D’Artagnan hatte sich reisefertig gemacht und von seinem Freunde Athos Abschied genommen. Gemäß der Einteilung, die er sich für die ihm bis zum Aufbruch noch übrigen Stunden zurechtgelegt hatte, begab er sich nun, begleitet von Rudolf, mit dem er ein paar Tagereisen zusammen machen wollte, nach dem Wirtshause ›Notre-Dame‹, um von seinem Pächter den fälligen Mietszins einzukassieren. Er hatte gehört – denn die Ausrufer hatten es in der ganzen Stadt verkündet – daß zwei betrügerische Finanzpächter, zwei Erzdiebe und Halsabschneider, am frühen Morgen dieses Tages auf dem Grèveplatz vom Leben zum Tode befördert werden sollten, und wollte nun diese günstige Gelegenheit, die sicherlich seinem Pächter eine volle Gaststube verschaffen würde, benützen, sich sein Geld von ihm zahlen zu lassen. Als der Chevalier und Rudolf auf dem Grèveplatz anlangten – es war gegen halb 2 Uhr nachts – wimmelte es dort schon von Menschen, und es war schwer vorwärtszukommen. Sie bahnten sich mit Ellbogen und Degengefäß mühsam einen Weg durch die Kopf an Kopf gedrängte Menge und erreichten endlich den Eingang zu dem Wirtshaus ›Notre-Dame‹.
Der Chevalier musterte mit Befriedigung die vollen Bänke. »Da hat der Wirt keinen Vorwand,« sagte er zu Rudolf, »mir die Pacht nicht zu zahlen. Volles Haus, volle Börse.« – »Und all dieses Volk ist nur da, um zwei arme Kerle baumeln zu sehen. Pfui Teufel!« murmelte Rudolf. – D’Artagnan hielt den Wirt, der geschäftseifrig hin und her lief, am Schürzenzipfel fest. – »Ah, Sie sind’s, Herr Chevalier!« rief der Mann. »Nur einen Augenblick! Hier sind hundert durstige Seelen – ich kann nicht genug herbeischaffen. Ihr Pachtgeld liegt oben, aber in dem Zimmer sitzen auch dreißig Kumpane, die seit heute früh ein Fäßchen Portwein ausgetrunken haben. Eine Minute, Herr Chevalier!« – »Ich gehe fort,« sagte Rudolf, »das alles ist mir zuwider.« – »Du bleibst, Junge,« versetzte d’Artagnan. »Ein Soldat muß sich an alles gewöhnen. Ein jugendliches Auge muß sich abhärten. Wir treten dort in den Hof unter den hohen Baum, da haben wir frische Luft.«
Hätte der Chevalier sich als Vorposten aufstellen wollen, so hätte er keinen günstigeren Platz wählen können. Von hier aus entging ihnen nichts – ja, sie hörten jeden Ausruf, sahen jede Gebärde der Zecher im Gasthause. – »Die Delinquenten werden gleich kommen,« sagte Rudolf. »Sie haben den Wirt wieder laufen lassen, und wir werden nun doch warten müssen, bis die Hinrichtung vorüber ist. Das ist mir gar nicht lieb. Ich sehe so etwas nun einmal nicht gern.« – »So schau nach der andern Seite,« sagte d’Artagnan und betrachtete mit argwöhnischem Blick einen kriegerisch aussehenden Mann, der eben an ihnen vorbeischritt und in das Gasthaus trat. Das Schreien und Toben drinnen hörte auf, die Zechenden scharten sich um den Ankömmling, der eine Ansprache an sie zu halten schien. Dann entfernten sich die Leute gruppenweise, und nur sechs von ihnen blieben zurück. Während der Unbekannte den Wirt auf die Seite zog und ein ernstes Gespräch mit ihm führte, zündeten die sechs Männer ein großes Feuer im Kamin an, was bei dem warmen Wetter dieses Tages sehr auffallend war.
»Sonderbar,« meinte d’Artagnan, »diese Gesichter kommen mir bekannt vor.« – »Riecht es nicht nach Rauch?« fragte Rudolf. – »Ja, es scheint brenzlig werden zu wollen,« murmelte der Chevalier. »Das sieht fast aus wie Verschwörung.« – Im selben Augenblick traten vier der Zurückgebliebenen in den Hof und stellten sich, scheinbar unabsichtlich, bei der Verbindungstür auf. Sie sahen ganz aus, als wollten sie Schildwache stehen. – »Du, Rudolf,« flüsterte der Chevalier. »Hier liegt was in der Luft.« – Er zog mit diesen Worten seinen jungen Freund in die Gaststube. Als die beiden letzten Gäste sie eintreten sahen, stießen sie einander an. »Verstärkung!« flüsterte einer von ihnen. – »Ja, Kameraden, Verstärkung,« sagte d’Artagnan, sich umdrehend. »Ein brillantes Feuer! Was soll denn da gekocht werden?« – Die beiden Kerle lachten laut auf, antworteten aber nicht, sondern legten nur noch mehr Holz auf. – d’Artagnan gab Bragelonne einen Wink, und beide traten wieder an das Fenster.
Der große Platz war ganz mit Menschen angefüllt. Die dichtgedrängten Köpfe wogten wie Aehren auf einem weiten Kornfelde. Bis dicht an die Hellebardiere hin, die das Schafott umringten, schob sich die Menge vor, und hin und wieder ließen die Soldaten das Eisen ihrer Waffen auf die Köpfe der Menschen niederfallen, wenn sie gar zu zudringlich wurden. Außer diesen Soldaten sah man noch an einer Stelle mitten unter der Menschenmenge eine Gruppe von etwa fünfzig Musketieren. D’Artagnan erkannte sie und sah zu seiner Beruhigung, daß sie in Rufweite von ihm standen. In der Nähe der Galgen machte sich ein lärmender Haufe bemerkbar, und weiterhin sah man hier und dort unter den einfältigeren Physiognomien der alltäglichen Zuschauer tollkühne, unternehmende Gesichter, die einander über die andern hinweg Zeichen gaben. In der dichtgedrängtesten Gruppe bemerkte d’Artagnan einen Mann zu Pferde, in dem er zu seiner Verwunderung Menneville erkannte, seinen Helfershelfer von früher. Ein dumpfes Gemurmel, das von einer andern Seite her erklang, lenkte jetzt seine Aufmerksamkeit von seinem alten Bekannten ab. Die Verurteilten kamen an, eskortiert von einer starken Abteilung berittner Soldaten, von der Menge mit einem tausendstimmigen Geschrei empfangen.
Die Männer in der Gaststube schürten das Feuer – Rudolf wandte sich mit einem Laut des Mißbehagens zur Seite. Die Todeskandidaten gingen zu Fuß, der Henker hinter ihnen her. Fünfzig Soldaten bildeten zu beiden Seiten Spalier. – »An den Strang mit ihnen, an den Strang. Es lebe der König!« schrie das Volk.
»Nein, weg mit dem Galgen! Es lebe Colbert!« erklang es dagegen. – »Was bedeutet das?« murmelte d’Artagnan. »Ich glaubte, sie würden auf Betreiben Colberts gehenkt.« – Es entstand ein Gedränge, das den Zug auf einen Augenblick zum Stillstand zwang. Als er wieder weiter vorrücken konnte, hatten sich die Leute mit den auffallend tollkühnen Gesichtern ganz dicht an die Soldaten herangedrängt. Und plötzlich fielen diese Kerle mit dem Ruf: »Es lebe Colbert!« über die Mannschaften her. Es gab im Nu ein fürchterliches Handgemenge. Die Hellebarden der Soldaten sausten auf die Köpfe hernieder, die Schwerter blitzten, Musketenschüsse fielen. Man sah nur noch eine verworrene Masse von Waffen, Armen und Köpfen, eine einzelne Gestalt zu unterscheiden war nicht mehr möglich. Die Verurteilten wurden den Soldaten entrissen und nach dem Gasthause geschleppt. Ein Höllenlärm begleitete die Verwirrung, in welchem man aber immer noch deutlich den Ruf heraushörte: »Es lebe Colbert!«
Das Volk war unschlüssig, ob es den Soldaten oder den Aufrührern helfen solle, denn es begriff nicht, weshalb die Aufrührer, die doch die Verurteilten zu befreien schienen, dabei schrien: »Nicht an den Galgen! Ins Feuer mit ihnen.« Wenn man sie doch töten wollte, wozu entriß man sie erst der Justiz? Schließlich tat aber doch der Ruf: »Bratet die Volksschinder lebendig!« seine Wirkung, der Pöbel strömte herbei, und als man gar im Gasthause einen Mann erblickte, der ein brennendes Holzstück schwang, wollte jedermann sich an der Vollstreckung dieses Lynchurteils beteiligen. Der Ruf: »Ins Feuer mit den Dieben!« wurde zur allgemeinen Parole.
»Jetzt wird’s ernst,« sagte d’Artagnan. – Im selben Moment hatte einer der Männer am Feuer einen Brand an das ausgedörrte Wandgetäfel und an die Türverkleidung gehalten, und alsbald loderte die Flamme auf, Rauch erfüllte das Zimmer. – Ohne ein Wort zu sagen, entriß d’Artagnan dem Schnapphahn das brennende Holz und schlug ihn damit mitten ins Gesicht. Den zweiten packte Rudolf um den Leib und warf ihn zum Fenster hinaus. Darauf riß er die brennende Bekleidung an der Wand herab und zertrat die Glut mit den Füßen. D’Artagnan überzeugte sich mit einem Blick davon, daß die Gefahr des Feuers beseitigt war, und eilte vor die Türe hinaus, auf die jetzt die Schnapphähne losstürmten, Menneville an der Spitze.
»Was wollt ihr hier?« schrie der Chevalier, das Schwert schwingend. – »Tod und Teufel, Herr d’Artagnan!« rief Menneville, ihn erkennend, »macht Platz!« – »In das Feuer mit den Dieben!« schrien seine Kameraden, schrie die Menge hinter ihnen. – »Musketiere, her zu mir!« brüllte d’Artagnan, und dieser Ruf, mit dem er schon oft seine Schar zum Siege geführt hatte, tat auch diesmal seine Wirkung. Die Soldaten erkannten daran ihren Befehlshaber. Gleichzeitig warf d’Artagnan sich mit erhobenem Schwerte den Anstürmenden entgegen, Rudolf folgte seinem Beispiel. Der erste, der fiel, war Menneville, von einem Schwerthiebe des Chevaliers niedergestreckt. »Sagte ich dir nicht, du solltest ein anständiger Mensch werden?« rief d’Artagnan, indem er ihm den Schädel einschlug. Nun arbeiteten die beiden Recken, der junge und der alte, wie Riesen, wie Erzengel mit Flammenschwertern, und jeder Streich warf einen Feind darnieder. »Im Namen des Königs!« riefen sie, und dieser neue Ruf wurde zur Losung des Siegers. Von hinten rückten die Musketiere und die Soldaten der Wache unwiderstehlich vor, die Reihen des Volks kamen ins Wanken, lösten sich auf und stoben schließlich zur Seite, wie Wellen des Meers vor dem vorwärtsdringenden Schiffsschnabel. Die Schnapphähne mußten ihre Sache verloren geben, ließen die Delinquenten im Stich und suchten sich zu retten. Das Feuer im Ofen wurde nun mit Wasser gelöscht, und die Todeskandidaten vollendeten den Weg zum Galgen. In einer Minute hatte der Henker seine Arbeit getan.
Es war ruhig auf dem Platze; kein Mensch war mehr zu sehen, außer den Soldaten, die sich zum Abmarsch fertig machten. Am Dreibein hingen die Leichen der Gerichteten. – »Kommen Sie nun aber endlich fort, Chevalier,« sagte Rudolf. – »Einen Augenblick!« antwortete d’Artagnan, »ich will nur erst noch meinen Mietszins einkassieren. Das Haus bringt zwar viel ein – aber ich möchte doch lieber eins in einem andern Stadtteil haben.«