Rudolfs Verlangen, Frankreich zu verlassen und in fremdem Lande in den Kampf zu ziehen, fand rasch Erfüllung. Der Herzog von Beaufort 14 – auch ein alter Bekannter der vier Musketiere – rüstete für Ludwig eine Flotte und ein Heer aus, um einen Eroberungszug in Nordafrika zu unternehmen. Bei ihm war nun Athos Fürsprecher für seinen Sohn, und Beaufort ernannte Rudolf, von dem er durch den Prinzen von Condé schon viel Gutes gehört hatte, zu seinem Adjutanten. Er sandte ihn nach Toulon, um dort Mannschaft anzuwerben und die Schiffe segelfertig zu machen. Rudolf trat ohne Säumen die Reise an, und Athos begleitete ihn, um den Abschied noch so lange wie möglich hinauszuschieben.

Ehe Vater und Sohn Blois verließen, sahen sie Aramis und Porthos wieder, die auf der Flucht nach Belle-Ile waren. Der Bischof konnte in Blois keine Pferde auftreiben. Da der Herzog von Beaufort gerade in dieser Gegend Mannschaften anwarb, so hatte man ihm alle brauchbaren Pferde zugeführt. Die Flüchtlinge waren in größter Verlegenheit, als sich d’Herblay des Grafen de la Fère erinnerte, dessen Schloß nur ein kurzes Stück von Blois entfernt war. Ihr Besuch konnte freilich nur von kurzer Dauer sein, da sie es eilig hatten. Dennoch fand Aramis Zeit, Athos alles, was geschehen war, zu erzählen. Athos war sprachlos, aber er zauderte nicht, seinen Freunden die besten Gäule zu geben, die er besaß, und schied mit herzlichem Händedruck, namentlich von Porthos, der sich in seinen Mantel wickelte mit den Worten: »Nicht wahr, ich bin ein Glückskind? Der König wird mich zum Herzog machen.« – Denn Aramis hatte ihn noch immer nicht dem Wahne entrissen, daß alles, was sie täten, im Dienste Ludwigs XIV. geschähe.

Rudolfs Wunde war noch nicht vernarbt, obwohl Athos alle Ueberredungskünste aufbot, ihm begreiflich zu machen, daß der Schmerz über eine erste Untreue kaum jemals einem Liebenden erspart bleibe. Bragelonne konnte es nicht fassen. – »Ich werde mich nie,« sagte er immer wieder, »an den Gedanken gewöhnen, Luise, die reinste, offenherzigste der Frauen, habe einen so ehrbaren und aufrichtig liebenden Mann, wie ich bin, in so niedriger Weise betrügen können. Luise soll eine schamlose Mätresse sein? Ach, mein Vater, das ist ein Gedanke, der mir das Herz zerreißt, der mich noch töten wird.«

Da wandte Athos ein verzweifeltes Mittel an. Er verteidigte Luisens Verrat. – »Hätte sie sich in den König verliebt, nur weil er der König ist, dann würde sie verdienen, eine schändliche Dirne genannt zu werden. Aber sie liebt ihn, weil er jung und schön ist. Sie hat ihre Schwüre, er seinen Rang vergessen. Die Liebe entschuldigt alles, Rudolf.«

Solche Gespräche führten sie auf ihrer Reise nach Toulon. Sie machten 50 Meilen und mehr am Tage. In vierzehn Tagen waren sie am Ziel. Unterwegs erfuhren sie von einem königlichen Offizier, der mit einem geheimnisvollen Gefangenen nach Toulon gekommen sei. Verschiedene Einzelheiten ließen Athos vermuten, daß es sich hier nur um d’Artagnan handeln könne; und da er von Aramis die Geschichte des mißlungenen Staatsstreichs kannte, so lag der Schluß nahe, daß der Gefangene eben jener mysteriöse Zwillingsbruder Ludwigs XIV. sei, der auf Befehl des Königs von dem Kapitän der Musketiere ins Exil gebracht würde. Er hütete sich indessen die Spur mit auffälligem Eifer zu verfolgen, da er d’Artagnan dadurch zu schaden fürchtete. In Antibes verloren sie die Spur, um sie auf ganz überraschende Weise wiederzufinden. Der Graf de la Fère beschloß einen Abstecher nach der Insel Santa Margareta zu machen, in der Hoffnung, dort mit seinem alten Freunde zusammenzutreffen, dem auch Rudolf vor seiner Reise nach Afrika noch einmal die Hand schütteln wollte.

Santa Margareta ist unbewohnt, und als Athos und Rudolf den Fuß an den Strand setzten, glaubten sie, ein kleines Paradies zu betreten, beim Anblick des breiten Gürtels von früchteschweren Orangen- und Feigenbäumen, der das Gestade säumte. Bei jedem Schritt, den sie landeinwärts machten, stoben Rebhühner oder wilde Kaninchen auf. Die einzigen Menschen, die dort lebten, waren der Gouverneur und eine acht Mann zählende Besatzung, die das kleine Fort mit den acht verrosteten Kanonen innehatten. Dieser Gouverneur war also ein glücklicher Pflanzer, der Weintrauben, Feigen, Oliven und Apfelsinen erntete, ohne daß sein Garten ihm Mühe gemacht hätte. Einen guten Nebenverdienst bezog er aus seinen Beziehungen zu den Schmugglern, denen er in den Buchten des Eilands insgeheim Unterschlupf gewährte.

Athos und Rudolf schritten ein Weilchen längs des Zaunes hin, der den Garten umschloß, doch trafen sie niemand, der sie zum Gouverneur hätte führen können. In einiger Entfernung – zwischen dem zweiten und dem dritten Hofe – sah Athos einen Soldaten gehen, der einen Korb auf dem Kopfe trug und im Schatten des Schilderhauses verschwand. Der Graf glaubte, der Mann habe jemand etwas zu essen gebracht, und hoffte, er werde zurückkommen, so daß man ihn rufen könnte. Da hörte er selbst ein Geschrei und sah im Rahmen eines Fensters etwas Weißes, wie eine Hand, sich bewegen und im selben Augenblick etwas Blendendes, einer Waffe gleich, aufzucken und durch die Luft fliegen. Eine silberne Platte fiel zu ihren Füßen in den Sand, und Rudolf hob sie rasch auf. Sein Auge fiel sogleich auf eine am Boden der Schüssel eingekratzte Schrift, und er las folgende Worte in französischer Sprache:

»Ich bin der Bruder des Königs von Frankreich – heute gefangen, morgen wahnsinnig. Französische Edelleute und Christen, betet zu Gott für die Seele und den Verstand des unglücklichen Sohnes Ludwig XIII.«

Rudolf ließ die Schüssel fallen. Gleichzeitig erklang ein Schrei vom Turme der kleinen Festung herüber. Bragelonne bückte sich blitzschnell und zwang seinen Vater dasselbe zu tun. Ein Musketenrohr zeigte sich über der Brüstung, ein Schuß fiel, und eine Kugel schlug dicht neben den beiden Reisenden in den Sand. Nach einigen Minuten erklang ein Trommelwirbel, und dann marschierten aus dem Tor die acht Musketiere der Festung, rückten vor, machten sich schußfertig und legten auf Befehl eines Offiziers auf die fremden Männer an.

»Donnerwetter!« schrie Athos. »Werden hier französische Kavaliere meuchlings niedergeknallt?« – Als der Offizier diese Stimme hörte, hob er rasch die Hand, befahl den Soldaten die Waffen zu senken und eilte mit dem Rufe: »Athos! Rudolf!« heran. Es war d’Artagnan, der sie im nächsten Augenblick an die Brust drückte. »Was bedeutet das?« fragte Athos erstaunt. »Potzblitz, ich wollte euch erschießen lassen, Freunde,« antwortete d’Artagnan. »Eine Sekunde noch, und ihr wart geliefert. Ein Glück, daß ich euch erkannt habe!«

»Aber warum schoß man überhaupt auf uns?« – »Wetter noch einmal, Sie haben zur Hand genommen, was der Gefangene Ihnen zuwarf,« erwiderte d’Artagnan. »Und er hatte etwas darauf geschrieben!« Mit diesen Worten bückte sich der Kapitän nach der Schüssel und las die Inschrift. »O, mein Gott!« rief er. »Sie sind verloren, wenn der Gouverneur ahnt, daß Sie das hier haben lesen können, daß Sie es verstanden haben. Ich werde Sie für Spanier ausgeben, die kein Wort Französisch können. Das ist das einzige Mittel, Sie vorm Tode oder im besten Falle vor ewiger Gefangenschaft zu retten.«

»So ist es wahr, was man über diesen Gefangenen spricht?« murmelte Athos. Doch d’Artagnan unterbrach ihn unruhig. »Still, um Gotteswillen!« rief er. »Dort kommt der Gouverneur. Mein Herr,« wandte er sich an diesen, »ich stelle Ihnen hier zwei spanische Kapitäne vor, die ich neulich in Ypern kennen gelernt habe.« – »Sehr wohl,« sagte der Gouverneur mit einer Verbeugung, nahm die Schüssel und wollte selbst die Schrift lesen, als d’Artagnan ihm die Platte rasch entriß und die Buchstaben mit der Spitze seines Degens zerkratzte. – »Was tun Sie da?« rief der Gouverneur. »Darf ich das nicht lesen?«

»Es ist Staatsgeheimnis,« erwiderte der Musketier. »Sie wissen, laut Befehl des Königs ist jeder, der in dieses Geheimnis eindringt, mit dem Tode zu bestrafen. Wenn Sie wollen, lasse ich Sie gern lesen, aber gleich darauf erschießen.« – Athos und Rudolf standen schweigend daneben und gaben sich den Anschein, als verständen sie nichts, so sehr erstaunt sie auch waren über das, was sie gehört hatten. – »Und sollten die Herren kein Wort verstanden haben?« meinte der Gouverneur. – »Wenn Sie auch Brocken von dem, was wir sprechen, verstehen, so ist alles Geschriebene ihnen doch ein Rätsel,« antwortete der Gaskogner schlagfertig. »Es ist Ihnen ja wohl auch bekannt, ein adeliger Spanier darf nicht lesen lernen.«

Der Gouverneur mußte sich damit zufrieden geben. Allein er war zähe. »Die Herren werden mir die Ehre geben, mit mir im Fort zu dinieren,« sagte er. – »Ich wollte sie eben selbst dazu auffordern,« sagte d’Artagnan, der in Wahrheit seine Freunde so rasch wie möglich von der Insel wegbringen wollte. – Im Fort angelangt, traf der Gouverneur einige Anordnungen zur Bewirtung seiner Gäste, und Athos benutzte diesen Augenblick des Alleinseins, um d’Artagnan um Aufklärung zu bitten.

»Da ist nicht viel zu erklären,« sagte der Chevalier. »Ich habe einen Gefangenen hierher gebracht, den niemand sehen und sprechen darf. Er hat sich nun mit Ihnen in Verbindung zu setzen gewußt, und infolgedessen –. Aber Sie glauben natürlich nicht an den Unsinn, den dieser Mensch geschrieben hat?« – »Ich glaube doch daran,« antwortete Athos. »Umsonst haben doch Sie nicht den strengen Befehl erhalten, jedermann zu töten, der in dieses Geheimnis eindringt. Warum solche Maßregeln, wenn nichts dahinter steckt? Der König will nicht, daß das Volk erfahre, auf wie schändliche Weise er und seine Familie diesen unglücklichen Sohn Ludwigs XIII. aus dem Wege geräumt haben.«

»Ah, Freund, glauben Sie doch nicht solche Ammenmärchen, sonst widerrufe ich, daß ich Sie für einen verständigen Mann halte,« sagte d’Artagnan. »Weshalb sollte ein Sohn Ludwigs XIII. nach der Insel Santa Margareta geschafft werden?« – »Danach fragen Sie Aramis,« antwortete Athos. – »Aramis?« rief der Musketier verblüfft. »Haben Sie mit Aramis gesprochen?« – »Ja, ich sah ihn und Porthos auf ihrer Flucht nach Belle-Ile, und Aramis hat mir alles erzählt.«

»Nun, da sehen Sie wieder, wie erbärmlich es mit der menschlichen Weisheit beschaffen ist,« brummte der Gaskogner. »Ein nettes Geheimnis, das schon etwa zwanzig Menschen bekannt ist. Mag kommen, was Gott gefällt! Ich habe die dunkle Ahnung, als müßten alle, die mit diesem Geheimnis verknüpft sind, eines elenden Todes sterben! Aber was hat Sie überhaupt hierhergeführt?«

»Wir kamen, um Ihnen Lebewohl zu sagen,« antwortete der Graf. – »Wie das? Geht Rudolf fort?« – »Ja, mit Herrn von Beaufort nach Afrika.« – »Er ist noch immer traurig?« – »Zu Tode betrübt,« sprach Athos, »und er wird daran sterben.« – D’Artagnan schwieg und kaute an seinem Schnurrbart. »Warum lassen Sie ihn reisen?« fragte er. – »Weil er will.« – »Und warum gehen Sie nicht mit ihm?« – »Ich will ihn nicht sterben sehen. Sie wissen, Freund, es gibt wenig, wovor ich mich fürchte, aber wenn ich daran denke, ich müßte eines Tages die Leiche meines Sohnes sehen, so packt mich eine namenlose Angst.«

»Wie? Sie, der Mann, der alles gesehen hat, was der Mensch auf dieser Welt überhaupt sehen kann, Sie fürchten sich davor, Ihren Sohn tot zu sehen? Freund, der Mensch muß hienieden auf alles gefaßt sein, alles hinnehmen, allem kühn entgegentreten.« – »Ich bin alt und lebensmüde geworden, Freund,« erwiderte Athos »Ich mache mir nichts daraus, selbst zu sterben; aber ich sehe nicht gern die, die ich liebe, dahingehen. Wer stirbt, gewinnt, wer sterben sieht, verliert. Und ganz genau zu wissen, man wird denjenigen, den man über alles liebt, niemals wiedersehen – ach ja, ich bin eben alt, es fehlt mir an Mut. Doch ich will Gott nicht lästern, es ist schon genug, einem König geflucht zu haben.«

»Hm!« brummte d’Artagnan, überrascht über die Tiefe dieses Schmerzes, denn er hatte nicht geglaubt, daß »die Geschichte mit der kleinen Lavallière« ein so tragisches Ende nehmen sollte. – »Sehen Sie ihn nur an,« fuhr Athos fort. »Wie traurig er dreinschaut. Wie finster, wie furchtbar entschlossen. Er hat seine Rechnung gemacht, und es ist nichts mehr daran zu ändern. Er flieht den Hof, Paris, Frankreich, um nichts mehr zu sehen, weil er nicht will, daß seine Liebe in ihm sterbe. Er will das Mädchen, das die Gottheit seiner Jugend gewesen, in Ewigkeit liebbehalten, und deshalb geht er allem aus dem Wege, was etwa angetan sein könnte, sie vom Altar seines Herzens herabzustoßen.«

Sie schwiegen, denn Rudolf trat zu ihnen. Er hatte abseits gesessen und, in Gedanken versunken, zum Fenster hinausgeblickt. – »Herr d’Artagnan,« sprach er leise, »Sie kehren nach Paris zurück. Darf ich Sie um einen Dienst bitten? Wollen Sie Fräulein von Lavallière meinen letzten Gruß bringen?« – D’Artagnan nickte. »Was soll ich ihr sagen?« – »Die letzten Worte, die ich ihr sende,« antwortete Rudolf, »sind diese: Statt Ihnen zu fluchen, liebe ich Sie noch immer und sterbe.« – D’Artagnan sah auf. Er wollte Einspruch erheben, doch Rudolf ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Sie werden ihr das sagen, nicht wahr?« drang er in ihn. – »Gewiß, gewiß, doch wann?« – »An dem Tage,« erwiderte Rudolf, »an welchem Sie ihr auch das Datum meines Todes angeben können.« – Darauf trat er rasch wieder zur Seite.

Der Gouverneur ging vorüber, und d’Artagnan zog seine Freunde in eine dunkle Ecke. – »Was gibt es wieder?« fragte Athos. – »Sie werden den Gefangenen sehen,« flüsterte d’Artagnan, »er kommt eben aus der Kapelle zurück.« –

Und im Scheine eines Wetterleuchtens, das den Himmel purpurrot färbte, sah man sechs Schritte hinter dem Gouverneur, ernst und langsam, einen jungen Mann schreiten, der schwarz gekleidet war und vor dem Gesicht eine Maske aus braunem Stahl trug, die mit einer den ganzen Kopf umschließenden, fest angelöteten Kappe aus dem gleichen Metall zusammenhing. Das Feuer des Himmels zeichnete matte Reflexe auf der blanken Oberfläche ab, und dieses Funkeln schien die grimmigen Blicke darzustellen, die der Unglückliche statt der Flüche schleuderte.

Der Jüngling blieb stehen und sah nach dem Horizont, atmete die laue Regenluft ein und stieß einen Seufzer aus, der wie ein tiefes Stöhnen klang. »Kommen Sie!« rief der Gouverneur ungeduldig. »Kommen Sie, Monsieur!« – »Sagen Sie Monseigneur!« rief Athos aus der Ecke hervor, in so feierlichem Tone, daß der Gouverneur heftig erschrak. Athos forderte Ehrfurcht vor der gefallenen Majestät. – »Wer hat gesprochen?« rief der Gouverneur. – »Ich,« sagte d’Artagnan und trat rasch vor. »Sie wissen, so lautet der Befehl.«

»Nennen Sie mich weder Monsieur noch Monseigneur,« sprach der Gefangene mit einer Stimme, die Rudolf im Innersten erschütterte und rührte; »nennen Sie mich Verfluchter!« – Und er ging weiter; die eiserne Pforte schloß sich hinter ihm. – »Dieser Mensch,« murmelte Rudolf, ihm nachschauend, »ist noch hundertmal unglücklicher als ich!«

  1. Siehe den Roman: Zwanzig Jahre nachher (von Dumas, übersetzt von Dr. Herman Eiler), S. 135 ff.