Inzwischen hatte der falsche König in Vaux seine Rolle weitergespielt. Er gab Befehl, zu dem Morgenempfange die Herrschaften hereinzulassen, die im Vorzimmer warteten. Er entschloß sich, diesen Befehl zu erteilen, obwohl d’Herblay nicht da war. Da der Prinz nichts davon wußte, daß d’Herblay überhaupt nicht wiederkommen würde, so wollte er ohne seinen Schutz und Rat kühn den Anfang machen. Er ließ daher die Türflügel öffnen, und mehrere Personen traten ein. Er hatte ja seit einigen Tagen das Benehmen seines Bruders sorgfältig studiert und ahmte nun den König so trefflich nach, daß niemand Verdacht schöpfen konnte. Nun sah er Anna von Oesterreich, seine Mutter, zugleich mit Monsieur und Madame, näherkommen. Hinter ihnen zeigte sich Saint-Aignan.
Philipp betrachtete seine Mutter. Er fand sie schön und glaubte in den Furchen ihres Antlitzes noch jetzt Spuren des Schmerzes zu entdecken, den ihr das Opfer eines Sohnes bereitet hatte. Er gelobte sich, sie zu lieben und seine Qualen nicht entgelten zu lassen. Mit Rührung musterte er seinen Bruder. Von ihm hatte er ja nichts zu fürchten. Man konnte ihn als Nebenzweig am Stamme wachsen lassen; denn ihm war es genug, Geld zu haben und dem Vergnügen zu leben; er kannte keine ehrgeizigen Pläne.
Mit leichtem Beben reichte er Lady Henriette die Hand. Ihre Schönheit entzückte ihn, aber in dem kalten Blick ihrer Augen las er etwas, das ihn warnte, vor ihr auf der Hut zu sein. – Er fürchtete, die Königin würde kommen, doch ließ sie sich glücklicherweise entschuldigen.
Anna von Oesterreich begann zu sprechen. Sie ließ sich über den Empfang aus, den Herr Fouquet dem Hause Frankreich bereitet hätte, ohne dabei aus ihrer Feindseligkeit gegen ihn ein Hehl zu machen. Dann erkundigte sie sich unter allerlei kleinen mütterlichen Schmeicheleien nach dem Befinden des Königs. Zum Schlusse fragte sie, ob er sich noch weiter mit jenen Rechnungen und Quittungen Mazarins befaßt habe.
»Saint-Aignan,« sprach Philipp, »erkundigen Sie sich nach dem Befinden der Königin.« Es waren seine ersten Worte, und das Ohr der Mutter hörte der Stimme eine leichte Verschiedenheit gegen die Stimme ihres andern Sohnes an. Sie faßte Philipp scharf und fest ins Auge. Er hielt dem Blicke stand und fuhr fort: »Hoheit, ich höre nicht gern Schlechtes über Herrn Fouquet. Sie wissen das recht wohl.« – »Ich habe ja auch nur gefragt, wie Sie über ihn denken,« antwortete Anna.
»Sire,« ließ sich Henriette vernehmen, »ich habe Herrn Fouquet immer gern gehabt. Er ist ein wackerer Mann und hat auch einen sehr guten Geschmack.« – »Ich habe auch gar nichts gegen ihn,« setzte Monsieur hinzu. »Er ist kein Geizhals. Alle Anweisungen werden bar ausgezahlt, und man bekommt von ihm soviel Geld, wie man haben will.« – »Es rechnet eben hier jeder zuviel für sich,« warf die alte Königin ein, »niemand denkt dabei an den Staat. Und Herr Fouquet, das wird niemand leugnen, richtet den Staat zugrunde.« – »O, Mutter!« rief Philipp dazwischen, »legen auch Sie eine Lanze für Herrn Colbert ein? Es ist ja, als hörte man Ihre alte Freundin, die Frau von Chevreuse, reden.«
Anna von Oesterreich erblaßte und biß sich auf die Lippe. »Was sagen Sie da von Frau von Chevreuse?« versetzte sie. »Und wie sind Sie nur heute gegen mich gelaunt?« – »Frau von Chevreuse hatte immer gegen irgendwen zu intrigieren, Mutter,« erwiderte Philipp. »Und hat Sie Ihnen nicht letztens einen Besuch gemacht?« – »Sie sprechen zu mir in einer Weise, daß ich Ihren Vater zu hören glaube,« sagte Anna gekränkt. – »Mein Vater haßte Frau von Chevreuse, und mit Recht,« antwortete Philipp. »Ich kann sie auch nicht leiden, und sollte sie sich sehen lassen, um, wie ehemals, Zwietracht zu säen, unter dem Vorwande, Geld zu erbetteln, so würde ich –« – »Nun, was denn?« fuhr Anna von Oesterreich stolz auf. – »So würde ich sie aus dem Lande jagen, und mit ihr alle Geheimniskrämerei!«
Er hatte die Tragweite dieses furchtbaren Wortes nicht ermessen oder wollte vielleicht dessen Wirkung prüfen. Anna von Oesterreich schien einer Ohnmacht nahe; sie starrte ihn fassungslos an und streckte die Arme aus, als suche sie einen Halt. Ihr Sohn eilte zu ihr und drückte sie an die Brust.– »O, wie grausam Sie heute gegen mich sind!« stammelte sie. – »Ich spreche ja nur von Frau von Chevreuse, weil ich weiß, daß Sie Geldes wegen zu Ihnen gekommen ist und Ihnen ein gewisses Geheimnis verkaufen wollte.« – »Ein gewisses Geheimnis –?« stieß Anna hervor, von neuem schreckensbleich.
»Ja, ein Geheimnis, das Herrn Fouquet betrifft,« fuhr Philipp fort. »Es soll sich dabei um eine Unterschlagung handeln, aber das ist alles falsch. Frau von Chevreuse kam erst zu Herrn Fouquet selbst und ging dann zu Herrn Colbert. Nicht zufrieden damit, daß sie von ihm für das angebliche Geheimnis 200 000 Livres erhalten, ging sie noch zu Ihnen und versuchte auch an dieser Stelle etwas zu erpressen. Ich habe also wohl recht, wenn ich dieser Furie zürne. Wenn Gott gewisse Verbrechen begehen ließ, welche bis jetzt unbestraft blieben, und wenn Gott sie in den Schatten seiner Nachsicht hüllte, so werde ich es nicht dulden, daß Frau von Chevreuse sich anmaßt, die Absichten Gottes zu durchkreuzen.«
Die letzten Worte erschütterten die Königin-Mutter tief. Ihr Sohn fühlte Mitleid mit ihr und küßte ihre Hand; doch sie ahnte nicht, daß er ihr mit diesem Kusse die entsetzlichen Leiden verzieh, die er durch ihre Schuld acht Jahre lang hatte ertragen müssen.
Rings herrschte Schweigen, dann sprach Philipp in heiterem Tone: »Wir reisen heute noch nicht ab. Ich habe es mir anders überlegt. Sie, liebe Mutter, sollen erst mit Herrn Fouquet Frieden schließen.« – »Ich bin ihm ja gar nicht böse,« antwortete sie. »Ich fürchte nur seine Verschwendungssucht.« – Der Pseudokönig sah sich um, er suchte d’Herblay, auf den er mit lebhafter Ungeduld wartete. Lady Henriette glaubte, die Blicke beträfen die Lavallière, die vermißt würde, und um den König zu peinigen, fragte sie spitz: »Wen suchen denn Majestät?«
»Liebe Schwester,« antwortete er, »ich warte auf einen ausgezeichneten Mann, einen sehr geschickten Ratgeber, den ich Ihnen allen vorstellen möchte. Ah, d’Artagnan, treten Sie näher!«
Der Musketier kam herein. – »Wo ist denn Ihr Freund, der Bischof von Vannes?« fragte Philipp. »Ich warte auf ihn, man soll ihn holen.« – D’Artagnan war verblüfft, denn man hatte ihm gesagt, Herr d’Herblay sei in geheimer Mission weggeschickt worden. Er vermutete nun, der König wünsche, daß niemand etwas davon erfahre, und antwortete: »Sire, wünschen Sie dringend Herrn d’Herblay –?« – »Dringend ist nicht das rechte Wort,« unterbrach ihn der König. »Es wäre mir lieb, ihn zu sehen, aber es hat keine Eile. Ich wünsche auch mit Herrn Fouquet zu sprechen.«
Herr von Saint-Aignan kehrte mit befriedigenden Nachrichten von der Königin zurück, die, abgesehen von einer leichten Unpäßlichkeit, sich durchaus wohl fühlte. Es war Philipp sehr lieb, daß sie nicht kam – aber es war ihm nicht lieb, daß Aramis noch immer nicht erschien. Die Unterredung kam ins Stocken. Mit seinen Gedanken und Besorgnissen beschäftigt, vergaß Philipp, die königliche Familie zu verabschieden, und die Herrschaften wurden ungeduldig. Anna von Oesterreich wandte sich gegen ihren Sohn und flüsterte ihm ein paar Worte auf spanisch zu. – Philipp erschrak und wurde blaß; denn diese Sprache verstand er gar nicht.
In diesem kritischen Augenblick geschah etwas völlig Unerwartetes. Das Zimmer war von Halbdunkel erfüllt, da die dicht zugezogenen Vorhänge das Licht nicht hereinließen. Die Königin-Mutter hielt Philipp bei der Hand und wartete auf eine Antwort. Madame lehnte gähnend in ihrem Stuhl. Monsieur zupfte gelangweilt an seinen Manschetten. Da erschien auf der Türschwelle Herr Fouquet, sah herein, ohne daß man ihn bemerkte, lüftete die Portiere und ließ Ludwig XIV. eintreten.
Philipp, dessen Blick auf die Tür geheftet war, da er auf Aramis wartete, erblickte sein Ebenbild und stieß einen Schrei aus. Alle Anwesenden sahen nach der Tür. Inzwischen war Herr Fouquet blitzschnell zu den Fenstern gelaufen und hatte die Vorhänge zurückgerissen, so daß mit einem Male das volle Tageslicht jäh den Saal durchflutete. Ludwig XIV. war bis in die Mitte vorgeschritten und maß mit brennendem Blicke seinen Zwillingsbruder.
Anna von Oesterreich sah von einem zum andern. Die Aehnlichkeit zwischen diesen beiden Männern war so vollständig, daß man glauben konnte, der eine sei nur ein Spiegelbild, nur ein zauberischer Reflex des andern. Daher las man auch auf allen Gesichtern maßlose Verwunderung und Verwirrung, und in diesem Moment mag wohl keiner der Anwesenden gewußt haben, welcher von den beiden eigentlich der König sei.
Fouquet teilte dieses Erstaunen, sah er doch den Usurpator zum ersten Male. Aramis hatte recht gehabt! Der Minister erkannte auf den ersten Blick, daß der falsche König ebenso reinen Blutes sei, wie Ludwig XIV., und daß er, Fouquet, ein Narr gewesen, den genial angelegten Staatsstreich des Jesuitengenerals zu vereiteln. In diesem Augenblick, wo alle, die an dieser Szene teilnahmen, von verworrenen Gedanken und Vorstellungen ergriffen wurden, sagte sich Fouquet, daß Ludwig XIV., der Undankbare, die edelmütige Tat nicht verdiene, durch die er ihm das Leben rettete und sich selbst, da er gerettet war, aufs neue ins Verderben stürzte. Je vollendeter die Aehnlichkeit sei, um so größer sei ja in den Augen Ludwigs die Schuld und das Verbrechen der Täter und aller, die irgendwie daran beteiligt gewesen.
Ludwig XIV. unterbrach plötzlich das todesbange Schweigen, das auf jenen allgemeinen Schrei der Verblüffung gefolgt war. Er trat vor Anna von Oesterreich hin, die nun die ganze Wahrheit begriff, und rief: »Mutter, erkennen Sie Ihren Sohn nicht, da hier keiner den König zu erkennen scheint?« – Darauf wandte sich auch Philipp, an allen Gliedern bebend, zu der Königin-Witwe und rief, die Arme ausbreitend: »Mutter, erkennen Sie Ihren Sohn nicht?« – So standen beide vor der unglücklichen Frau, die nur einen neuen Schrei ausstoßen konnte und dann ohnmächtig wurde. Ludwig vermochte diese Szene, die er als tödlichen Schimpf empfand, nicht länger zu ertragen. Er stürzte auf d’Artagnan zu, der wie traumverloren an der Wand lehnte und sich das ganz tolle Unternehmen, das Aramis da ausgeführt hatte, klarzumachen versuchte.
»Musketier! Her zu mir!« schrie Ludwig. »Sehen Sie uns beiden ins Gesicht! Wer ist bleicher, er oder ich?« – D’Artagnan fuhr auf. Er bewegte den Kopf, als wenn er etwas Schweres von sich schüttelte. Dann trat er an Philipp heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: »Monsieur! Sie sind verhaftet.«
Philipp rührte sich nicht vom Fleck. Er sah starr seinen Bruder an und warf ihm in einem erhabenen Schweigen all das Unglück, all das Elend vor, das er schon erduldet hatte, das er in Zukunft noch erdulden sollte. Gegenüber dieser stummen Sprache verließ den König die Kraft. Er zog seinen andern Bruder, den Herzog von Orléans, und Henriette mit sich fort und vergaß seine Mutter, die in ihrem Stuhle lag und ihren bedauernswerten Sohn zum zweiten Male verdammen ließ.
Der Unglückliche trat zu ihr hin und sprach: »Wenn ich nicht Ihr Sohn wäre, würde ich Ihnen fluchen, daß Sie mich solches Elend erleiden lassen!« – D’Artagnan hörte diese Worte, und ein Schauer rieselte ihm durchs Gebein. Er verneigte sich vor dem jungen Prinzen und sprach tiefergriffen: »Monseigneur, halten zu Gnaden – ich bin Soldat, nichts weiter. Ich habe dem, der eben hinausging, den Treueid geleistet.« – »Dank, Herr d’Artagnan! Doch was ist mit Herrn d’Herblay geschehen?« – »Er ist in Sicherheit,« antwortete eine Stimme. »Und solange ich lebe, wird niemand ihm ein Leid tun.«
»Herr Fouquet!« rief der Prinz und lächelte traurig. – »Monseigneur!« sprach der Minister, sich auf ein Knie niederlassend. »Verzeihen Sie mir, aber jener, der eben hinausgegangen ist, war mein Gast.« – »Wackere Freunde und edle Herzen!« murmelte der Prinz. »Ach, eine Welt, wo es das gibt, muß doch schön sein. Vorwärts, d’Artagnan, ich gehöre Ihnen.« – Colbert trat herein und überreichte d’Artagnan einen Befehl. Der Musketier las das Papier und zerknitterte es. – »Was ist es?« fragte der Prinz. – Da reichte der Kapitän es ihm, und Philipp las: »Herr d’Artagnan hat den Gefangenen nach der Insel Santa-Margareta zu bringen und ihm eine eiserne Maske vors Gesicht zu legen, welche festgelötet werden soll, so daß der Gefangene sie zeit seines Lebens nicht abnehmen kann.«
»Ich bin bereit,« sprach Philipp resigniert.
»Aramis hatte recht,« flüsterte Herr Fouquet dem Musketier ins Ohr. »Dieser hat ebensoviel von einem König wie der andere.« – »Mehr noch,« versetzte d’Artagnan. »Nur fehlen ihm Leute wie ich und Sie.«