend, wogegen der Vogelgesang in den überhandnehmenden Fichtenwaldungen mehr und

mehr erstirbt, bis wir zuletzt nur Geier und Habichte die Felszacken umkreisen sehen, und ihre

grellen Diebspfeifen sich hoch in der Luft antworten hören. – Überall starren uns die

schwarzen Eingänge der Stollen, Spalten und Stalaktitenhöhlen entgegen, deren Senkungen noch

zum Teil nicht ergründet sind, und an die sich Sagen von Wegelagerern, Berggeistern und

verhungerten Verirrten knüpfen. – Das Ganze steht den wildesten Gegenden des Schwarzwaldes

nicht nach – sonderlich wenn es zu dunkeln beginnt, gehört viel kaltes Blut dazu, um sich

eines mindestens poetischen Schauers zu erwehren, wenn das Volk der Eulen und Schuhue in den

Spalten lebendig wird, und das Echo ihr Gewimmer von Wand zu Wand laufen läßt, und wenn die

hohen Öfen wie glühende Rachen aus den Schluchten gähnen, wirre Funkensäulen über sich

aufblasen, und Baum und Gestein umher mit rotem Brandscheine überzittern. – In diesem Stile

nimmt die Landschaft immer an Wildheit zu, zuletzt Klippen bietend, auf denen man schon

verirrte Ziegen hat tagelang umherschwanken sehen, bis die Zackenform der Berge allmählich

kahlen Kegeln weicht, an denen noch wohl im hohen Mai Schneeflecke lagern, der Baumwuchs fast

gänzlich eingeht, und endlich bei »Winterberge« die Gegend nur noch das Bild trostloser Öde

beut, – kahle Zuckerhutformen, an denen hier und dort ein Fleckchen magerer Hafersaat mehr

gilbt als grünt.

II

Wir haben im vorhergehenden den Charakter der Eingebornen bereits flüchtig angedeutet, und

gesagt, daß dem gewöhnlichen Einflusse der Natur auf ihre Zöglinge entgegen, am,

verhältnismäßig in einem zahmen Lande aufgenährten, Paderbörner der Stempel des Bergbewohners,

sowohl moralisch als körperlich, weit entschiedener hervortritt, als an dem, durch seine

Umgebungen weit mehr dazu berechtigten Sauerländer. – Der Grund liegt nahe; in den

Handelsverhältnissen des letzteren, die seine Heimat den Fremden öffnen, und ihn selbst der

Fremde zutreiben, wo unter kaufmännischer Kultur die Sitten, durch auswärtige Heiraten das

Blut seines Stammes sich täglich mehr verdünnen, und wir müssen uns eher über die Kraft einer

Ader wundern, die, von so vielen Quellen verwässert, doch noch durchgängig einen scharfen,

festen Strich zeichnet, wie der Rhein durch den Bodensee. – Der Sauerländer ist ungemein groß

und wohlgebaut, vielleicht der größte Menschenschlag in Deutschland, aber von wenig

geschmeidigen Formen; kolossale Körperkraft ist bei ihm gewöhnlicher, als Behendigkeit

anzutreffen. Seine Züge, obwohl etwas breit und verflacht, sind sehr angenehm, und bei

vorherrschend lichtbraunem oder blonden Haare haben doch seine langbewimperten blauen Augen

alle den Glanz und den dunkeln Blick der schwarzen. – Seine Physiognomie ist kühn und offen,

sein Anstand ungezwungen, so daß man geneigt ist, ihn für ein argloseres Naturkind zu halten,

als irgendeinen seiner Mitwestfalen; dennoch ist nicht leicht ein Sauerländer ohne einen

starken Zusatz von Schlauheit, Verschlossenheit und praktischer Verstandesschärfe, und selbst

der sonst Beschränkteste unter ihnen wird gegen den gescheutesten Münsterländer fast immer

praktisch im Vorteil stehen. – Er ist sehr entschlossen, stößt sich dann nicht an

Kleinigkeiten, und scheint eher zum Handel und guten Fortkommen geboren, als dadurch und dazu

herangebildet. – Seine Neigungen sind heftig aber wechselnd, und so wenig er sie jemands

Wunsch zuliebe aufgibt, so leicht entschließt er sich, aus eigener Einsicht oder Grille

hierzu. – Er ist ein rastloser und zumeist glücklicher Spekulant, vom reichen Fabrikherrn, der

mit vieren fährt, bis zum abgerissenen Herumstreifer, der »Kirschen für Lumpen« ausbietet; und

hier findet sich der einzige Adel Westfalens, der sich durch Eisenhämmer, Papiermühlen und

Salzwerke dem Kaufmannsstande anschließt. – Obwohl der Konfession nach katholisch, ist das

Fabrikvolk doch an vielen Orten bis zur Gleichgültigkeit lau, und lacht nur zu oft über die

Scharen frommer Wallfahrter, die vor seinen Gnadenbildern bestäubt und keuchend ihre Litaneien

absingen, und an denen ihm der Klang des Geldes, das sie einführen, bei weitem die

verdienstvollste Musik scheint. – Übrigens besitzt der Sauerländer manche anziehende Seite; er

ist mutig, besonnen, von scharfem aber kühlen Verstande, obwohl im allgemeinen berechnend,

doch aus Ehrgefühl bedeutender Aufopferungen fähig; und selbst der Geringste besitzt einen

Anflug ritterlicher Galanterie und einen naiven Humor, der seine Unterhaltung äußerst angenehm

für denjenigen macht, dessen Ohren nicht allzu zart sind. – Daß in einem Lande, wo drei

Viertel der Bevölkerung, Mann, Weib und Kind, ihren Tag unter fremdem Dache (in den

Fabrikstuben) zubringen, oder auf Handelsfüßen das Land durchziehen, die häuslichen

Verhältnisse sehr locker, gewissermaßen unbedeutend sind, begreift sich wohl; so wie aus dem

Gesagten hervorgeht, daß nicht hier der Hort der Träume und Märchen, der charakteristischen

Sitten und Gebräuche zu suchen ist; denn obwohl die Sage manche Kluft und unheimliche Höhle

mit Berggeistern, und den Gespenstern Ermordeter, oder in den Irrgängen Verschmachteter

bevölkert hat, so lacht doch jedes Kind darüber, und nur der minder beherzte oder

phantasiereichere Reisende fährt zusammen, wenn ihm in dem schwarzen Schlunde etwa eine Eule

entgegenwimmert, oder ein kalter Tropfen von den Steinzapfen in seinen Nacken rieselt. – Kurz,

der Sohn der Industrie besitzt vom Bergbewohner nur die eiserne Gesundheit, Körperkraft und

Entschlossenheit, aber ohne den romantischen Anflug und die Phantasie, welche sich an

großartigen Umgebungen zu entwickeln pflegen, – er liebt sein Land, ohne dessen Charakter

herauszufühlen; er liebt seine Berge, weil sie Eisen und freien Atemzug; seine Felsen, weil

sie vortreffliches Material und Fernsichten; seine rauschenden Wasserfälle, weil sie den

Fabrikrädern rascheren Umschwung geben, und das Ganze endlich, weil es eben seine Heimat und

in dessen Luft ihm am wohlsten ist. – Seine Festlichkeiten sind, nach den Umständen des

Gastgebers, den städtischen möglichst nachgebildet; seine Trachten desgleichen. – Alles wie

anderwärts, – staubende Chausseen mit Frachtwagen und Einspännern bedeckt, – Wirtshäuser mit

Kellnern und gedruckten Speisezetteln, – einzelne Dörfer im tiefsten Gebirge sind noch

strohdachig und verfallen genug, die meisten jedoch, nett wie alle Fabrikorte, erhalten allein

durch die schwarze Schieferbekleidung und die mit Steinplatten beschwerten Dächer, die man

hier der Rauhigkeit des Klimas entgegensetzen muß, einen schwachen Anstrich von Ländlichkeit,

und nur die Kohlenbrenner in den Waldungen, die bleichen Hammerschmiede vor ihren

Höllenfeuern, und die an den Stollen, mit Lederschurz und blitzendem Bleierz auf ihrem

Kärrchen aus- und einfahrenden Bergknappen geben der Landschaft hier und dort eine passende

Staffage.

Anders ist’s im Hochstifte Paderborn, wo der Mensch eine Art wilder Poesie in die sonst

ziemlich nüchterne Umgebung bringt, und uns in die Abruzzen versetzen würde, wenn wir

Phantasie genug hätten, jene Gewitterwolke für ein mächtiges Gebirge, jenen Steinbruch für

eine Klippe zu halten. – Nicht groß von Gestalt, hager und sehnig, mit scharfen, schlauen,

tiefgebräunten, und vor der Zeit von Mühsal und Leidenschaft durchfurchten Zügen fehlt dem

Paderbörner nur das brandschwarze Haar zu einem entschieden südlichen Aussehen. – Die Männer

sind oft hübsch und immer malerisch, die Frauen haben das Schicksal der Südländerinnen, eine

frühe, üppige Blüte und ein frühes, zigeunerhaftes Alter. – Nirgends gibt es so rauchige

Dörfer, so dachlückige Hüttchen, als hier, wo ein ungestümes Temperament einen starken Teil

der Bevölkerung übereilten Heiraten zuführt, ohne ein anderes Kapital, als vier Arme und ein

Dutzend zusammengebettelter und zusammengesuchter Balken, aus denen dann eine Art von Koben

zusammengesetzt wird, eben groß genug für die Herdstelle, das Ehebett, und allenfalls einen

Verschlag, der den stolzen Namen Stube führt, in der Tat aber nur ein ungewöhnlich breiter und

hoher Kasten mit einem oder zwei Fensterlöchern ist. – Besitzt das junge Paar Fleiß und

Ausdauer, so mögen nach und nach einige Verschläge angezimmert werden; hat es ungewöhnlichen

Fleiß und Glück zugleich, so dürfte endlich eine bescheidene Menschenwohnung entstehen, häufig

aber lassen Armut und Nachlässigkeit es nicht hierzu kommen, und wir selbst sahen einen

bejahrten Mann, dessen Palast zu kurz war, um ausgestreckt darin zu schlafen, seine Beine ein

gutes Ende weit in die Straße recken. – Selbst der Roheste ist schlau und zu allen Dingen

geschickt, weiß jedoch selten nachhaltigen Vorteil daraus zu ziehen, da er sein Talent gar oft

in kleinen Pfiffigkeiten, deren Ertrag er sofort vergeudet, erschöpft, und sich dem Einflusse

von Winkeladvokaten hingibt, die ihm über jeden Zaunpfahl einen Prozeß einfädeln, der ihn

völlig aussaugt, fast immer zur Auspfändung, und häufig von Hof und Haus bringt. – Große Not

treibt ihn zu großen Anstrengungen, aber nur bis das dringendste Bedürfnis gestillt ist, –

jeder erübrigte Groschen, den der Münsterländer sorglich zurücklegen, der Sauerländer in

irgendein Geschäft stecken würde, wird hier am liebsten von dem Kind der Armut sofort dem

Wirte und Kleinhändler zugetragen, und die Schenken sind meist gefüllt mit Glückseligen, die

sich einen oder ein paar blaue Montage machen, um nachher wieder auf die alte Weise fort zu

hungern und taglöhnern. – So verleben leider viele, obwohl in einem fruchtbaren Lande, und mit

allen Naturgaben ausgerüstet, die sonst in der Welt voran bringen, ihre Jugend in Armut, und

gehen einem elenden Alter am Bettelstabe entgegen. – In ihrer Verwahrlosung dem Aberglauben

zugeneigt, glaubt der Unglückliche sehr fromm zu sein, während er seinem Gewissen die

ungebührlichsten Ausdehnungen zumutet. – Wirklich stehen auch manche Pflichten seinen mit der

Muttermilch eingesogenen Ansichten vom eigenen Rechte zu sehr entgegen, als daß er sie je

begreifen sollte, – jene gegen den Gutsherrn zum Beispiel, dem er nach seinem Naturrecht gern

als einen Erbfeind oder Usurpator des eigentlich ihm zuständigen Bodens betrachtet, dem ein

echtes Landeskind nur aus List, um der guten Sache willen, schmeichle, und übrigens Abbruch

tun müsse, wo es immer könne. – Noch empörender scheinen ihm die Forst- und Jagdgesetze, da ja

»unser Hergott das Holz von selbst wachsen läßt, und das Wild aus einem Lande in das andere

wechselt.« – Mit diesem Spruche im Munde glaubt der Frierende sich völlig berechtigt, jeden

Förster, der ihn in flagranti überrascht, mit Schnupftabak zu blenden, und wie er kann, mit

ihm fertig zu werden. – Die Gutsbesitzer sind deshalb zu einem erschöpfenden Aufwande an

Forstbeamten gezwungen, die den ganzen Tag und manche Nacht durchpatrouillieren, und doch die

massivsten Forstfrevel, z.B. das Niederschlagen ganzer Waldstrecken in einer Nacht, nicht

immer verhindern können. – Hier scheitern alle Anstrengungen der sehr ehrenwerten

Geistlichkeit, und selbst die Versagung der Absolution im Beichtstuhle verliert ihre Kraft,

wie bei dem Korsen, wenn es eine Vendetta gilt. – Noch vor dreißig Jahren war es etwas sehr

Gewöhnliches, beim Mondscheine langen Wagenreihen zu begegnen, neben denen dreißig bis vierzig

Männer hertrabten, das Beil auf der Schulter, den Ausdruck lauernder Entschlossenheit in den

gebräunten Zügen, und der nächste Morgen brachte dann gewiß – je nachdem sie mit den Förstern

zusammengetroffen, oder ihnen glücklich ausgewichen waren – die Geschichte eines blutigen

Kampfs, oder eines grandiosen Waldfrevels. – Die Überwachung der preußischen Regierung hat

allerdings dieser Öffentlichkeit ein Ziel gesetzt, jedoch ohne bedeutende Resultate in der

Sache selbst, da die Frevler jetzt durch List ersetzen, was sie an Macht einbüßen, und es ist

leider eine Tatsache, daß die Holzbedürftigen, sogar Beamte, von Leuten, denen doch, wie sie

ganz wohl wissen, kein rechtlicher Splitter eigen ist, ihren Bedarf so ruhig nehmen, wie

allerorts Strandbewohner ihren Kaffee und Zucker von den Schmugglern zu nehmen pflegen. – Daß

auch dieser letztere Erwerbszweig hier dem Charakter des Besitzlosen zu sehr zusagt, als daß

er ihn vernachlässigen sollte, selbst wenn die mehrstündige Entfernung der Grenze ihn mühsam,

gefahrvoll und wenig einträglich zugleich machen, läßt sich wohl voraussetzen, und fast bis im

Herzen des Landes sehen wir bei abendlichen Spaziergängen kleine Truppen von fünfen oder

sechsen, hastig und ohne Gruß, an uns vorüber der Wesergegend zustapfen, und können sie in der

Morgendämmerung mit kleinen Bündeln, schweißtriefend und nicht selten mit verbundenem Kopfe

oder Arme wieder in ihre Baracken schlüpfen sehen. Zuweilen folgen die Zollbeamten ihnen

stundenweit; die Dörfer des Binnenlandes werden durch nächtliche Schüsse und wüstes Geschrei

aufgeschreckt, – am nächsten Morgen zeigen Gänge durchs Kornfeld, in welcher Richtung die

Schmuggler geflohen; zerstampfte Flächen, wo sie sich mit den Zöllnern gepackt haben, und ein

halbes Dutzend Taglöhner läßt sich bei seinem Dienstherren krank melden. – Ihre Ehen meist aus

Leidenschaft, und mit gänzlicher Rücksichtslosigkeit auf äußere Vorteile, geschlossen, würden

anderwärts für höchst unglücklich gelten, da kaum eine Barackenbewohnerin ihr Leben

beschließt, ohne Bekanntschaft mit dem sogenannten »braunen Heinrich«, dem Stocke nämlich,

gemacht zu haben. Sie aber finden es ländlich, sittlich, und leben der Überzeugung, daß eine

gute Ehe, wie ein gutes Gewebe, zuerst des Einschlags bedarf, um nachher ein tüchtiges

Hausleinen zu liefern. Wollten wir eine Zusammenstellung der untern Volksklassen nach den drei

Hauptrassen Westfalens wagen, so würden wir sagen: Der Sauerländer freit, wie ein Kaufmann,

nämlich nach Geld oder Geschicklichkeit, und führt auch seine Ehe so, – kühl und auf

gemeinschaftlichen Erwerb gerichtet. – Der Münsterländer freit wie ein Herrnhuter, gutem Rufe

und dem Willen seiner Eltern gemäß, und liebt und trägt seine Ehe, wie ein aus Gottes Hand

gefallenes Los, in friedlicher Pflichterfüllung. – Der Paderbörner Wildling aber, hat

Erziehung und Zucht nichts an ihm getan, wirbt wie ein derbes Naturkind mit allem Ungestüm

seines heftigen Blutes. Mit seinen und den Eltern seiner Frau muß es daher auch oft zu

heftigen Auftritten kommen. Er geht unter die Soldaten, oder er läuft Gefahr, zu verkommen,

wenn seine Neigung unerwidert bleibt. Die Ehe wird in diesen dürftigen Hütten den Frauen zum

wahren Fegfeuer, bis sie sich zurechtgefunden; Fluch- und Schimpfreden haben, wie bei den

Matrosen, einen großen Teil ihrer Bedeutung verloren, und lassen eine rohe Art aufopfernder

Liebe wohl neben sich bestehen. Über das Verderbnis der dienenden Klassen wird sehr geklagt;

jedes noch so flüchtige Verhältnis zwischen den zwei Geschlechtern müsse streng überwacht

werden von denen, die ihr Haus rein von Skandal, und ihre weiblichen Dienstboten in

dienstfähigem Zustande zu erhalten wünschen; selbst die Unteraufseher, Leute von gesetzten

Jahren und sonst streng genug, schienen taub und blind, sobald nicht ein Verlöbnis, sondern

nur der Glaube an eine ernstliche Absicht vorhanden sei – »die beiden freien sich« – und damit

seien alle Schranken gefallen, obwohl aus zwanzig solcher Freiereien kaum eine Ehe hervorgehe

und die Folgen davon den Gemeinden zur Last fielen. Auch die Branntweinpest fordert hier nicht

wenige Opfer, und bei diesem heftigen Blut wirkt das Übermaß um so wilder und gefährlicher.

Diese Verwahrlosung ist um so mehr zu beklagen, da es auch dem letzten nicht leicht an

Talenten und geistigen Mitteln gebricht, und seine schlaue Gewandtheit, sein Mut, seine

tiefen, einbohrenden Leidenschaften, und vor allem seine reine Nationalität, verbunden mit dem

markierten Äußern, ihn zu einem allerdings würdigen Gegenstande der Aufmerksamkeit machen. –

Alter Gebräuche bei Festlichkeiten gibt es wenige, und in seltner Anwendung, da der

Paderborner jedem Zwange zu abgeneigt ist, als daß er sich eine Lust durch etwas, das nach

Zeremoniell schmeckt, verderben sollte. – Bei den Hochzeiten z.B. fällt wenig Besonderes vor,

das allwärts bekannte Schlüssel- und Brodüberreichen findet auch hier statt, d.h. wo es, außer

einer alten Truhe, etwas gibt, was des Schlüssels bedürfte, – nachher geht jeder seinem Jubel

bei Tanz und Flasche nach, bis sich alles zum »Papen von Istrup« stellt, einem beliebten

Nationaltanz, einem Durcheinanderwirbeln und Verschlingen, was erst nach dem Lichtanzünden

beginnt, und dem »Reisenden für Völker- und Länderkunde« den Zeitpunkt angibt, wo es für ihn

geratener sein möchte, sich zu entfernen, da fortan die Aufregung der Gäste bis zu einer Höhe

steigt, deren Kulminationspunkt nicht vorauszuberechnen ist. – Ist die Braut eine echte

»Flüggebraut«, eine Braut in Kranz und fliegenden Haaren, so tritt sie gewiß stolz, wie eine

Fürstin, auf, und dieses glorreiche Familienereignis wird noch der Ruhm ihrer Nachkommen, die

sich dessen wohl zu rühmen wissen, wie stattlich sie mit Spiegeln und Flittergold in den

Haaren einhergestrahlt sei. – Lieber als eine Hochzeit ist dem Paderbörner noch die Fastnacht,

an derem ersten Tage (Sonntag, Estomihi) der Bursche dahersteigt, in der Hand, auf goldenem

Apfel, einen befiederten Hahn aus Brodteig, den er seiner Liebsten verehrt, oder auch der

Edelfrau, nämlich, wenn es ihm an Geld für die kommenden nassen Tage fehlt. – Am Montag ist

der Jubel im tollsten Gange, selbst Bettler, die nichts anderes haben, hängen ihr geflicktes

Bettuch über den Kopf, und binden einen durchlöcherten Papierbogen vors Gesicht, und diese

machen, wie sie mit ihren, aus der weißen Umrändung blitzenden Augen und langen Nasenschnäbeln

die Mauern entlang taumeln, einen noch grausigeren Eindruck, wie die eigentlichen Maskenzüge,

die in scheußlichen Verkleidungen mit Geheul und Hurra auf Ackergäulen durch die Felder

galoppieren, alle hundert Schritte einen Sandreuter zurücklassend, der ihnen wüst nachjohlt,

oder als ein hinkendes Ungetüm ins Dorf zurückächzt. Sehr beliebt ist auch das Schützenfest,

zum Teil der Ironie wegen, da an diesem Tage der »Wildschütz« vor dem Auge der sein Gewerb

ignorierenden Herrschaft mit seinem sichern Blicke und seiner festen Hand paradieren darf, und

oft der schlimmste Schelm, dem die Förster schon wochenlang nachstellten, dem gnädigen

Fräulein Strauß und Ehrenschärpe als seiner Königin überreicht, und mit ihr die Zeremonie des

ersten Tanzes durchmacht. – Ihm folgt am nächsten Tage das Frauenschießen, eine galante Sitte,

die man hier am wenigsten suchen sollte, und die sich anmutig genug ausnimmt. Morgens in aller

Frühe ziehen alle Ehefrauen der Gemeinde, unter ihnen manche blutjunge und hübsche, von dem

Edelhofe aus, in ihren goldenen Häubchen und Stirnbinden, bebändert und bestraußt, jede mit

dem Gewehr ihres Mannes über die Schultern. – Voran die Frau des Schützenkönigs mit den

Abzeichen ihrer Würde, den Säbel an der Seite, wie weiland Maria Theresia auf den Kremnitzer

Dukaten; ihr zunächst die Fähnderichin mit der weißen Schützenfahne; – auf dem Hofe wird

haltgemacht, die Königin zieht den Säbel, kommandiert – rechts – links – kurz alle

militärischen Evolutionen; dann wird die Fahne geschwenkt, und das blanke Regiment zieht mit

einem feinen Hurra dem Schießplatze zu, wo jede – manche mit der zierlichsten Koketterie – ihr

Gewehr ein paarmal abfeuert, und unter klingendem Spiele der Schenke zu marschieren, wo es

heute keinen König gibt, sondern nur eine Königin und ihren Hof, die alles anordnen, und von

denen sich die Männer heute alles gefallen lassen. – Einen gleich starken Gegensatz zu den

derben Sitten des Landes gibt der Beginn des Erntefestes. – Dieses wird nur auf Edelhöfen und

großen Pachtungen im altherkömmlichen Stile gefeiert. – Der voranschreitenden Musik folgt der

Erntewagen mit dem letzten Fuder, auf dessen Garben die Großmagd thront, über sich auf einer

Stange den funkelnden Erntekranz, – dann folgen sämtliche Dienstleute, paarweise, mit

gefalteten Händen, die Männer barhaupt, so ziehen sie langsam über das Feld dem Edelhofe zu,

das Tedeum nach der schönen, alten Melodie des katholischen Ritus absingend, ohne Begleitung,

aber bei jedem dritten Verse von den Blasinstrumenten abgelöst, was sich überaus feierlich

macht, und gerade bei diesen Menschen, und unter freiem Himmel etwas wahrhaft Ergreifendes

hat. – Im Hofe angelangt, steigt die Großmagd ab, und trägt ihren Kranz mit einem artigen

Spruche zu jedem Mitgliede der Familie, vom Hausherrn an bis zum kleinsten Jünkerchen auf dem

Schaukelpferde, dann wird er über das Scheuertor an die Stelle des vorigjährigen gehängt, und

die Lustbarkeit beginnt. – Obwohl sich keiner ausgezeichneten Singorgane erfreuend, sind die

Paderbörner doch überaus gesangliebend; überall – in den Spinnstuben – auf dem Felde – hört

man sie quinkelieren und pfeifen, – sie haben ihre eigenen Spinn–, ihre Acker–, Flachsbrech-

und Rauflieder, – das letzte ist ein schlimmes Spottlied, was sie, nach dem Takte des Raufens,

jedem Vorübergehenden aus dem Stegreif zusingen. – Sonderlich junge Herren, die sich, dem

Verhältnisse nach, zu Freiern ihrer Fräulein qualifizieren, können darauf rechnen, nicht

ungeneckt vorbeizukommen, und sich von zwanzig bis dreißig Stimmen nachkrähen zu hören: »He!

he! he! er ist ihr zu dick, er hat kein Geschick«, – oder: »Er ist ihr zu arm, daß Gott

erbarm! Den Quinkel den quank, der Vogel der sang, das Jahr ist lang, oh! oh! oh! laßt ihn

gehn!« – Überhaupt rühmen sie sich gern, wo es ihnen Anlaß zum Streit verspricht, ihrer

Herrschaft, als ob sie aus Gold wäre; stehen auch in ernsteren Fällen, aus demselben Grunde,

bisweilen zu ihr gleich dem Besten, und es ist hier, wie bei der Pariser Polizei, nichts

Ungewöhnliches, die schlimmsten »Wildschützen« nach einigen Jahren als Forstgehilfen

wiederzufinden, denen es alsdann ein Herzensgaudium ist, sich mit ihren alten Kameraden zu

raufen, und den bekannten Listen neue entgegenzusetzen; und noch vor kurzem packten ein

Dutzend solcher Praktiker ihren Herzensfreund, den Dorfschulmeister, der sie früher in der

Taktik des »Holzsuchens« unterrichtet hatte, wie er eben daran war, die dritte oder vierte

Auflage der Rekruten einzuüben, etwa achtzig barfüßige Schlingel nämlich, die, wie junge

Wölfe, zuerst mit dem Blutaussaugen anfangen, mit ihren krummen Messern kunstfertig in dem

jungen Schlag wüteten, während der Pädagog, von einer breiten Buche herab, das Kommando

führte. – Wir haben bereits den Volksaberglauben erwähnt; dieser äußert sich, neben der

Gespensterfurcht und dem Hexenglauben, vorzugsweise in sympathetischen Mitteln und dem

sogenannten Besprechen, einem Akt, der manches zu denken gibt, und dessen wirklich seltsame

Erfolge sich durch bloßes Hinwegleugnen keineswegs beseitigen lassen. Wir selbst müssen

gestehen, Zeugen unerwarteter Resultate gewesen zu sein. – Auf die Felder, die der Besprecher

mit seinem weißen Stäbchen umschritten, und die Scholle eines verpfändeten Ackers darauf

geworfen hat, wagt sich in der Tat kein Sperling, kein Wurm, fällt kein Mehltau, und es ist

überraschend, diese Strecken mit schweren, niederhangenden Ähren zwischen weiten Flächen

leeren Strohes zu sehen. Ferner, ein prächtiger Schimmel, arabischer Rasse, und überaus

feurig, war, zu einem übermäßigen Sprunge gespornt, gestürzt, und hatte sich die Zunge dicht

an der Wurzel durchgebissen. – Da das Schlagen des wütenden Tieres es in den ersten Tagen

unmöglich machte, der Wunde beizukommen, war der Brand hinzugetreten, und ein sehr geschickter

Arzt erklärte das schöne Pferd für rettungslos verloren. – Jetzt ward zur »Waffensalbe«

geschritten, – keinem Arzneimittel, wie man wahrscheinlich glauben wird, sondern einem

geheimnisvollen, mir unbekannt gebliebenen Gebrauch, zu dessen Behuf dem mehrere Stunden

entfernten Besprecher nur ein von dem Blut des Tieres beflecktes Tuch gesandt wurde. – Man

kann sich denken, welches Vertrauen ich in dieses Mittel setzte! – Am nächsten Tage wurde das

Tier jedoch so ruhig, daß ich dieses als ein Zeichen seiner nahenden Auflösung ansah, – am

folgenden richtete es sich auf, zerbiß und verschluckte, obwohl etwas mühsam, einige

Brodscheiben ohne Rinde, – am dritten Morgen sahen wir, zu unserm Erstaunen, daß es sich über

das in der Raufe befindliche Futter hergemacht, und einen Teil desselben bereits verzehrt

hatte, während nur ein behutsames Auswählen der weicheren Halme, und ein leises Zucken um

Lippen und Nüstern die Empfindlichkeit der, wie wir uns durch den Augenschein überzeugen

mußten, völlig geschlossenen Wundstelle andeuteten; und seitdem habe ich den schönen Araber

manches Mal, frisch und feurig, wie zuvor, mit seinem Reiter durchs Feld stolzieren sehen. –

Dergleichen und ähnliches fällt täglich vor, und hiebei ist die Annäherung des Besprechers

oder seines Mittels an den zu besprechenden Gegenstand immer so gering (in manchen Fällen, wie

dem eben genannten, fällt sie gänzlich fort), daß eine Erklärung durch natürlich wirkende

Essenzen hier keine Statt haben kann, so wie die vielbesprochene Macht der Phantasie bei

Tieren, Kräutern und selbst Gestein wegfallen muß, und dem Erklärer wohl nur die Kraft des

menschlichen Glaubens, die magnetische Gewalt eines festen Willens über die Natur als letztes

Auskunftsmittel bleiben dürfte. – Folgenden Vorfall haben wir aus dem Munde eines

glaubwürdigen Augenzeugen: In dem Garten eines Edelhofes hatte die grüne Kohlraupe dermaßen

überhandgenommen, daß der Besitzer, obwohl Protestant, in seinem Überdrusse endlich zum

Besprecher schickte. – Dieser fand sich alsbald ein, umschritt die Gemüsefelder, leise vor

sich hin murmelnd, wobei er mit seinem Stäbchen hier und dort einen Kohlkopf berührte. Nun

stand unmittelbar am Garten ein Stallgebäude, an dessen schadhaftem Dache einige Arbeiter

flickten, die sich den Spaß machten, den Zauberer durch Spottreden, hinabgeworfene

Kalkstückchen etc. zu stören. – Nachdem dieser sie wiederholt gebeten hatte, ihn nicht zu

irren, sagte er endlich: »Wenn ihr nicht Ruhe haltet, so treibe ich euch die Raupen auf das

Dach«, und als die Neckereien dennoch nicht aufhörten, ging er an die nächste Hecke, schnitt

eine Menge fingerlanger Stäbchen, stellte sie horizontal an die Stallmauer und entfernte sich.

– Alsbald verließen sämtliche Raupen ihre Pflanzen, krochen in breiten, grünen Kolonnen über

die Sandwege, an den Stäbchen die Mauer aufwärts, und nach einer halben Stunde hatten die

Arbeiter das Feld geräumt, und standen im Hofe, mit Ungeziefer besäet, und nach dem Dache

deutend, was wie mit einer grünen, wimmelnden Decke überzogen war. – Wir geben das eben

Erzählte übrigens keineswegs als etwas Besonderes, da die oben berührte Erklärung, durch auf

den Geruch wirkende Essenzen, hier am ersten stattfinden dürfte, sondern nur als ein kleines

Genrebild aus dem Tun und Treiben eines phantasiereichen und eben besprochenen Volkes. – Ehe

wir von diesem zu andern übergehen, erlauben wir uns noch zum Schlusse die Mitteilung einer

vor etwa vierzig Jahren vorgefallenen Szene, die allerdings unter der jetzigen Regierung nicht

mehr stattfinden könnte, jedoch den Charakter des Volks zu anschaulich darstellt, als daß wir

sie am ungeeigneten Orte glauben sollten. – Zu jener Zeit stand den Gutsbesitzern die niedere

Gerichtsbarkeit zu, und wurde mitunter streng gehandhabt, wobei sich, wie es zu gehen pflegt,

der Untergebene mit der Härte des Herrn, der Herr mit der Böswilligkeit des Untergebenen

entschuldigte, und in dieser Wechselwirkung das Übel sich fortwährend steigerte. Nun sollte

der Vorsteher (Meier) eines Dorfes, allzu grober Betrügereien und Diebstähle halber, seines

Amts entsetzt werden. – Er hatte sich manchen verpflichtet, manchen bedrückt, und die Gemeinde

war in zwei bittere Parteien gespalten. – Schon seit mehreren Tagen war eine tückische Stille

im Dorfe bemerkt worden, und als am Gerichtstage der Gutsherr, aus Veranlassung des

Unwohlseins, seinen Geschäftsführer bevollmächtigte, in Verein mit dem eigentlichen Justitiar,

die Sache abzumachen, war den beiden Herren diese Abänderung keineswegs angenehm, da ihnen

wohl bewußt war, daß der Bauer seine Herrschaft zwar haßt, jeden Städter aber, und namentlich

»das Schreibervolk« aus tiefster Seele verachtet. Ihre Besorgnis ward nicht gemindert, als

einige Stunden vor der Sitzung ein Schwarm barfüßiger Weiber in den Schloßhof zog, wahre

Poissarden, mit fliegenden Haaren und Kindern auf dem Arm, sich vor dem Hauptgebäude

zusammendrängte, und wie ein Nest junger Teufel zu krähen anfing: »Wir revoltieren! wir

protestieren! wir wollen den Meier behalten! unsere Kerle sind auf dem Felde und mähen, und

haben uns geschickt, wir revoltieren!« – Der Gutsherr trat ans Fenster und rief hinaus:

»Weiber! macht euch fort, der Amtmann (Justitiar) ist noch nicht da«, worauf der Schwarm sich

allmählich, unter Geschrei und Fluchen, verlor. – Als nach einigen Stunden die Sitzung

begonnen hatte, und die bereits abgehaltenen Verhöre verlesen wurden, erhob sich unter den

Fenstern des Gerichtslokals ein dumpfes, vielstimmiges Gemurmel, was immer zunahm, – dann

drängten sich ein paar starkknochige Männer in die Stube, – wieder andere, in kurzem war sie

zum Ersticken überfüllt. – Der Justitiar, an solche Auftritte gewöhnt, befahl ihnen mit

ernster Stimme hinauszugehen; – sie gehorchten wirklich, stellten sich aber, wie er ganz wohl

sah, an der Türe auf; zugleich bemerkte er, daß einige, mit grimmigem Blicke auf die

Gegenpartei, ihre Kittel lüfteten, und kurze, schwere Knittel sichtbar werden ließen, was von

der andern Seite mit einer ähnlichen Pantomime erwidert wurde. – Dennoch las er das Urteil mit

ziemlicher Fassung ab, und schritt dann, seinen Gefährten am Kleide zupfend, hastig der Türe

zu. – Dort aber drängten sich die Außenstehenden hinein, und ließen ihre Knittel spielen, und

– daß wir es kurz machen – die heilige Justiz mußte froh sein, die Nähe eines Fensters zu

einem etwas unregelmäßigen Rückzuge benutzen zu können. – Dem Gutsherrn war indessen durch den

sich allmählich nach außen ziehenden Tumult die Lage der Dinge bereits klar geworden, und er

hatte die Schützengilde aufbieten lassen, lauter Angehörige der Beteiligten, die sich freuten,

bei dieser schönen Gelegenheit auch einmal darauf loswaschen zu können. – Sie waren eben

aufmarschiert, als die Sturmglocke erschallte. – Einige Schützen rannten nun spornstreichs in

den Turm, wo sie ein altes Weib fanden, das aus Leibeskräften den Strang zog, sofort aber

gepackt und auf Umwege ins Hundeloch spediert wurde. Indessen stand der Gutsherr am Fenster,

und überwachte mit seinem Tubus die Wege, welche zu den berüchtigtsten Dörfern führten, und

nicht lange, so sah er es von allen Bergen herunterwimmeln, wie die Beduinenschwärme, er

konnte deutlich die Knitteln in ihren Händen unterscheiden, und an ihren Gebärden sehen, wie

sie sich einander riefen und zuwinkten. Schnell besonnen, warf er einen Blick auf die

Windfahne des Schloßturms, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Luft den Lärm nicht

bis zu der Stelle führe, wo die Kommenden etwa in einer Viertelstunde angelangt sein konnten,

wurden eilends einige zuverlässige Leute abgefertigt, die in Hemdärmeln, mit Sense und Rechen,

wie Arbeiter, die aufs Feld ziehen, den verschiedenen Trupps entgegenschlendern und ihnen

erzählen mußten, das Geläute im Dorfe habe einem brennenden Schlote gegolten, der aber bereits

gelöscht sei. – Die List gelang, alle trollten sich fluchend heim, während drinnen die

Schützengilde auch ihr Bestes mit Faust und Kolben tat, und so der ganze Skandal mit einigen

ernstlich Verwundeten und einem Dutzend ins Loch Gesteckten endigte, zwei Drittel der Gemeinde

aber eine Woche lang wie mit Pestbeulen behaftet aussahen, und eine besondere Schwerfälligkeit

in ihren Bewegungen zeigten. – Ähnliche Auftritte waren früher so gewöhnlich, wie das tägliche

Brod; noch heute, trotz des langjährigen Zwanges, ist der gemeine Mann innerlich nicht um ein

Haar breit von seinen Gelüsten und Ansichten abgewichen, er kann wohl niedergehalten werden,

die Glut wird aber unter der Asche immer fortglimmen. – Erhöhter Wohlstand würde einiges

mildern, wären nicht Leichtsinn und die Leidenschaft, welche zuerst eine dürftige Bevölkerung

zuwege bringen, deren geringes Eigentum Schenkwirten und Winkeladvokaten zur Beute wird. –

Dennoch kann man sich des Bedauerns mit einem Volke nicht enthalten, das mit Kraft, Scharfsinn

und Ausdauer begabt, und im Besitze eines gesegneten Bodens, in so vielen seiner Glieder den

traurigsten Verhältnissen anheimgefallen ist.

III

Selten mögen wenige Meilen einen so raschen Übergang hervorbringen, als jene, welche die

Grenzstriche Paderborns und seines frommen Nachbarlandes, des Bistums Münster, bilden. – Noch

vor einer Stunde, hinter dem nächsten Hügel, haben kleine, schwarzbraune Schlingel, die, im

halben Naturzustande, ihre paar mageren Ziegen weniger hüteten, als bei ihnen diebswegen Wache

standen, auf deine Frage nach dem Wege, dich zuerst durch verstelltes Mißverstehen und

Witzeleien gehöhnt, und dir dann unfehlbar einen Pfad angegeben, wo du wie eine Unke im

Sumpfe, oder ein Abrahams-Widder in den Dornen gesteckt hast, – d.h. wenn du nicht mit Geld

klimpertest, denn in diesem Falle haben nicht einer, sondern sämtliche Buben ihre Ziegen, um

sie desto sicherer wiederzufinden, ins Kornfeld getrieben, und mindestens ein Dutzend Zäune

zerbrochen und Pfähle ausgerissen, um dir den nächsten Weg zu bahnen, und du hast dich, übel

und böse, zu einer vierfachen Abfindung entschließen müssen, – und jetzt stehst du, wie ein

Amerikaner, der soeben den Wigwams der Irokesen entschlüpft ist, und die ersten

Einfriedigungen einer Herrnhuterkolonie betritt, vor ein paar runden Flachsköpfen, in

mindestens vier Kamisölern, Zipfelmützen, Wollstrümpfen und den landesüblichen Holzschuhen,

die ihre Kuh ängstlich am Stricke halten, und vor Schrecken aufschreien, wenn sie nach einer

Ähre schnappt. – Ihre Züge, deren Milchhaut die Sonne kaum hat etwas anhaben können, tragen so

offen den Ausdruck der gutmütigsten Einfalt, daß du dich zu einer nochmaligen Nachfrage

entschließest. »Herr!« sagt der Knabe, und reicht dir eine Kußhand, »das Ort weiß ich nicht;«

– du wendest dich an seinen Nachbarn, der gar nicht antwortet, sondern dich nur anblinzt, als

dächte er, du wolltest ihn schlagen. – »Herr!« nimmt der erstere wieder das Wort, »der weiß es

auch nicht«; verdrießlich trab du fort, aber die Knaben haben zusammen geflüstert, und der

große Redner kömmt dir nachgeklappert. »Meint der Herr vielleicht –?« (hier nennt er den Namen

des Orts im Volksdialekt) – auf deine Bejahung stampft er herzhaft vor dir her, immer nach

seinen Kameraden umschauend, die ihm mit ihren Augen den Rücken decken, bis zum nächsten

Kreuzweg, dann hastig mit der Hand eine Richtung bezeichnend, springt er fort, so schnell es

sich in Holzschuhen galoppieren läßt, und du steckst deinen Dreier wieder ein, oder wirfst ihn

in den Sand, wo die kleinen Heidläufer, die dich aus der Ferne beobachten, ihn schon nicht

werden umkommen lassen. – In diesem Zuge hast du den Charakter des Landvolks in nuce, –

Gutmütigkeit, Furchtsamkeit, tiefes Rechtsgefühl, und eine stille Ordnung und Wirtlichkeit,

die, trotz seiner geringen Anlage zu Spekulationen und glücklichen Gedanken, ihm doch einen

Wohlstand zuwege gebracht hat, der selbst den seines gewerbtreibenden Nachbars, des

Sauerländers, weit übertrifft. – Der Münsterländer heiratet selten, ohne ein sicheres

Auskommen in der Hand zu haben, und verläßt sich, wenn ihm dieses nicht beschieden ist, lieber

auf die Milde seiner Verwandten, oder seines Brodherrn, der einen alten Diener nicht verstoßen

wird; und wirklich gibt es keine, einigermaßen bemittelte Wirtschaft, ohne ein paar solcher

Segenbringer, die ihre müden Knochen auf dem besten Platze, am Herde, auswärmen. – Die

illegitime Bevölkerung ist gar nicht in Anschlag zu bringen, obwohl jetzt eher, als wie vor

dreißig Jahren, wo wir in einer Pfarre von fünftausend Seelen ein einziges uneheliches Kind

antrafen, einen Burschen von 25 Jahren, den, zur Zeit der Demarkationslinie, ein fremder

Feldwebel einem armen Dienstmädchen als trauriges Andenken hinterlassen hatte. – Bettler gibt

es unter dem Landvolke nicht, weder dem Namen, noch der Tat nach, sondern nur in jeder

Gemeinde einige »arme Männer, arme Frauen«, denen in bemittelten Häusern nach der Reihe die

Kost gereicht wird, wo dann die nachlässigste Mutter ihr Kind strafen würde, wenn es an dem

»armen Manne« vorüberging, ohne ihn zu grüßen. – So ist Raum, Nahrung und Frieden für alle da,

und die Regierung möchte gern zu einer stärkern Bevölkerung anregen, die aber gewiß traurige

Folgen haben würde, bei einem Volke, was wohl ein Eigentum verständig zu bewirtschaften weiß,

dem es aber zum Erwerbe mit leerer Hand gänzlich an Geschick und Energie fehlt, und das

Sprichwort: »Not lehrt beten« (resp. arbeiten), würde sich schwerlich hinlänglich hier

bewähren, wo schon die laue, feuchte Luft den Menschen träumerisch macht, und seine

Schüchternheit zum Teil körperlich ist, so daß man ihn nur anzusehen braucht, um das langsame

Rollen seines Blutes gleichsam mitzufühlen.

Der Münsterländer ist groß, fleischig, selten von starker Muskelkraft; – seine Züge sind

weich, oft äußerst lieblich, und immer durch einen Ausdruck von Güte gewinnend, aber nicht

leicht interessant, da sie immer etwas Weibliches haben, und selbst ein alter Mann oft

frauenhafter aussieht, als eine Paderbörnerin in den mittleren Jahren, – die helle Haarfarbe

ist durchaus vorherrschend; man trifft alte Flachsköpfe, die vor Blondheit nicht haben

ergrauen können. – Dieses und alles Dazugehörige – die Hautfarbe – blendendweiß und rosig, und

den Sonnenstrahlen bis ins überreife Alter widerstehend. Die lichtblauen Augen, ohne kräftigen

Ausdruck – das feine Gesicht mit fast lächerlich kleinem Munde, hierzu ein oft sehr anmutiges

und immer wohlwollendes Lächeln, und schnelles Erröten stellen die Schönheit beider

Geschlechter auf sehr ungleiche Waage, – es gibt nämlich fast keinen Mann, den man als solchen

wirklich schön nennen könnte, während unter zwanzig Mädchen wenigstens fünfzehn als hübsch

auffallen, und zwar in dem etwas faden, aber doch lieblichen Geschmacke der englischen

Kupferstiche. – Die weibliche Landestracht ist mehr wohlhäbig, als wohlstehend, recht viele

Tuchröcke mit dicken Falten, recht schwere Goldhauben und Silberkreuze an schwarzem

Sammetbande, und bei den Ehefrauen Stirnbinden von möglichst breiter Spitze, bezeichnen hier

den Grad des Wohlstandes; da selten jemand in den Laden geht, ohne die nötigen blanken Taler

in der Hand, und noch seltner durch Putzsucht das richtige Verhältnis zwischen der Kleidung

und dem ungeschnittenen Leinen und andern häuslichen Schätzen gestört wird. – Der Hausstand in

den, zumeist vereinzelt liegenden Bauernhöfen ist groß, und in jedem Betracht reichlich, aber

durchaus bäurisch. – Das lange Gebäude von Ziegelsteinen, mit tief niederragendem Dache, und

von der Tenne durchschnitten, an der zu beiden Seiten eine lange Reihe Hornvieh,

ostfriesischer Rasse, mit ihren Ketten klirrt, – die große Küche, hell und sauber, mit

gewaltigem Kamine, unter dem sich das ganze Hauspersonale bergen kann; – das viele, zur Schau

gestellte blanke Geschirr, und die absichtlich an den Wänden der Fremdenstube aufgetürmten

Flachsvorräte erinnern ebenfalls an Holland, dem sich überhaupt diese Provinz, was Wohlstand

und Lebensweise betrifft, bedeutend nähert, obwohl Abgeschlossenheit und gänzlich auf den

innern Verkehr beschränktes Wirken ihre Bevölkerung von all den sittlichen Einflüssen, denen

handelnde Nationen nicht entgehen können, so frei gehalten haben, wie kaum einen andern

Landstrich. Ob starke Reibungen mit der Außenwelt dem Münsterländer den Mut und die

Betriebsamkeit des Batavers, – ein patriarchalisches Leben diesem die Sitteneinfalt und Milde

des Münsterländers geben könnten, müssen wir dahingestellt sein lassen, bezweifeln es aber, –

jetzt mindestens sind sie sich in den Zügen, die man als die nationellsten beider anzuführen

pflegt, fast feindlich entgegengesetzt, und verachten sich auch gegenseitig, wie es Nachbarn

zukömmt. Wir haben schon früher von dem überaus friedlichen Eindrucke eines münsterischen

Gehöftes gesprochen. – In den Sommermonaten, wo das Vieh im Felde ist, vernimmst du keinen

Laut außer dem Bellen des sich an seiner Kette abzappelnden Hofhundes, und wenn du dicht an

der offenen Haustüre herschreitest, das leise Zirpen der in den Mauernesseln aus- und

einschlüpfenden Küchlein, und den gemessenen Pendelschwung der Uhr, mit dessen Gewichten ein

paar junge Kätzchen spielen; – die im Garten jätenden Frauen sitzen so still gekauert, daß du

sie nicht ahndest, wenn ein zufälliger Blick über den Hagen sie dir nicht verrät, und die

schönen, schwermütigen Volksballaden, an denen diese Gegend überreich ist, hörst du etwa nur

auf einer nächtlichen Wanderung durch das Schnurren der Spinnräder, wenn die blöden Mädchen

sich vor jedem Ohre gesichert glauben. – Auch auf dem Felde kannst du im Gefühl der tiefsten

Einsamkeit gelassen fortträumen, bis ein zufälliges Räuspern, oder das Schnauben eines Pferdes

dir verrät, daß der Schatten, in den du soeben trittst, von einem halbbeladenen Erntewagen

geworfen wird, und du mitten durch zwanzig Arbeiter geschritten bist, die sich weiter nicht

wundern, daß der »nachdenkende Herr« ihr Hutabnehmen nicht beobachtet hat, da er, nach ihrer

Meinung, »andächtig ist«, d.h. den Rosenkranz aus dem Gedächtnisse hersagt. – Diese Ruhe und

Einförmigkeit, die aus dem Innern hervorgehen, verbreiten sich auch über alle

Lebensverhältnisse. – Die Toten werden mäßig betrauert, aber nie vergessen, und alten Leuten

treten noch Tränen in die Augen, wenn sie von ihren verstorbenen Eltern reden. – An den

Eheschlüssen hat frühere Neigung nur selten teil, Verwandte und achtbare Freunde empfehlen

ihre Lieblinge einander, und das Fürwort des Geachtetsten gibt in der Regel den Ausschlag, –

so kömmt es, daß manches Ehepaar sich vor der Kopulation kaum einmal gesehen hat, und unter

der französischen Regierung kam nicht selten der lächerliche Fall vor, daß Sponsen, die

meilenweit hergetrabt waren, um für ihre Bräute die nötigen Scheine bei der Behörde zu lösen,

weder Vor- noch Zunamen derjenigen anzugeben wußten, die sie in der nächsten Woche zu heiraten

gedachten, und sich höchlich wunderten, daß die Bezeichnung als Magd oder Nichte irgendeines

angesehenen Gemeindegliedes nicht hinreichend gefunden wurde. – Daß unter diesen Umständen die

möglichst große Anzahl der Anträge noch ehrenvoller und für den Ruf entscheidender ist, als

anderwärts, begreift sich, und wir selbst wohnten der Trauung eines wahren Kleinodes von

Brautpaaren bei, wo der Bräutigam unter achtundzwanzigen, die Braut unter zweiunddreißigen

gewählt hatte. Trotz der vorläufigen Verhandlungen ist jedoch selbst der Glänzendste hier

seines Erfolgs nicht sicher, da die Ehrbarkeit ein bestimmtes Eingehen auf die Anträge des

Brautwerbers verbietet, und jetzt beginnt die Aufgabe des Freiers. – Er tritt an einem

Nachmittage in das Haus der Gesuchten, und zwar jedesmal unter dem Vorwande, seine Pfeife

anzuzünden, – die Hausfrau setzt ihm einen Stuhl, und scharrt schweigend die Glut auf, dann

knüpft sie ein gleichgültiges Gespräch an vom Wetter, den Kornfrüchten etc., und nimmt

unterdessen eine Pfanne vom Gesimse, die sie sorgfältig scheuert und über die Kohlen hängt. –

Jetzt ist der entscheidende Augenblick gekommen. – Sieht der Freier die Vorbereitungen zu

einem Pfannenkuchen, so zieht er seine dicke silberne Uhr hervor, und behauptet, sich nicht

länger aufhalten zu können, werden aber Speckschnitzel und Eier in die Pfanne gelegt, so rückt

er kühnlich mit seinem Antrage heraus, die jungen Leute wechseln »die Treue«, nämlich ein Paar

alter Schaumünzen, und der Handel ist geschlossen.

Einige Tage vor der Hochzeit macht der Gastbitter mit ellenlangem Spruche seine Runde, oft

meilenweit, da hier, wie bei den Schotten, das verwandte Blut bis in das entfernteste Glied,

und bis zum Ärmsten hinab, geachtet wird. – Nächst diesem dürfen vor allem die sogenannten

Nachbarn nicht übergangen werden, drei oder vier Familien nämlich, die vielleicht eine halbe

Meile entfernt wohnen, aber in uralten Gemeinderegistern, aus den Zeiten einer noch viel

sparsameren Bevölkerung, als »Nachbarn« verzeichnet stehen, und gleich Prinzen vom Geblüte vor

den näheren Seitenverbindungen, so auch ihre Rechte und Verpflichtungen vor den, vielleicht

erst seit ein paar hundert Jahren Näherwohnenden wahren. – Am Tage vor der Hochzeit findet der

»Gabenabend« statt, – eine freundliche Sitte, um den jungen Anfängern über die schwerste Zeit

wegzuhelfen. – Abends, wenn es bereits stark dämmert, tritt eine Magd nach der andern ins

Haus, setzt mit den Worten: »Gruß von unserer Frau«, einen mit weißem Tuche verdeckten Korb

auf den Tisch, und entfernt sich sofort; dieser enthält die Gabe: Eier, Butter, Geflügel,

Schinken – je nach den Kräften eines jeden – und die Geschenke fallen oft, wenn das Brautpaar

unbemittelt ist, so reichlich aus, daß dieses um den nächsten Wintervorrat nicht sorgen darf.

– Eine liebenswürdige, das Volk bezeichnende Höflichkeit des Herzens verbietet die

Überbringung der Gabe durch ein Familienmitglied; wer keine Magd hat, schickt ein fremdes

Kind. – Am Hochzeitmorgen, etwa um acht, besteigt die Braut den mit einer weißen,

goldflunkernden Fahne geschmückten Wagen, der ihre Ausstattung enthält; – sie sitzt allein

zwischen ihren Schätzen, im besten Staate aber ohne besonderes Abzeichen, und weint aufs

jämmerlichste; auch die auf dem folgenden Wagen gruppierten Brautjungfern und Nachbarinnen

beobachten eine ernste, verschämte Haltung, während die, auf dicken Ackergäulen nebenher

trollenden Bursche durch Hutschwenken und hier und dort ein schwerfälliges Juchhei ihre

Lustigkeit auszudrücken suchen, und zuweilen eine alte, blindgeladene Flinte knallen lassen. –

Erst vor der Pfarrkirche findet sich der Bräutigam mit seinem Gefolge ein, besteigt aber nach

der Trauung nicht den Wagen der Braut, sondern trabt als einziger Fußgänger nebenher, bis zur

Türe seines Hauses, wo die junge Frau von der Schwiegermutter empfangen, und mit einem »Gott

segne deinen Aus- und Eingang« feierlich über die Schwelle geleitet wird. – Lebt die Mutter

nicht mehr, so vertritt der Pfarrer ihre Stelle, oder, wenn er zufällig gegenwärtig ist, der

Gutsherr, was für eine sehr glückliche Vorbedeutung gehalten wird, die den Neuvermählten und

ihren Nachkommen den ungestörten Genuß des Hofes sichert, nach dem Spruche: »Wen die

Herrschaft einleitet, den leitet sie nicht wieder heraus.« – Während dieser Zeremonie schlüpft

der Bräutigam in seine Kammer, und erscheint alsbald im Kamisol, Zipfelmütze und

Küchenschürze. In diesem Aufzuge muß er an seinem Ehrentage den Gästen aufwarten, nimmt auch

keinen Teil am Hochzeitmahle, sondern steht, mit dem Teller unterm Arme, hinter der Braut, die

ihrerseits keinen Finger rührt, und sich wie eine Prinzessin bedienen läßt. – Nach Tische

beginnen auf der Tenne die althergebrachten Tänze: »Der halbe Mond«, »Der Schustertanz«,

»Hinten im Garten« – manche mit den anmutigsten Verschlingungen. – Das Orchester besteht aus

einer oder zwei Geigen und einer invaliden Baßgeige, die der Schweinehirt, oder Pferdeknecht

aus dem Stegreif streicht. – Ist das Publikum sehr musikliebend, so kommen noch wohl ein Paar

Topfdeckel hinzu, und eine Kornschwinge, die abwechselnd von den Gästen mit einem Spane aus

Leibeskräften wider den Strich gekratzt wird. – Nimmt man hiezu das Gebrüll und Kettengeklirr

des Viehes, das erschrocken an seinen Ständen stampft, so wird man zugeben, daß die

unerschütterliche Gravität der Tänzer mindestens nicht dem Mangel an aufregendem Geräusche

zuzuschreiben ist. – Hier und dort läßt wohl ein Bursche ein Juchhei los, was aber so einsam

klingt, wie ein Eulenschrei in einer Sturmnacht. – Bier wird mäßig getrunken, Branntwein noch

mäßiger, aber siedender Kaffee »zur Abkühlung« in ganzen Strömen, und mindestens sieben blanke

Zinnkessel sind in steter Bewegung. – Zwischen den Tänzen verschwindet die Braut von Zeit zu

Zeit, und kehrt allemal in einem andern Anzuge zurück, so viel ihr derer zu Gebote stehen, vom

Traustaate an, bis zum gewöhnlichen Sonntagsputze, in dem sie sich noch stattlich genug

ausnimmt, in der damastenen Kappe mit breiter Goldtresse, dem schweren Seidenhalstuche, und

einem so imposanten Körperumfange, als ihn mindestens vier Tuchröcke übereinander

hervorbringen können. – Sobald die Hängeuhr in der Küche Mitternacht geschlagen hat, sieht man

die Frauen sich von ihren Bänken erheben und miteinander flüstern; gleichzeitig drängt sich

das junge Volk zusammen, nimmt die Braut in seine Mitte, und beginnt einen äußerst künstlichen

Schneckentanz, dessen Zweck ist, in raschem Durcheinanderwimmeln immer eine vierfache Mauer um

die Braut zu erhalten, denn jetzt gilt’s den Kampf zwischen Ehe und Jungfrauschaft. – Sowie

die Frauen anrücken, wird der Tanz lebhafter, die Verschlingungen bunter, die Frauen suchen

von allen Seiten in den Kreis zu dringen, die Junggesellen durch vorgeschobene Paare sie

wegzudrängen; die Parteien erhitzen sich, immer rascher wirbelt die Musik, immer enger zieht

sich die Spirallinie, Arme und Kniee werden zu Hülfe genommen, die Bursche glühen wie Öfen,

die ehrwürdigen Matronen triefen von Schweiß, und man hat Beispiele, daß die Sonne über dem

unentschiedenen Kampfe aufgegangen ist; endlich hat eine Veteranin, die schon einige und

zwanzig Bräute in den Ehestand gezerrt hat, ihre Beute gepackt; plötzlich verstummt die Musik,

der Kreis stäubt auseinander, und alles strömt den Siegerinnen und der weinenden Braut nach,

die jetzt zum letzten Male umgekleidet und mit Anlegung der fraulichen Stirnbinde symbolisch

von ihrem Mädchentum geschieden wird, – ein Ehrendienst, was den (sogenannten) Nachbarinnen

zusteht, dem sich aber jede anwesende Ehefrau, die Gattin des Gutsherrn nicht ausgenommen,

durch irgendeine kleine Dienstleistung, Darreichung einer Nadel oder eines Bandes, anschließt.

– Dann erscheint die Braut noch einmal in reinlicher Hauskleidung und Hemdärmeln, gleichsam

eine bezwungene und fortan zum Dienen willige Brünhildis, greift aber dennoch nach ihres

Mannes bereitliegendem Hute, und setzt ihn auf; die Frauen tun desgleichen, und zwar jede den

Hut ihres eigenen Mannes, den er ihr selbst ehrerbietig reicht, und eine stattliche

Frauenmenuett beschließt die Feier und gibt zugleich die Vorbedeutung eines ehrenhaften,

fleißigen, friedlichen Ehestandes, in dem die Frau aber nie vergißt, daß sie am Hochzeittage

ihres Mannes Hut getragen. Noch bleibt den Gästen, bevor sie sich zerstreuen, eine seltsame

Aufgabe, – der Bräutigam ist nämlich während der Menuette unsichtbar geworden, – er hat sich

versteckt, offenbar aus Furcht vor der behuteten Braut, und das ganze Haus wird umgekehrt, ihn

zu suchen; man schaut in und unter die Betten, raschelt im Stroh und Heu umher, durchstöbert

sogar den Garten, bis endlich jemand in einem Winkel voll alten Gerümpels den Quast seiner

Zipfelmütze oder ein Endchen der Küchenschürze entdeckt, wo er dann sofort gefaßt, und mit

gleicher Gewalt und viel weniger Anstand als seine schöne Hälfte der Brautkammer zugeschleppt

wird. – Bei Begräbnissen fällt wenig Ungewöhnliches vor, außer daß der Tod eines Hausvaters

seinen Bienen angesagt werden muß, wenn nicht binnen Jahresfrist alle Stöcke abzehren und

versiechen sollen, weshalb, sobald der Verscheidende den letzten Odemzug getan, sofort der

Gefaßteste unter den Anwesenden an den Stand geht, an jeden Korb pocht und vernehmlich

spricht: »Einen Gruß von der Frau, der Herr ist tot«, worauf die Bienen sich christlich in ihr

Leid finden, und ihren Geschäften nach wie vor obliegen. Die Leichenwacht, die in Stille und

Gebet abgehalten wird, ist eine Pflicht jener entfernten Nachbarn, so wie das Leichenmahl ihr

Recht, und sie sorgen mit dafür, daß der Tote ein feines Hemd erhält, recht viele schwarze

Schleifen, und einen recht flimmernden Kranz und Strauß von Spiegeln, Rauschgold und

künstlichen Blumen, da er unfehlbar am jüngsten Tage in demselben Aufzuge erscheinen wird, wo

sie dann Lob und Tadel mit den Hinterlassenen zu teilen haben. – Der Münsterländer ist

überhaupt sehr abergläubisch, sein Aberglaube aber so harmlos, wie er selber. Von

Zauberkünsten weiß er nichts, von Hexen und bösen Geistern wenig, obwohl er sich sehr vor dem

Teufel fürchtet, jedoch meint, daß dieser wenig Veranlassung finde, im Münsterlande umzugehen.

– Die häufigen Gespenster in Moor, Heide und Wald sind arme Seelen aus dem Fegfeuer, deren

täglich in vielen tausend Rosenkränzen gedacht wird, und ohne Zweifel mit Nutzen, da man zu

bemerken glaubt, daß die »Sonntagsspinnerin« ihre blutigen Arme immer seltener aus dem

Gebüsche streckt, der »diebische Torfgräber« nicht halb so kläglich mehr im Moore ächzt und

vollends der »kopflose Geiger« seinen Sitz auf dem Waldstege gänzlich verlassen zu haben

scheint. – Von den ebenfalls häufigen Hausgeistern in Schlössern und großen Bauernhöfen denkt

man etwas unklar, aber auch nicht schlimm, und glaubt, daß mit ihrem völligen Verschwinden die

Familie des Besitzers aussterben oder verarmen werde. – Diese besitzen weder die häuslichen

Geschicklichkeiten, noch die Tücke anderer Kobolde, sondern sind einsamer, träumerischer

Natur, schreiten, wenn es dämmert, wie in tiefen Gedanken, langsam und schweigend, an

irgendeiner verspäteten Milchmagd oder einem Kinde vorüber, und sind ohne Zweifel echte

Münsterländer, da man kein Beispiel hat, daß sie jemanden beschädigt oder absichtlich

erschreckt hätten. Man unterscheidet sie in »Timphüte« und »Langhüte«. Die ersteren kleine,

runzliche Männchen, in altmodischer Tracht, mit eisgrauem Barte und dreieckigen Hütchen; die

andern übernatürlich lang und hager, mit langem Schlapphut, aber beide gleich wohlwollend, nur

daß der Timphut bestimmten Segen bringt, der Langhut dagegen nur Unglück zu verhüten sucht.

Zuweilen halten sie nur in den Umgebungen, den Alleen des Schlosses, dem Wald- und

Wiesengrunde des Hofes, ihre philosophischen Spaziergänge; gewöhnlich haben sie jedoch

außerdem einen Speicher oder eine wüste Bodenkammer inne, wo man sie zuweilen nachts auf und

abgehen, oder einen knarrenden Haspel langsam umdrehen hört. – Bei Feuerbrünsten hat man den

Hausgeist schon ernsthaft aus den Flammen schreiten und einen Feldweg einschlagen sehen, um

nie wiederzukehren, und es waren dann hundert gegen eins zu wetten, daß die Familie bei dem

Neubau in einige Verlegenheit und Schulden geraten werde.

Größere Aufmerksamkeit als dieses verdient das sogenannte »Vorgesicht«, ein bis zum Schauen

oder mindestens deutlichem Hören gesteigertes Ahndungsvermögen, ganz dem Secondsight der

Hochschotten ähnlich, und hier so gewöhnlich, daß, obwohl die Gabe als eine höchst

unglückliche eher geheimgehalten wird, man doch überall auf notorisch damit Behaftete trifft,

und im Grunde fast kein Eingeborner sich gänzlich davon freisprechen dürfte. – Der Vorschauer

(Vorgucker) im höheren Grade ist auch äußerlich kenntlich an seinem hellblonden Haare, dem

geisterhaften Blitze der wasserblauen Augen, und einer blassen oder überzarten Gesichtsfarbe;

übrigens ist er meistens gesund, und im gewöhnlichen Leben häufig beschränkt und ohne eine

Spur von Überspannung. – Seine Gabe überkömmt ihn zu jeder Tageszeit, am häufigsten jedoch in

Mondnächten, wo er plötzlich erwacht, und von fieberischer Unruhe ins Freie oder ans Fenster

getrieben wird; dieser Drang ist so stark, daß ihm kaum jemand widersteht, obwohl jeder weiß,

daß das Übel durch Nachgeben bis zum Unerträglichen, zum völligen Entbehren der Nachtruhe

gesteigert wird, wogegen fortgesetzter Widerstand es allmählich abnehmen, und endlich gänzlich

verschwinden läßt. – Der Vorschauer sieht Leichenzüge – lange Heereskolonnen und Kämpfe, – er

sieht deutlich den Pulverrauch und die Bewegungen der Fechtenden, beschreibt genau ihre

fremden Uniformen und Waffen, hört sogar Worte in fremder Sprache, die er verstümmelt

wiedergibt, und die vielleicht erst lange nach seinem Tode auf demselben Flecke wirklich

gesprochen werden. – Auch unbedeutende Begebenheiten muß der Vorschauer unter gleicher

Beängstigung sehen: z.B. einen Erntewagen, der nach vielleicht zwanzig Jahren auf diesem Hofe

umfallen wird; er beschreibt genau die Gestalt und Kleidung der jetzt noch ungebornen

Dienstboten, die ihn aufzurichten suchen; die Abzeichen des Fohlens oder Kalbes, das

erschreckt zur Seite springt, und in eine, jetzt noch nicht vorhandene Lehmgrube fällt etc. –

Napoleon grollte noch in der Kriegsschule zu Brienne mit seinem beengten Geschicke, als das

Volk schon von »silbernen Reitern« sprach, mit »silbernen Kugeln auf den Köpfen, von denen ein

langer, schwarzer Pferdeschweif« flattere, sowie von wunderlich aufgeputztem Gesindel, was auf

»Pferden wie Katzen« (ein üblicher Ausdruck für kleine, knollige Rosse) über Hecken und Zäune

fliegen, in der Hand eine lange Stange, mit eisernem Stachel daran. – Ein längst verstorbener

Gutsbesitzer hat viele dieser Gesichte verzeichnet, und es ist höchst anziehend, sie mit

manchem späteren entsprechenden Begebnisse zu vergleichen. – Der minder Begabte und nicht bis

zum Schauen Gesteigerte »hört« – er hört den dumpfen Hammerschlag auf dem Sargdeckel und das

Rollen des Leichenwagens, hört den Waffenlärm, das Wirbeln der Trommeln, das Trappeln der

Rosse, und den gleichförmigen Tritt der marschierenden Kolonnen. – Er hört das Geschrei der

Verunglückten, und an Tür oder Fensterladen das Anpochen desjenigen, der ihn oder seinen

Nachfolger zur Hülfe auffordern wird. – Der Nichtbegabte steht neben dem Vorschauer und ahndet

nichts, während die Pferde im Stalle ängstlich schnauben und schlagen, und der Hund,

jämmerlich heulend, mit eingeklemmtem Schweife seinem Herrn zwischen die Beine kriecht. – Die

Gabe soll sich jedoch übertragen, wenn ein Nebenstehender dem Vorgucker über die linke

Schulter sieht, wo er zwar für dieses Mal nichts bemerkt, fortan aber für den andern die

nächtliche Schau halten muß. – Wir sagen dieses fast ungern, da dieser Zusatz einem

unleugbaren und höchst merkwürdigen Phänomen den Stempel des Lächerlichen aufdrückt. – Wir

haben den Münsterländer früher furchtsam genannt, dennoch erträgt er den eben berührten

Verkehr mit der übersinnlichen Welt mit vieler Ruhe, wie überall seine Furchtsamkeit sich

nicht auf passive Zustände erstreckt. – Gänzlich abgeneigt, sich ungesetzlichen Handlungen

anzuschließen, kömmt ihm doch an Mut, ja Hartnäckigkeit, des Duldens für das, was ihm recht

scheint, keiner gleich, und ein geistreicher Mann verglich dieses Volk einmal mit den Hindus,

die, als man ihnen ihre religiösen und bürgerlichen Rechte schmälern wollte, sich zu vielen

Tausenden versammelten, und auf den Grund gehockt, mit verhüllten Häuptern, standhaft den

Hungertod erwarteten. – Dieser Vergleich hat sich mitunter als sehr treffend erwiesen.

Unter der französischen Regierung, wo Eltern und, nachdem diese ausgeplündert waren, auch

Geschwister mit ihren Habseligkeiten für diejenigen einstehen mußten, die sich der

Militärpflicht entzogen hatten, haben sich zuweilen alle Zweige eines Stammes, ohne Rücksicht

auf ihre unmündigen Kinder, zuerst bis zum letzten Heller exequieren, und dann bis aufs Hemde

auspfänden lassen, ohne daß es einem eingefallen wäre, dem Versteckten nur mit einem Worte den

Wunsch zu äußern, daß er aus seinem Bretterverschlage oder Heuschober hervorkriechen möge, und

so verhaßt, ja entsetzlich jedem damals der Kriegsdienst war, dem manche sogar durch

freiwillige Verstümmelung, z.B. Abhacken eines Fingers, zu entgehen suchten, so häufig trat

doch der Fall ein, daß ein Bruder sich für den andern stellte, wenn er dachte, dieser werde

den Strapazen erliegen, er aber möge noch mit dem Leben davonkommen. – Kurz, der Münsterländer

besitzt den Mut der Liebe, und einer, unter dem Schein des Phlegmas versteckten,

schwärmerischen Religiösität, so wie er überhaupt durch Eigenschaften des Herzens ersetzt, was

ihm an Geistesschärfe abgeht, und der Fremde verläßt mit Teilnahme ein Volk, was ihn zwar

vielleicht mitunter langweilte, dessen häusliche Tugenden ihm aber immer Achtung einflößt, und

zuweilen ihn tief gerührt haben. – Müssen wir noch hinzufügen, daß alles bisher Gesagte nur

das Landvolk angeht? – ich glaube »nein«, Städter sind sich ja überall gleich, Kleinstädter

wie Großstädter. – Oder daß alle diese Zustände am Verlöschen sind, und nach vierzig Jahren

vielleicht wenig mehr davon anzutreffen sein möchte? – Auch leider »nein«, es geht ja überall

so!