In einer Verkleidung, die ihn halb als herrschaftlichen Diener, halb als Bauer erscheinen ließ, ritt d’Artagnan in jenem Teil der bretonischen Küste, der der »schönen Insel«, oder Belle-Ile, gegenüberlag, von einem Fischerdorf zum andern, überall die Augen aus, überall die Ohren gespitzt. Es währte nicht lange, so hatte er festgestellt, daß in diesem Lande Herr Fouquet König, ja Gott war. Am meisten fielen ihm die vielen Barken auf, die mit Steinladungen nach Belle-Ile hinüberfuhren. »Herr Fouquet bessert alle Jahre die Schloßmauer aus,« sagte man ihm, als er ganz im Tone eines neugierigen Provinzlers, der zum ersten Male das Treiben am Meeresstrande beobachtet, die Leute fragte. In dem Dorfe Croissic beschloß er, einen Kahn zu suchen, der ihn nach Belle-Ile hinüberbringen könnte. Er ging vorsichtig zu Werke, um ja keinen Verdacht zu erregen, und schlenderte stundenlang hin und her, ehe er sich endlich, wie einer, der sich nach langem Bedenken zu etwas entschließt, wovon er sich kein rechtes Vergnügen verspricht, das er aus Neugierde aber doch mitmachen möchte, an ein paar Fischer wendete mit der Frage, ob sie ihn mal auf eine kleine Fahrt mitnehmen möchten.
»Warum nicht, Mann?« antwortete der Patron des Kahnes. »Wir warten nur auf die Flut, dann gehn wir auf den Fang.« – »Wo fischt ihr denn heute?« – »Drüben bei Belle-Ile.« – »Ist das weit von hier?« – »Vier Meilen.« – »O, das ist ja schon eine kleine Reise. Da werde ich wohl seekrank werden, was meint Ihr?« – »Das kann schon sein. Aber wenn’s zu schlimm kommt, können wir Euch ja in Belle-Ile an Land setzen,« meinte der Fischer. – »Darf man denn dort landen?«
»Wir dürfen,« war die Antwort, »wir verkaufen oft unsere Fische an die Korsaren.« – »An was für Korsaren?« fragte der Gaskogner. – »Herr Fouquet rüstet zwei Korsarenschiffe aus, um auf die Holländer und die Engländer Jagd zu machen.« – »Sieh da,« dachte der verkappte Musketier. »Er baut Festungswerke und hält Korsarenschiffe, da hat der König vielleicht doch nicht unrecht. Fouquet ist, soweit ich ihn kenne, ein Feind, vor dem man allen Respekt haben muß. Ich will ihn scharf aufs Korn nehmen.«
Die Flut kam, die Barke ging in See. In zwei Stunden war sie schon außer Sicht des Landes. Die Fischer gingen ihrem Handwerk nach, und es fiel ihnen nicht auf, daß ihr Passagier, obwohl die See ziemlich hoch ging, nicht die geringste Spur von Seekrankheit zeigte. Sie machten einen guten Fang an Schellfischen und Meeraalen und erklärten, der Fremde brächte ihnen Glück. D’Artagnan half schließlich beim Heraufholen der Netze mit und vergaß über den Fischfang ganz seine politische Mission, bis der Patron ihn daran erinnerte, indem er aufs Meer hinauszeigte. »Belle-Ile!« sagte er. – D’Artagnan ließ einen großen Aal, der sich zwischen seinen Fingern wand, entwischen, fuhr herum und sah in geringer Entfernung dunkelgraue Felsen emporragen, die von den weißen Mauern eines prachtvollen Schlosses gekrönt waren. Die Mittagssonne warf goldene Strahlen aufs Meer, und die Zauberinsel war von schimmernder Atmosphäre umhüllt, in der die jenseits des Schlosses sich erstreckenden Wiesen und Waldungen verschwammen. Er stand im Anschauen verloren, aber bald besann er sich, daß es seines Amtes nicht sei, landschaftliche Schönheiten zu bewundern, und er ließ sein Auge forschend an der Insel entlangwandern. Da erkannte er alsbald, daß tatsächlich Festungswerke gebaut wurden.
»Potzblitz,« rief er plötzlich, »da sind ja auch Soldaten!« – »Natürlich,« antwortete der Fischer. »Es liegen 1700 Mann auf der Insel. Jede einzelne Garnison ist mit 22 Kompagnien Infanterie besetzt.« – »Alle Wetter!« dachte d’Artagnan. »Ich glaube immer mehr, der König hat recht.«
Die Barke landete, und während die Fischer mit ihrem Kahn und ihrem Fang beschäftigt waren, entfernte sich d’Artagnan langsam und unauffällig von ihnen und schlenderte am Strande entlang. Rings sah er Barken, mit Steinen beladen, und überall gingen die Schubkarren hin und her. Die Ausdehnung der Bauarbeiten konnte d’Artagnan vorläufig nicht übersehen. Welchem Zweck sie dienten, darüber war er als Soldat keinen Augenblick im Zweifel. An den beiden Enden des Hafens waren zwei Batterien errichtet, von denen aus die Landungsstellen ins Kreuzfeuer genommen werden konnten. Die Batterien schienen zur Aufnahme schwerer Geschütze bestimmt, doch waren diese selbst noch nicht da, obwohl alle Vorbereitungen zu ihrer Aufstellung schon getroffen waren.
Nachdem d’Artagnan die Küstenbatterien betrachtet, wendete er seine Aufmerksamkeit auf die Festungswerke und unterschied, daß diese nach einem ganz neuen System angelegt waren, welches ihm der Graf de la Fère einmal eingehend erläutert hatte. Das Neue an dieser Bauart war, daß die Werke nicht als Schanzen über den Erdboden emporragten, sondern in Form von Gräben unterhalb des Niveaus lagen, so daß sie feindlichen Geschützen kein Ziel boten. Zugleich hatten sie den Vorteil, daß sie jederzeit durch Schleusen vom Meere aus unter Wasser gesetzt werden konnten. Die Arbeiten waren beinahe beendet, die Leute legten die letzten Steine auf, unter dem Befehl eines Mannes, der den ganzen Bau zu leiten schien. Er trug ein prächtiges Wams, an dem man gleich erkannte, daß er nicht zu der Klasse der Leute gehörte, die er beaufsichtigte. Er hatte einen Federhut, und vor ihm auf einem Steine lag ein Plan, nach welchem er die Arbeiten anordnete. Er betrachtete eben sechs Männer, die alle Kraft aufboten, um einen gewaltigen Stein ein wenig zu lüften und ein Querholz unterzuschieben. Der Stein war ihnen aber schon zweimal aus den Händen geglitten, ohne daß sie ihn hoch genug hatten heben können, um Raum für den Balken zu schaffen. Der Mann mit dem Federhut verlor die Geduld und trat hinzu.
»Ihr seid samt und sonders schlappe Kerle!« rief er. »Macht Platz! Ich will euch zeigen, wie man das anzustellen hat.« – »Alle Wetter!« dachte d’Artagnan, »er will doch nicht etwa den Steinkoloß allein heben?« – Die Arbeiter traten kopfschüttelnd auf die Seite; der Ingenieur bückte sich, legte die Hände an den Stein, spannte die herkulischen Muskeln und hob den Quaderstein mit der Ruhe und Sicherheit einer Maschine vom Boden auf. Der Arbeiter schob rasch den Hebebaum darunter. – »Alle Wetter!« rief d’Artagnan unwillkürlich. »Ich kenne nur einen, der so etwas fertig bringt.« – »Was?« fragte der bärenstarke Mensch und drehte sich um.
»Porthos!« rief der Gaskogner. »Porthos in Bellelle!« – Der Mann mit dem Federhut sah die spießbürgerliche Gestalt an, die vor ihm stand, und erkannte sie trotz der Verkleidung. – »D’Artagnan!« rief er. Die beiden Freunde hatten sich erkannt und wußten im selben Moment auch, daß ein jeder sein besonderes Geheimnis hatte, das er nicht gern preisgeben wollte. – »Was zum Teufel hat Porthos in Belle-Ile zu suchen?« Diese Frage legte sich d’Artagnan vor, doch ohne sie laut auszusprechen. – Porthos jedoch, der kein so feiner Diplomat war wie der Gaskogner, dachte mit Worten. »Was zum Teufel haben Sie in Belle-Ile zu suchen?« fragte er, und da mußte d’Artagnan wohl oder übel sofort antworten.
»Ei, meiner Treu,« lachte er, »Sie suche ich hier.« Und ehe sein Freund Zeit hatte, darüber nachzudenken, setzte er hinzu: »Ich habe Sie in Pierrefonds aufgesucht. Und da ich Sie nicht fand –« – »Aber Mousqueton kann Ihnen doch nicht gesagt haben, daß ich hier bin. Er weiß es ja selber nicht.« – »Das schon, allein ein so vornehmer Herr wie Sie hinterläßt doch, wenn er auf Reisen ist, eine Spur, nach der man sich richten kann, und die hat mich hierher geführt.« – »Wie kann ich eine Spur hinterlassen haben?« versetzte Porthos, »bin ich doch verkleidet hergereist.« – »So, so?« meinte d’Artagnan, »Sie haben sich verkleidet?« – »Ja, als Müller, und ich habe meine Rolle sehr gut gespielt. Wie konnten Sie mich da auffinden?« – »Jenun, ich habe Sie eben doch gefunden. Nur nicht ungeduldig!« antwortete d’Artagnan. »Aramis hatte Ihnen doch einen Brief nach Pierrefonds geschrieben, und darin stand, Sie möchten vor der Tag- und Nachtgleiche zur Stelle sein, nicht wahr?« – »Das ist richtig.« – »Na also!« schloß d’Artagnan, als wenn diese Worte die selbstverständlichste Lösung des Rätsels enthielten. – Porthos schien seinen Geist gewaltig anzustrengen. »Ach so, nun verstehe ich,« sagte er endlich. »Aramis hatte mir geschrieben, und nun sagten Sie sich, wo Aramis ist, da ist auch Porthos. Sie suchten einfach zu erfahren, wo Aramis stecke; und da Sie herausbrachten, daß er in der Bretagne weilte, so war es für Sie klar, daß ich auch in der Bretagne sei.« – »Getroffen, Freund! Daß Sie nun gerade in Belle-Ile seien, das wußte ich allerdings nicht. Ich hatte nur von den prachtvollen Bauten gehört, die hier aufgeführt würden, und bin aus Neugierde einmal herübergefahren.« – Die beiden Freunde schlossen sich noch einmal in die Arme, und Porthos drückte den Chevalier so fest an die Brust, daß ihm alle Luft ausging. – »Noch immer alle Kraft in den Armen!« stöhnte d’Artagnan, als er ihn losließ, und bei sich selbst setzte er hinzu: »Ich werde also hier kein leichtes Spiel haben.«
»Warum haben Sie sich denn in so einen Spießbürgerkittel gesteckt?« fragte Porthos; aber der Gaskogner war glücklicherweise auf diese Frage gefaßt. »Ich bin jetzt Spießbürger und kleide mich nur standesgemäß.« – »Sie als Musketier?« – »Bin ich nicht mehr – habe den Abschied genommen.« – Porthos schlug die Hände zusammen. »Das ist ja erstaunlich!« rief er. »Und warum das?« – »Der König gefiel mir nicht – da warf ich meinen Reitermantel ins Unkraut. Mein erstes, nachdem ich frei geworden, war, zu Ihnen nach Pierrefonds zu eilen.« – »Sieh da, sieh da!« rief Porthos. »Brauchen Sie vielleicht Geld – in diesem Falle wissen Sie –«
»Danke, bin versehen. Ich habe nämlich mein Erspartes bei Planchet angelegt, und der zahlt mir Zinsen dafür. Sie staunen? Warum soll ich nicht ebensogut wie andere Leute sparen? Natürlich ist’s nicht so viel, wie Sie, der Herr Baron du Vallon, haben; denn Sie sind ja ein Millionär. Aber 200 000 Livres ist auch schon ganz hübsch.« – »Wo haben Sie denn diesen Reichtum her?« rief Porthos verblüfft. – »Das werde ich Ihnen später erzählen. Erst erzählen Sie mal –«
»Ich erzählen? Was denn?« – »Na, zum Beispiel, wie Aramis –« – »Ach so, wie Aramis Bischof von Vannes wurde –« – »So, so? Aramis ist Bischof von Vannes? Er hat doch eben Glück, der Aramis.« – »Ja, und obendrein, was ihm noch in Aussicht steht.« – »Was denn? Soll er etwa gar Kardinal werden?« – »Es ist ihm bestimmt versprochen worden.« – »Vom König?« – »Von jemand, der noch mächtiger ist als der König.« – »Also von Fouquet. So, so! Der hat ihm den Kardinalshut versprochen? Sagen Sie doch –« Aber Porthos nahm eine sehr zurückhaltende Miene an, und d’Artagnan hielt es für besser, dem Gespräch eine Wendung zu geben. Er sah sich rings um und sagte dann: »Die Festungswerke, die Sie da bauen, sind ganz prachtvoll. Sie sind doch der Bauleiter, vermute ich, der geniale Ingenieur, der dieses Rattennest uneinnehmbar macht?« – Porthos warf sich in die Brust. – »Ich kann nur staunen und bewundern,« fuhr d’Artagnan fort. »Ich hoffe, Sie zeigen mir alles genau.« – »Das ist leicht,« antwortete du Vallon, »hier ist der Plan.« Und er beugte sich über den Stein und erklärte seinem Freunde die ganze Anlage. D’Artagnan erfuhr auf diese Weise jede Einzelheit. Während er den Bauriß betrachtete, erkannte er unter den imposanten Schriftzügen des Barons eine feine, zierliche Handschrift, die mit Radiergummi fast ganz ausgemerzt worden war. Bei diesem Anblick erinnerte er sich gewisser an Marie Michon adressierter Briefe, die er vor vielen Jahren zu Gesicht bekommen hatte. – »So,« sagte Porthos, faltete den Plan zusammen und steckte ihn ein, »nun wissen Sie alles.« – »Nur noch eins!« antwortete d’Artagnan. »Wer ist der Herr, der dort unten auf und ab geht?« – »Das ist Gétard, der Architekt des Hauses.« – »Des Hauses? Sie sagen das, als wären Sie hier zu Hause? Gehören Sie denn zu Fouquets Haushalt?« – Porthos biß sich auf die Lippe. »Wieso?« versetzte er verdrießlich. »Gétard ist Fouquets Architekt, damit gut. Mit den Festungswerken hat er gar nichts zu tun, die sind ganz meine Sache. Wollen wir jetzt zu Tisch gehn?« – »Einverstanden!« – »Doch, um es gleich zu sagen, ich habe nur zwei Stunden Zeit.« – »Dann müssen wir uns danach einrichten,« sagte der Chevalier. »Aber warum nur zwei Stunden?« – »Weil um ein Uhr die Flut kommt und ich dann nach Vannes fahre,« antwortete der Baron. – »Um Aramis zu besuchen?« rief der Gaskogner. »Hollah, da komme ich mit – wie lange dauert die Reise?« – »Sechs Stunden. Drei zu Wasser bis Sarzeau, und drei zu Lande von Sarzeau bis Vannes.« – »Sehr bequem. Da Sie so nahe sind, gehen Sie wohl öfter nach Vannes?« – »Alle Woche einmal,« antwortete du Ballon. – »Hm,« meinte d’Artagnan, zu sich selbst sprechend, »ich glaube, ich kenne jetzt den wahren Urheber dieser Befestigungswerke.«
Zwei Stunden später trat Flut ein, und d’Artagnan und Porthos fuhren zusammen nach Sarzeau hinüber. Die Fahrt ging auf einem jener leichtgebauten Korsarenschiffe, von denen der Chevalier schon unterwegs gehört hatte, leicht und rasch von statten. Es war dem schlauen Gaskogner nicht schwer zu entdecken, daß sein Freund Porthos von Staatsgeheimnissen nicht viel wußte. Diese Unkenntnis der herrschenden Verhältnisse war bei Porthos keine Verstellung, das wußte d’Artagnan; denn wenn der Baron in irgend etwas eingeweiht gewesen wäre, so hätte er damit nicht hinterm Berge halten oder doch seine Mitwissenschaft gegen die schlauen Kreuz- und Querfragen des Gaskogners nicht wirksam verteidigen können. – »In Vannes,« dachte der Chevalier, »werde ich in einer halben Stunde mehr erfahren, als ich von Porthos in zwei Monaten erfahren könnte. Allerdings muß ich dafür sorgen, daß meine Ankunft den guten Aramis unvorbereitet trifft.«
In Sarzeau standen zwei Pferde bereit, die Aramis für Porthos und dessen Knappen hingeschickt hatte. Der Knappe blieb zurück, und d’Artagnan nahm das Pferd für sich. – »Als Gäule eines Bischofs sind sie sehr gut,« meinte der Chevalier. »Aramis ist freilich ein Bischof, wie man selten einen findet.« – »Ein gar frommer Mann!« sprach Porthos in näselndem Tone, indem er die Augen gen Himmel kehrte. – »Dann hat er sich offenbar sehr geändert,« sagte der Chevalier. »Wir haben ihn doch als einen ziemlich sündhaften Kumpan gekannt.«
»Das Licht der Gnade ist über ihn gekommen,« warf du Vallon hin. – »Sehr gut!« rief der Gaskogner. »Ich bin begierig, ihn wiederzusehen.«
Sie plauderten von dem und jenem, vom Lande, vom Wetter, von ihren Pferden, von sich selbst, bis du Ballon die Hand ausstreckte und rief: »Da ist Vannes.«
»Sieh da – gar kein übles Nest,« sagte d’Artagnan. – »Ich finde es düster,« meinte der Baron. »Der Turm dort ist die Kathedrale, die Peterskirche – links davon, mehr am Rande des Ortes, ist Sankt-Paternus, Aramis‘ Lieblingskirche. Das große, weiße Gebäude mit den vielen Fenstern ist das Jesuiten-Kolleg, und daneben das große Haus mit den Türmchen, das ist die Wohnung unsers Freundes. Aramis wohnt nämlich lieber in der Vorstadt, und außerdem ist der eigentliche Bischofssitz eine Ruine. Aramis‘ Haus liegt hart am Wasser, und wenn unser Korsarenschiff nicht acht Schuh Tiefgang hätte, dann hätten wir mit vollen Segeln bis unter seine Fenster fahren können.«
Sie ritten in die Vorstadt ein und bemerkten zu ihrer Verwunderung, daß die Straßen mit Blumen und frischen Blättern bestreut waren. Teppiche hingen zu den Fenstern heraus, und alle Häuser schienen leer zu sein, als ob sämtliche Bewohner sich an einem bestimmten Punkt der Stadt versammelt hätten. Es währte nicht lange, so schlug Gesang an das Ohr der Reiter. Dann sah man eine bunt geputzte Menschenmenge erscheinen, und leichte Wolken von Weihrauch stiegen in die Luft. Darüber hinweg waren die Prozessionsfahnen und das Kruzifix zu erkennen. Soldaten mit Blumensträußen auf den Bajonettspitzen, Mädchen in Weißen Kleidern eröffneten den feierlichen Zug einer Prozession. Eine Schar von kirchlichen Würdenträgern, Jesuiten und Dominikanern begleitete den Baldachin, unter dem ein Mann mit blassem, edlem Gesicht, schwarzen Augen, schwarzem, schon von silbernen Fäden durchzognem Haar und ausdrucksvollem Munde einherging. Die Bischofsmütze verlieh diesem majestätischen Antlitz das Gepräge der Hoheit und Strenge.
»Aramis!« rief der Musketier unwillkürlich, als diese stolze Erscheinung an ihm vorüberging. – Der Prälat stutzte, sah rasch nach der Seite, von wo dieser Ruf kam und erkannte sofort Porthos und d’Artagnan. Ein flüchtiges Erröten huschte über seine Wangen, dann sah er wieder so streng und gebieterisch aus wie zuvor. Aber hinter dieser Ruhe seines Antlitzes verbarg sich nun der Gedanke: »Was will d’Artagnan hier?« – Denn Aramis war noch immer der Alte und hatte stets irgendein Geheimnis zu behüten. Der Blick des Gaskogners hatte ihm verraten, daß sein Freund ein Spürhund geworden war, vor dem er sich in acht zu nehmen hatte.
»Ein guter Mensch!« murmelte Porthos. »Sehen Sie nur, wie rasch er jetzt geht. Er beeilt sich, um möglichst bald zu seinen Freunden zu kommen. Er sehnt sich danach, uns zu begrüßen.« – D’Artagnan antwortete nicht. Bei sich selber aber sagte er: »Er hat mich nun gesehen, der Fuchs, und kann sich bequem auf die Unterredung mit mir vorbereiten.« – Sie begaben sich unverzüglich zum bischöflichen Palast und warteten dort. Nach zehn Minuten erschien Aramis wie ein Triumphator, die Soldaten präsentierten wie vor einem General, und die Bürger begrüßten ihn auf seinem Wege mehr wie einen Freund und Gönner als wie ein kirchliches Oberhaupt. D’Artagnan achtete auf alle Vorgänge mit größter Aufmerksamkeit. »Porthos ist dicker, Aramis aber größer geworden,« dachte er bei sich.