Der Pavillon.

Um sieben Uhr befand sich d’Artagnan bei dem Hotel der Garden. Er fand Planchet unter den Waffen. Das vierte Pferd war eingetroffen. Planchet hatte seine Muskete und eine Pistole bei sich. D’Artagnan war mit seinem Degen bewaffnet und steckte zwei Pistolen in seinen Gürtel. Dann schwangen sich beide zu Pferd und zogen geräuschlos ab. Es war finstere Nacht, und Niemand sah, wie sie sich entfernten. Planchet ritt zehn Schritte hinter seinem Herrn.

D’Artagnan ritt über die Quais, zog durch die Porte de la Conference und schlug sodann den reizenden Weg ein, der nach Saint-Cloud führt und damals noch viel schöner war, als heut zu Tage.

So lange man in der Stadt war, hielt sich Planchet in der ehrfurchtsvollen Entfernung, die er sich vorgeschrieben hatte; aber als der Weg öder und dunkler zu werden anfing, näherte er sich ganz sachte, so daß er, als man das Bois de Boulogne erreichte, auf eine ganz natürliche Weise neben seinem Herrn einherzog. Wir können nicht verschweigen, daß die zitternde Bewegung der großen Bäume und der Widerschein des Mondes in dem düsteren Gehölz ihm eine lebhafte Unruhe verursachte. D’Artagnan bemerkte, daß in seinem Bedienten etwas Außerordentliches vorging, und fragte ihn:

»Ei, mein Herr Planchet, was haben wir denn?« – »Findet Ihr nicht, gnädiger Herr, daß die Wälder gerade wie die Kirchen sind?« – »Warum dies, Planchet?« – »Weil man in diesen, wie in jenen nicht laut zu sprechen wagt.« – »Warum wagst Du nicht laut zu sprechen, Planchet? Weil Du Furcht hast?« – »Furcht gehört zu werden, ja, gnädiger Herr.« – »Furcht gehört zu werden? Unser Gespräch ist doch moralischer Natur und Niemand wird etwas dagegen einzuwenden haben!«

»Ach, gnädiger Herr,« versetzte Planchet, auf den in ihm vorherrschenden Gedanken zurückkommend, »daß dieser Herr Bonacieux etwas Duckmäuserisches in seinen Augenbraunen und etwas Widerwärtiges im Spiele seiner Lippen hat, ist gewiß nicht zu läugnen!« – »Wer Teufel heißt Dich an Bonacieux denken?« – »Gnädiger Herr, man denkt, an was man kann, und nicht an was man will.« – »Weil Du ein Hasenherz bist, Planchet.« – »Gnädiger Herr, wir wollen nicht die Klugheit mit der Feigheit verwechseln; die Klugheit ist eine Tugend.« – »Und Du bist tugendhaft, nicht wahr, Planchet?« – »Gnädiger Herr, ist das nicht ein Musketenlauf, was da unten glänzt? Wenn wir uns bückten?«

– »Wahrlich,« murmelte d’Artagnan, der sich an den Rath des Herrn von Treville erinnerte, »wahrlich, dieses Vieh könnte mir am Ende bange machen.« Und er setzte sein Pferd in Trab.

Planchet folgte der Bewegung seines Herrn so genau, als ob er sein Schatten gewesen wäre, und hielt sich trabend an seiner Seite.

»Werden wir die ganze Nacht so marschiren, gnädiger Herr?« fragte er. – »Nein, Planchet, denn Du bist an Ort und Stelle.« – »Wie! ich bin an Ort und Stelle! Und der gnädige Herr?« – »Ich gehe noch einige Schritte.« – »Und der gnädige Herr läßt mich hier allein?« – »Hast Du bange, Planchet?« – »Nein, aber ich erlaube mir zu bemerken, daß die Nacht sehr kalt sein wird, daß die Kühle Rheumatismen verursacht, und daß ein mit Rheumatismus behafteter Lakai ein trauriger Bedienter ist, besonders für einen so rüstigen Mann, wie der gnädige Herr.« – »Wohl, wenn Du frierst, Planchet, so gehe in eine von den Schenken, die Du da unten siehst, und erwarte mich morgen früh um sechs Uhr vor der Thüre.« – »Gnädiger Herr, ich habe den Thaler, den Ihr mir diesen Morgen gegeben, ehrfurchtsvoll verspeist und vertrunken, so daß mir kein elender Sou mehr übrig bleibt, falls ich frieren würde.« – »Hier ist eine halbe Pistole. Morgen also.«

D’Artagnan stieg vom Pferde, warf Planchet den Zügel über den Arm, hüllte sich in seinen Mantel und ging rasch weg.

»Gott wie kalt,« rief Planchet, sobald er seinen Herrn aus dem Gesicht verloren hatte, und um sich so schnell als möglich wieder zu erwärmen, klopfte er eiligst an die Thür eines Hauses, das mit allen Zeichen einer Schenke geschmückt war.

D’Artagnan, der einen kleinen Fußpfad eingeschlagen hatte, setzte mittlerweile seine Wanderung fort und erreichte Saint Cloud, aber statt die Landstraße zu nehmen, wandte er sich hinter das Schloß, ging durch eine ziemlich verborgene Gasse und befand sich bald vor dem bezeichneten Pavillon. Dieser lag an einem völlig öden Ort. Eine große Mauer, an deren Ecke er den Pavillon gewahr wurde, zog sich an der einen Seite dieser Gasse hin, auf der andern beschützte eine Hecke, in deren Hintergrund sich eine elende Hütte erhob, einen kleinen Garten gegen die Vorübergehenden.

Er hatte die Stelle des Rendezvous erreicht, und da man ihm nicht angedeutet hatte, daß er seine Gegenwart durch ein Signal kundgeben sollte, so wartete er.

Nicht das geringste Geräusch ließ sich vernehmen; man hätte in der That glauben sollen, man wäre hundert Meilen von der Hauptstadt entfernt. D’Artagnan lehnte sich an die Hecke, nachdem er einen Blick hinter sich geworfen hatte. Jenseits der Hecke des Gartens und der Hütte hüllte ein düsterer Nebel den unermeßlichen Raum in seine Falten, wo Paris schläft, eine gähnende Leere, in welcher noch einige leuchtende Punkte, düstere Sterne dieser Hölle glänzten.

Aber für d’Artagnan kleideten sich alle diese Ansichten in eine glückliche Gestalt, alle Gedanken hatten ein Lächeln, alle Finsternisse waren durchsichtig. Die Stunde des Rendezvous sollte schlagen. Nach Verlauf einiger Minuten ließ wirklich der Glockenthurm von Saint Cloud langsam zehn Schläge aus seinem blöckenden Rachen fallen. Es lag etwas Trauriges in dieser ehernen, mitten in der Nacht wehklagenden Stimme.

Aber jeder dieser Schläge, welcher die erwartete Stunde bildete, vibrirte harmonisch in dem Herzen des jungen Mannes.

Seine Augen blieben auf den kleinen an der Ecke der Mauer liegenden Pavillon gerichtet, dessen Fenster insgesammt durch Läden verschlossen waren, mit Ausnahme eines einzigen im ersten Stock. Durch dieses Fenster glänzte ein sanftes Licht, welches das zitternde Laubwerk einiger Linden versilberte, die eine Gruppe bildend, sich vor dem Park erhoben. Hinter diesem so anmuthig beleuchteten Fenster erwartete ihn offenbar die hübsche Madame Bonacieux.

Von diesem süßen Gedanken gewiegt, harrte d’Artagnan eine halbe Stunde ohne die geringste Ungeduld, die Augen auf die reizende kleine Wohnung geheftet, von der er theilweise den Plafond mit den vergoldeten Leisten erblickte, welche auf die Eleganz des Uebrigen schließen ließen.

Im Glockenthurm von Saint Cloud schlug es halb elf Uhr. Diesmal durchlief ein Schauer die Adern unsres Helden, ohne daß er begriff, warum. Vielleicht bemächtigte sich die Kälte seiner, und er nahm eine ganz körperliche Empfindung für einen moralischen Eindruck.

Dann kam ihm der Gedanke, er habe schlecht gelesen und das Rendezvous sei erst auf elf Uhr bestimmt.

Er näherte sich dem Fenster, stellte sich in einen Lichtstrahl, zog den Brief aus der Tasche, und las ihn abermals; er hatte sich nicht getäuscht; das Rendezvous war auf zehn Uhr festgesetzt. Er begab sich wieder auf seinen Posten und fing an über diese Stille und Einsamkeit sehr traurig zu werden.

Es schlug elf Uhr.

D’Artagnan begann nun wirklich zu fürchten, es könnte Madame Bonacieux etwas widerfahren sein.

Er schlug dreimal in seine Hände – das gewöhnliche Zeichen der Verliebten – aber Niemand antwortete, nicht einmal das Echo.

Dann dachte er, nicht ohne einen gewissen Aerger, die junge Frau sei vielleicht, während sie ihn erwartete, eingeschlafen. Er näherte sich der Mauer und suchte hinaufzusteigen, aber sie war neu bestrichen und d’Artagnan brach sich vergeblich die Nägel ab.

In diesem Augenblick bemerkte er die Bäume, deren Blätter fortwährend von dem Licht versilbert wurden, und da einer derselben auf den Weg vorsprang, so glaubte er, aus seinen Zweigen würde sein Blick in den Pavillon dringen können.

Der Baum war leicht zu ersteigen. D’Artagnan zählte überdies erst zwanzig Jahre und erinnerte sich seiner Schülerübungen. Sogleich befand er sich mitten unter den Zweigen und durch die durchsichtigen Scheiben tauchten seine Augen in das Innere des Pavillons.

Seltsamer Anblick, der d’Artagnan vom Scheitel bis zur Fußsohle schaudern machte – dieses sanfte Licht, diese ruhige Lampe beleuchtete eine Scene furchtbarer Störung: eine der Fensterscheiben war zerbrochen, die Thüre hatte man eingestoßen und sie hing halb zertrümmert an ihren Angeln, ein Tisch, auf dem ein elegantes Abendbrod gestanden haben mußte, lag auf dem Boden, Scherben von den Flaschen lagen aus dem Fußteppich umher, und zwischen denselben sah man Früchte und Speisen umhergeworfen; Alles zeugte dafür, daß in diesem Zimmer ein heftiger, verzweiflungsvoller Kampf stattgefunden hatte; d’Artagnan glaubte sogar mitten unter diesem seltsamen Durcheinander Fetzen von Kleidern und Blutflecken an dem Tischtuch und an den Vorhängen zu erkennen.

Er beeilte sich mit gräßlichem Herzklopfen wieder auf die Straße herabzusteigen und wollte sehen, ob er keine andere Spuren von Gewaltthat wahrnehmen könnte.

Das sanfte Licht glänzte immer noch in der Stille der Nacht. D’Artagnan bemerkte jetzt, was ihm früher entging, da ihn nichts vorher zu einer näheren Prüfung antrieb, daß der Boden, da und dort eingetreten und durchlöchert, verworrene Spuren von Menschentritten und Pferdehufen zeigte. Ueberdies hatten die Räder eines Wagens, der von Paris zu kommen schien, in der weichen Erde einen tiefen Eindruck ausgehöhlt, der nicht über die Höhe des Pavillons ging und gegen Paris zurückkehrte.

Seine Nachsuchungen weiter verfolgend, fand d’Artagnan in der Nähe der Mauer einen Frauenhandschuh, der jedoch an allen Punkten, wo er die schmutzige Erde nicht berührt hatte, von tadelloser Frische war. Es war in der That einer jener duftenden Handschuhe, wie die Liebenden sie so gerne einer hübschen Hand entreißen.

Je länger d’Artagnan seine Forschungen fortsetzte, desto stärker troff ein eisiger Schweiß von seiner Stirne. Sein Herz schnürte sich in furchtbarerer Angst zusammen, sein Athem wurde keuchend, und dennoch suchte er sich durch den Gedanken zu beruhigen, dieser Pavillon habe vielleicht nichts mit Madame Bonacieux gemein; die junge Frau habe ihn ja vor und nicht in den Pavillon beschieden; sie könnte in Paris durch ihren Dienst, durch die Eifersucht ihres Gatten zurückgehalten worden sein. Aber alle diese Betrachtungen wurden abgeschwächt, zerstört, über den Haufen geworfen durch jenes schmerzliche innere Gefühl, das sich bei gewissen Veranlassungen unseres ganzen Seins bemächtigt und uns durch Alles das, was wir zu hören bestimmt sind, zuruft, daß ein großes Unglück über uns schwebe.

D’Artagnan wurde nun beinahe wahnsinnig; er lief nach der Landstraße, schlug denselben Weg ein, den er bereits gemacht hatte, und ging bis zu der Fähre um den Fährmann zu befragen.

Gegen sieben Uhr Abends hatte der Fährmann eine in einen schwarzen Mantel gehüllte Frau übergesetzt, der viel daran zu liegen schien, daß man sie nicht erkenne, aber gerade wegen der Vorsichtsmaßregel, die sie nahm, betrachtete sie der Fährmann mit größerer Aufmerksamkeit und erkannte, daß es eine junge und schöne Frau war.

Damals, wie heut zu Tage gab es eine Menge junger und schöner Frauen, welche nach St. Cloud kamen, und denen sehr viel daran lag, nicht erkannt zu werden, und dennoch zweifelte d’Artagnan nicht einen Augenblick daran, daß Madame Bonacieux von dem Fährmann erkannt worden war.

D’Artagnan benützte die Lampe, welche in der Hütte des Fährmanns glänzte, um das Billet von Madame Bonacieux noch einmal zu lesen und sich zu überzeugen, daß er sich nicht getäuscht, daß das Rendezvous in St. Cloud, und nicht anderswo, vor dem Pavillon des Herrn d’Estrées und nicht in einer andern Straße stattfinden sollte. Alles wirkte zusammen, um d’Artagnan zu beweisen, daß seine Ahnungen ihn nicht täuschten und daß sich ein großes Unglück ereignet hatte.

Er lief rasch auf dem Weg nach dem Schlosse zurück; er dachte, es sei in dem Pavillon vielleicht etwas Neues vorgefallen, und es müssen ihn Nachrichten dort erwarten.

Die Gasse war immer noch öde und derselbe ruhige, sanfte Schein verbreitete sich aus dem Zimmer. D’Artagnan dachte nun an das blinde und taube Gemäuer, das aber ohne Zweifel gesehen hatte und vielleicht sprechen konnte. Die Thüre des Zauns war geschlossen, aber er sprang über die Hecke und näherte sich der Hütte trotz des Bellens eines Kettenhundes.

Auf die ersten Schläge antwortete Niemand; es herrschte eine Todesstille in der Hütte wie in dem Pavillon; da jedoch diese Hütte seine letzte Zuflucht war, so blieb er beharrlich.

Bald glaubte er im Innern ein leichtes Geräusch zu vernehmen, ein furchtsames Geräusche, ein Geräusch, das zitterte, gehört zu werden.

D’Artagnan hörte nun auf zu klopfen, und bat mit einem Ton so voll Unruhe und Versprechungen, voll Schrecken und Schmeichelei, daß seine Stimme auch den Furchtsamsten beruhigen mußte. Endlich wurde ein alter, wurmstichiger Laden ein wenig geöffnet, aber sogleich wieder geschlossen, als der Schein einer elenden Lampe, welche in einem Winkel brannte, d’Artagnans Wehrgehänge, seinen Degengriff und den Schaft seiner Pistolen beleuchtete. So rasch die Bewegung gewesen war, so hatte d’Artagnan doch Zeit gehabt, flüchtig den Kopf eines Greises wahrzunehmen.

»Um Gottes willen!« rief er, »hört mich. Ich erwarte Jemand, der nicht kommt, und sterbe vor Unruhe. Sollte ein Unglück in der Gegend vorgefallen sein? Sprecht!«

Das Fenster öffnete sich langsam zum zweiten Male und dasselbe Gesicht erschien wieder, nur war es viel bleicher als das erste Mal.

D’Artagnan erzählte ganz unumwunden seine Geschichte beinahe bis auf die Namen. Er sagte, wie er mit einer jungen Frau vor diesem Pavillon hätte Rendezvous haben sollen, und wie er, da sie nicht erschienen, auf eine Linde gestiegen und beim Lampenschein die Zerstörung im Innern des Zimmers gesehen habe.

Der Greis hörte ihm aufmerksam zu und bestätigte durch Zeichen, daß es sich so verhalten müsse. Als d’Artagnan geendigt hatte, schüttelte er den Kopf mit einer Miene, die nichts Gutes andeutete.

»Was wollt Ihr sagen?« rief d’Artagnan. »Ich beschwöre Euch im Namen des Himmels, erklärt Euch.«

»Oh! Herr,« sprach der Greis, »fragt mich nicht; denn wenn ich Euch sagte, was ich gesehen habe, würde es mir sicherlich schlimm ergehen.«

»Ihr habt also etwas gesehen?« versetzte d’Artagnan. »In diesem Falle bitte ich Euch um Gotteswillen,« fuhr er, dem Alten ein Goldstück zuwerfend fort, »sagt, sagt, was Ihr gesehen habt, und ich gebe Euch mein Wort als Edelmann, daß nichts von dem, was Ihr mir mittheilt, über meine Lippen kommen soll.«

Der Greis las in d’Artagnans Gesicht so viel Schmerz und Offenherzigkeit, daß er ihm ein Zeichen gab, er möge hören, und mit leiser Stimme sprach:

»Es war ungefähr neun Uhr; ich vernahm ein Geräusch auf der Straße, und wollte wissen, was das sein könnte, als man sich meiner Thüre näherte und ich sah, daß Jemand hereinzukommen suchte. Da ich arm bin und mich nicht vor Dieben zu fürchten habe, so öffnete ich und erblickte einige Schritte vor mir drei Männer; im Schatten stand ein Wagen mit angespannten Pferden und Reitpferden. Letztere gehörten offenbar den drei Männern, welche als Reiter gekleidet waren.«

»Aber meine guten Herren,« rief ich, »was verlangt Ihr?«

»Du mußt eine Leiter haben,« sprach derjenige von ihnen, welcher der Anführer der Escorte zu sein schien.

»Ja Herr, diejenige, mit welcher ich mein Obst pflücke.«

»Gib sie uns, und geh wieder in Deine Hütte; hier ist ein Thaler für die Störung. Erinnere Dich jedoch, daß Du, wenn Du ein Wort von dem sagst, was Du sehen oder hören wirst (und Du wirst sehen und hören, wie sehr wir Dich auch bedrohen mögen), daß Du, sage ich, verloren bist.«

»Bei diesen Worten warf er mir einen Thaler zu, den ich aufhob, und nahm meine Leiter.

»Nachdem ich die Thüre der Hecke hinter ihnen verschlossen hatte, stellte ich mich wirklich, als kehrte ich in das Haus zurück, aber ich ging sogleich wieder durch eine Hinterthüre hinaus, schlüpfte in den Schatten, und es gelang mir, das Hollundergebüsch zu erreichen, aus dem ich Alles sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden.

»Die drei Männer hatten den Wagen ohne Geräusch vorfahren lassen und zogen einen kleinen, dicken, kurzen, ärmlich gekleideten Mann heraus, welcher vorsichtig die Leiter hinaufkletterte, duckmäuserisch in das Innere des Zimmers schaute, leise wieder herabstieg und mit gedämpfter Stimme murmelte:

»Sie ist es!«

»Sogleich näherte sich derjenige, welcher mit mir gesprochen hatte, der Pavillonthüre und öffnete sie mit einem Schlüssel, den er bei sich trug, verschloß die Thüre wieder und verschwand. Zu gleicher Zeit stiegen die zwei Anderen die Leiter hinauf. Der kleine Alte blieb am Kutschenschlag, der Kutscher hielt die Wagenpferde und ein Lakai die Reitpferde.

»Plötzlich ertönte ein gewaltiges Geschrei in dem Pavillon. Eine Frau lief an das Fenster und öffnete es, als wollte sie sich hinausstürzen. Aber sobald sie die zwei Männer erblickte, warf sie sich zurück; die zwei Männer sprangen ihr ins Zimmer nach.

»Nun sah ich nichts mehr, aber ich hörte ein Getöse, wie wenn Möbel zerschlagen würden. Die Frau kreischte und schrie um Hülfe. Bald wurde ihr Geschrei erstickt. Die drei Männer näherten sich, die Frau in ihren Armen tragend, dem Fenster. Zwei stiegen auf der Leiter herab und brachten sie in den Wagen, in den der kleine Alte nach ihr hineinkletterte. Derjenige, welcher im Pavillon geblieben war, verschloß das Fenster wieder, trat einen Augenblick nachher zur Thüre heraus und überzeugte sich, daß die Frau im Wagen gut untergebracht war; seine zwei Gefährten erwarteten ihn bereits zu Pferde. Er sprang ebenfalls in den Sattel; der Lakai nahm seinen Platz neben dem Kutscher; der Wagen entfernte sich, von den drei Reitern geleitet, im Galopp, und Alles war vorüber. Von diesem Augenblick an habe ich nichts mehr gehört, nichts mehr gesehen.«

Niedergeschmettert von einer so furchtbaren Kunde, blieb d’Artagnan stumm und unbeweglich, während in seinem Innern alle Teufel des Zorns und der Eifersucht wütheten.

»Aber, mein edler Herr,« versetzte der Greis, auf den diese Verzweiflung eine größere Wirkung hervorbrachte, als wenn er geschrieen und geweint hätte; »laßt Euch doch nicht vom Schmerz so sehr niederbeugen, sie haben sie Euch nicht getödtet, das ist die Hauptsache.«

»Wißt Ihr vielleicht,« sprach d’Artagnan, »wer der Mann ist, der diese höllische Expedition anführte?«

»Ich kenne ihn nicht.«

»Aber da er mit Euch sprach, so konntet ihr ihn doch wohl sehen?«

»Ah! Ihr verlangt sein Signalement von mir.«

»Ja.«

»Ein großer, magerer Mann von schwärzlicher Gesichtsfarbe, mit schwarzem Schnurrbart, schwarzen Augen und dem ganzen Wesen eines Edelmanns.«

»Der ist es!« rief d’Artagnan, »abermals er! immer er! das ist mein böser Dämon, wie es scheint! Und der Andere?«

»Welcher?«

»Der Kleine.«

»Ah! das ist kein vornehmer Herr! Dafür stehe ich. Auch trug er keinen Degen, und die Andern behandelten ihn durchaus nicht mit Achtung.«

»Irgend ein Lakai,« murmelte d’Artagnan. »Oh! arme Frau, arme Frau! Was haben sie mit Dir gemacht?«

»Ihr habt mir Geheimhaltung versprochen,« sagte der Greis.

»Ich erneuere Euch mein Versprechen. Seid unbesorgt, ich bin ein Edelmann. Ein Edelmann hat nur sein Ehrenwort, und ich habe Euch das meinige gegeben.«

Mit tief verwundeter Seele schlug d’Artagnan wieder den Weg nach der Fähre ein. Bald konnte er nicht glauben, daß es Madame Bonacieux gewesen, und er hoffte sie am andern Tage wieder im Louvre zu finden; bald befürchtete er, sie könnte einen Liebeshandel mit einem Andern haben, und ein Eifersüchtiger habe sie überfallen und entführt. Er schwankte, er wüthete, er verzweifelte.

»O wenn meine Freunde hier wären!« rief er, »dann hätte ich wenigstens Hoffnung, sie wieder zu finden, aber wer weiß, was aus ihnen geworden ist?«

Es war beinahe Mitternacht, und er mußte Planchet aufsuchen. D’Artagnan ließ sich nach und nach alle Schenken öffnen, in denen er etwas Licht bemerkte. In keiner derselben fand er Planchet. Bei der sechsten bedachte er, daß die Nachforschung etwas gewagt war. D’Artagnan hatte seinen Bedienten erst auf sechs Uhr Morgens bestellt, und derselbe befand sich in seinem Rechte, wo er auch sein mochte. Ueberdieß kam dem jungen Manne der Gedanke, daß er, wenn er in der Nähe des Ortes bliebe, wo das Ereigniß vorgefallen war, vielleicht einige Aufklärung über die geheimnißvolle Geschichte erhalten würde. In der sechsten Schenke blieb d’Artagnan also, verlangte eine Flasche Wein erster Qualität, und zog sich in den dunkelsten Winkel zurück, entschlossen hier den Tag zu erwarten. Aber auch diesmal wurde er in seiner Hoffnung getäuscht, und obgleich er mit gespitzten Ohren horchte, vernahm er doch mitten unter den Flüchen, den Späßen und den Grobheiten, welche die Arbeiter, Lakaien und Fuhrleute, in deren ehrenwerthe Gesellschaft er gerathen war, einander zuwarfen, durchaus nichts, was ihn auf die Spur der entführten Frau bringen konnte. Nachdem er also, um kein Aufsehen zu erregen, seine Flasche in aller Muße geleert hatte, mußte er in seinem« Winkel eine möglichst entsprechende Lage suchen und wohl oder übel schlafen. D’Artagnan zählte, wie man sich erinnern wird, erst zwanzig Jahre, und in diesem Alter hat der Schlaf unverjährbare Rechte, die er gebieterisch auch von dem verzweiflungsvollsten Gemüthe fordert.

Gegen sechs Uhr Morgens erwachte d’Artagnan mit jener Unbehaglichkeit, welche gewöhnlich bei Tagesanbruch nach einer schlechten Nacht eintritt. Seine Toilette machte ihm nicht lange zu schaffen; er betastete sich, um sich zu überzeugen, daß man seinen Schlaf nicht zu einer Beraubung benützt hatte, und als er seinen Diamant am Finger, seine Börse in der Tasche und seine Pistolen im Gürtel fand, stand er auf, bezahlte seine Flasche und ging hinaus, um nachzusehen, ob ihn das Glück beim Aufsuchen seines Lakaien am Morgen nicht mehr begünstigen würde, als in der Nacht. Das Erste, was er durch den feuchten, graulichen Nebel erblickte, war wirklich der ehrliche Planchet, der ihn, die zwei Pferde an der Hand, vor der Thüre einer kleinen Winkelschenke erwartete, vor welcher d’Artagnan vorübergegangen war, ohne nur ihr Dasein zu ahnen.