Kolmården.

Nördlich von Bråviken, gerade auf der Grenze zwischen Ostgotland und Sörmland, erhebt sich ein Berg, der mehrere Meilen lang und über eine Meile breit ist. Hätte er eine Höhe, die seiner Länge und Breite entspräche, so würde er der schönste Berg sein, den man sich denken kann; aber die hat er nicht.

Es kann zuweilen geschehen, daß man ein Gebäude antrifft, das von Anfang an so groß angelegt ist, daß sein Besitzer es nicht hat vollenden können. Wenn man ganz nahe herankommt, sieht man dicke Grundmauern, starke, gewölbte Bogen und tiefe Keller, aber da sind weder Mauern noch Dach; das Ganze erhebt sich nur einige Fuß hoch über der Erde. Man kann fast nicht umhin, beim Anblick dieses Berges an so ein verlassenes Gebäude zu denken, denn es sieht fast so aus, als sei er bestimmt, mächtige, hohe Berghallen zu tragen. Alles ist gewaltig und jedes ist groß angelegt, aber es hat keine rechte Höhe oder Haltung. Der Baumeister ist müde geworden und hat die Arbeit aufgegeben, ehe er dazu gelangt war, die steilen Felsklippen und die spitzen Gipfel und scharfen Abhänge aufzuführen, die sonst als Mauern und Dach auf den fertiggebauten Bergen stehen.

Aber gleichsam als Ersatz für Klippen und Kuppen ist der große Berg zu allen Zeiten mit hohen, mächtigen Bäumen bedeckt gewesen. Eichen und Linden an den äußeren Rändern und in den Talschluchten, Birken und Erlen um die Seen herum, Fichten oben auf den steilen Absätzen und Tannen überall, wo sie nur eine Handvoll Erde finden, in der sie wachsen können. Alle diese Bäume im Verein bildeten einen großen Wald, den Kolmård, der in alten Zeiten so gefürchtet war, daß jeder, der ihn notgedrungen durchwandern mußte, sich Gott empfahl und sich darauf vorbereitete, daß seine letzte Stunde gekommen sei.

Es ist jetzt so lange her, seit der Kulmård ein Wald wurde, daß es unmöglich ist, zu sagen, wie es kam, daß er so ward, wie er wurde. Er hatte sicher zu Anfang eine schwere Zeit auf dem harten Berggrund, und er wurde abgehärtet, weil er gezwungen war, sich festen Fuß zwischen nackten Felsklippen und Nahrung aus magerem Kies zu suchen. Es erging ihm wie so manch einem, der in jungen Tagen Böses leiden muß, aber groß und stark wird, wenn er heranwächst. Als der Wald ausgewachsen war, hatte er Bäume, die drei Klafter im Umkreis waren, die Zweige der Bäume waren zu einem undurchdringlichen Netz zusammengeflochten, und die Erde war mit harten, glatten Baumwurzeln durchwoben. Er war ein vorzüglicher Aufenthaltsort für wilde Tiere und Räuber, die wußten, wie man kriechen und klettern und sich winden mußte, um sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Aber für andere besaß er keine besondere Anziehungskraft. Er war dunkel und kalt, wegelos und irreleitend, dicht und stechend, und die alten Bäume mit ihren bärtigen Zweigen und moosbewachsenen Stämmen glichen Kobolden.

In der ersten Zeit, als die Leute begannen, sich in Sörmland und Ostgotland niederzulassen, war da fast überall Wald, aber in den fruchtbaren Tälern und den Ebenen wurde er bald ausgerodet. Niemand dahingegen machte sich etwas daraus, im Kolmård, der auf magerem Berggrund wuchs, zu fällen. Aber je länger er Erlaubnis erhielt, unberührt zu stehen, um so stärker wurde er. Er war wie eine Festung, deren Mauern von Tag zu Tag dicker wurden, und wer durch die Waldmauer hindurch wollte, der mußte eine Axt zu Hilfe nehmen.

Andere Wälder sind oft bange vor den Menschen, vor dem Kolmård aber mußten die Menschen bange sein. Er war so dunkel und so dicht, daß Jäger und Besenbinder sich einmal über das andere darin verirrten und nahe daran waren umzukommen, ehe es ihnen gelang, sich aus der Wildnis herauszuarbeiten. Und für die Reisenden, die gezwungen waren, von Ostgotland nach Sörmland, oder umgekehrt, zu ziehen, war der Wald geradezu lebensgefährlich. Sie mußten sich mühselig auf schmalen Wildpfaden vorwärtsarbeiten, denn die Grenzbevölkerung war nicht einmal imstande, einen gebahnten Weg durch den Wald instand zu halten. Da waren weder Brücken über die Bäche noch Fähren über die Seen oder Dämme über die Moore. Und im ganzen Walde war auch nicht eine Hütte, in der friedliche Leute wohnten, während es genug Räuberhöhlen und Gruben mit wilden Tieren gab. Nicht viele kamen mit heiler Haut durch den Wald, um so mehr aber stürzten in Abgründe oder versanken in Sümpfe, wurden von Räubern geplündert oder von wilden Tieren gejagt. Aber auch die Leute, die außerhalb des Waldes wohnten und sich nie dahinein wagten, hatten Ärger von ihm, denn beständig kamen Bären und Wölfe aus dem Kolmård herab und nahmen ihr Vieh. Und es war unmöglich, die wilden Tiere auszurotten, so lange sie sich in dem dichten Walde verstecken konnten.

Es herrscht kein Zweifel darüber, daß sowohl die Ostgotländer als auch die Sörmländer den Kolmård gern los sein wollten, aber damit ging es nur langsam, solange anderwärts brauchbarer Boden war.

Nach und nach fing man doch an, ihn zu bewältigen. Auf den Bergabhängen rings um den Hochwald selbst wuchsen Höfe und Dörfer empor. Der Wald wurde einigermaßen fahrbar, und bei Krokek, mitten in die ärgste Wildnis hinein, bauten die Mönche ein Kloster, in dem die Reisenden eine sichere Zufluchtsstätte fanden.

Der Wald blieb aber trotzdem mächtig und gefährlich, bis ein Wanderer, der in das tiefe Dickicht hineingedrungen war, eines Tages zufällig entdeckte, daß Erz in dem Berge war, auf dem der Wald wuchs. Und sobald dies bekannt wurde, eilten Grubenarbeiter und Bergleute in den Wald, um diese Schätze zu finden.

Und nun kam das, was die Macht des Waldes brach. Die Menschen schaufelten Gruben, sie bauten Schmelzöfen und Bergwerke in dem alten Walde. Aber das hätte dem Walde keinen ernsten Schaden zuzufügen brauchen, wenn nicht eine so ungeheure Menge Holz und Kohle zu dem Bergwerkbetriebe erforderlich gewesen wäre. Köhler und Holzhauer hielten ihren Einzug in den alten düstern Urwald und machten ihm so ungefähr den Garaus. Rings um die Bergwerke herum wurde er abgehauen, und dort machte man den Erdboden urbar für Ackerland. Viele Ansiedler zogen da hinauf, und bald standen mehrere neue Dörfer mit Kirche und Pfarrhof dort, wo bisher nur der Bär sein Winterlager gehabt hatte.

Selbst da, wo sie den Wald nicht ganz ausgerodet hatten, fällten sie alle alten Bäume und hauten Wege durch die dichte Wildnis. Überall wurden Wege angelegt, und die wilden Tiere und die Räuber verjagt. Als die Menschen endlich Herren über den Wald wurden, gingen sie entsetzlich übel damit um: sie hauten Bäume um, brannten Kohlen und zerstörten alles rücksichtslos. Sie hatten ihren alten Haß gegen den Wald nicht vergessen, und nun hatte es den Anschein, als wollten sie ihn ganz vernichten.

Es war ein Glück für den Wald, daß nicht so übermäßig viel Erz in den Kolmårdengruben gefunden wurde, so daß die Arbeit und der Werkbetrieb bald abnahmen. Da hörte auch das Kohlenbrennen auf, und der Wald durfte sich ein wenig verschnaufen. Viele, die sich in den Kolmårdendörfern niedergelassen hatten, wurden arbeitslos und hatten ihre liebe Not, das Leben zu fristen, aber der Wald begann von neuem zu wachsen und sich auszubreiten, so daß die Höfe und Bergwerke darin lagen wie Inseln im Meer. Die Bewohner des Kolmård versuchten es mit Ackerwirtschaft, aber ohne sonderliches Ergebnis. Die alte Walderde wollte lieber Königseichen und Riesenfarnen hervorbringen als Rüben und Korn.

Und nun betrachteten die Menschen den Wald mit finstern Blicken; er wurde kräftiger und üppiger, während sie mehr und mehr verarmten, aber schließlich kamen sie auf den Gedanken, ob nicht auch etwas Gutes an dem Walde sein könne. Vielleicht konnten sie ihr Auskommen durch den Wald finden? Auf alle Fälle würde es sich verlohnen, zu versuchen, ob man nicht etwas aus ihm herausbringen konnte.

Und so begannen sie denn, Bauholz und Brennholz aus dem Walde zu holen und es an die Bewohner der Ebene zu verkaufen, die ihre Wälder bereits abgeholzt hatten. Bald wurde es ihnen klar, daß wenn sie es nur vernünftig anstellten, sie ebensogut von dem Wald wie von dem Feld und von den Gruben leben konnten. Und da sahen sie ihn denn mit anderen Augen an als bisher. Sie lernten, ihn zu schonen und zu lieben. Sie vergaßen ganz die alte Feindschaft und betrachteten den Wald als ihren besten Freund.

Karr.

Ungefähr zwölf Jahre bevor Niels Holgersen seine Reise mit den Wildgänsen angetreten hatte, geschah es, daß ein Grubenbesitzer im Kolmård gern einen seiner Jagdhunde los sein wollte. Er schickte zu seinem Holzwärter, erzählte ihm, daß es unmöglich sei, den Hund zu behalten, weil man es ihm nicht abgewöhnen könne, die Schafe und Hühner zu jagen, deren er ansichtig wurde. Er bat den Holzwärter, den Hund mit in den Wald zu nehmen und ihn zu erschießen.

Der Holzwärter band dem Hund einen Strick um den Hals, um ihn in den Wald hinaus an eine Stelle zu bringen, wo die alten Hunde vom Herrenhof erschossen und eingegraben zu werden pflegten. Er war ein gutmutiger Mann, aber trotzdem war er sehr froh darüber, daß er den Hund totschießen sollte, denn er wußte sehr wohl, daß er nicht nur Schafe und Hühner jagte. Gar oft war er im Walde und ergatterte einen Hasen oder einen jungen Birkhahn.

Der Hund war klein und schwarz, gelb an der Brust und mit gelben Vorderpfoten. Er hieß Karr und war so klug, daß er alles verstehen konnte, was die Menschen sagten. Als der Holzwärter mit ihm abzog, wußte er sehr wohl, was seiner harrte. Aber niemand sollte ihm das ansehen. Er ließ den Kopf nicht hängen und steckte auch den Schwanz nicht zwischen die Beine, sondern sah so vergnügt aus wie immer.

Wir werden gleich erfahren, warum sich der Hund so in acht nahm zu zeigen, daß er bange war. Zu allen Seiten rings um das alte Bergwerk erstreckte sich nämlich ein großer, mächtiger Wald, und dieser Wald war unter Tieren und Menschen bekannt, weil die Besitzer seit einer Reihe von Jahren so besorgt um ihn gewesen waren, daß sie nicht einmal Bäume zu Brennholz hatten fällen lassen. Sie hatten es auch nicht übers Herz bringen können, ihn auszuholzen oder zu kappen, sondern hatten den Wald wachsen lassen, wie er wollte. Es war aber ganz selbstverständlich, daß ein Wald, der so geschont wurde, eine beliebte Zufluchtsstätte für die Tiere werden mußte, und die waren denn auch in großen Mengen dort vorhanden. Unter sich nannten sie ihn den Hegewald, und sie betrachteten ihn als den besten Aufenthaltsort, den sie im ganzen Lande hatten.

Während der Hund durch den Wald gezogen wurde, dachte er daran, daß er ein Schrecken für alle die kleinen Tiere gewesen war, die dort wohnten. »Es würde sicher Freude ringsumher im Dickicht herrschen, wenn sie wüßten, was deiner harrt, Karr,« dachte er. Aber er wackelte mit dem Schwanz und stimmte ein fröhliches Gebell an, damit niemand sagen sollte, daß er ängstlich oder mutlos sei.

»Welch Vergnügen ist denn auch noch am Leben, wenn ich nicht hin und wieder einmal jagen kann!« sagte er. »Bereue, wer Lust dazu hat; ich spüre keine Lust!«

Aber im selben Augenblick, als der Hund das zu sich sagte, ging eine merkwürdige Veränderung mit ihm vor. Er reckte Kopf und Hals in die Höhe, als habe er Lust zu heulen. Er lief nicht mehr neben dem Holzwärter her, sondern hielt sich hinter ihm. Offenbar war ihm etwas Unangenehmes eingefallen.

Es war zu Anfang des Sommers. Die Elchkühe hatten kürzlich ihre Jungen zur Welt gebracht, und am vorhergehenden Abend hatte der Hund das Glück gehabt, ein kleines Elchkalb, das kaum mehr als fünf Tage alt war, von seiner Mutter zu trennen und es in ein Moor hineinzutreiben. Dort hatte er das Kalb zwischen den Grashügeln hin und her gejagt, eigentlich nicht, um es zu fangen, sondern nur um sich an seiner Angst zu weiden. Die Elchkuh wußte, daß das Moor jetzt, sobald nach der Schneeschmelze grundlos war und ein so großes Tier wie sie nicht tragen konnte, deswegen blieb sie am Ufer stehen, solange sie es aushalten konnte. Als Karr das Kalb aber weiter und weiter hinausjagte, ging die Elchkuh plötzlich auf das Moor hinaus, jagte den Hund weg, nahm das Kalb mit und machte sich wieder auf den Weg an Land. Sie hatte fast das Ufer erreicht, als ein Grasbüschel, auf den sie den Fuß gesetzt hatte, plötzlich in dem Schlamm versank und sie mit in die Tiefe hinabriß. Sie strengte sich an, wieder in die Höhe zu kommen, konnte aber nicht Fuß fassen und sank tiefer und tiefer hinab. Karr stand da und sah zu und wagte kaum zu atmen, als es ihm aber klar wurde, daß die Elchkuh sich nicht zu retten vermochte, lief er davon, so schnell seine Füße ihn tragen konnten. Er dachte an alle die Prügel, die er bekommen würde, sobald es herauskam, daß er eine Elchkuh ins Moor hinausgelockt hatte, und er wurde so bange, daß er nicht still zu stehen wagte, ehe er zu Hause angelangt war.

Hieran mußte der Hund plötzlich denken, und dies quälte ihn auf ganz andere Weise als alle die übrigen tollen Streiche, die er ausgeführt hatte. Das kam vielleicht daher, weil es gar nicht seine Absicht gewesen war, die Elchkuh oder das Kalb zu töten; er war ganz unversehens dazu gekommen.

»Aber vielleicht sind sie noch am Leben,« dachte der Hund plötzlich. »Sie waren ja noch nicht tot, als ich fortlief. Am Ende haben sie sich gerettet!«

Eine unwiderstehliche Lust wandelte ihn an, etwas hierüber zu erfahren, solange es für ihn noch Zeit war. Er merkte, daß der Waldhüter den Strick nicht besonders festhielt, machte einen raschen Sprung nach der Seite, und kam wirklich los. Darauf rannte er davon durch den Wald und hinab nach dem Moor, und zwar in einer solchen Fahrt, daß der Holzwärter keine Zeit hatte, die Flinte an die Wange zu legen, ehe er weg war.

Dem Holzwärter blieb nichts weiter übrig, als hinterher zu laufen, und als er an das Moor kam, sah er den Hund auf einem Grasbüschel einige Ellen vom Ufer entfernt stehen und aus Leibeskräften heulen. Der Holzwärter hielt es für seine Pflicht, nachzusehen, was das wohl bedeuten könne, er stellte die Flinte hin und kroch auf allen Vieren auf das Moor hinaus. Er war noch nicht weit gekrochen, als er eine Elchkuh sah, die im Moor lag und tot war. Dicht neben der Kuh lag ein kleines Kalb. Das war noch am Leben, war aber so ermattet, daß es sich nicht zu rühren vermochte. Karr stand neben dem Kalbe. Bald beugte er sich hinab und leckte es, bald stieß er ein lautes Geheul aus, um Hilfe herbeizurufen.

Der Holzwärter hob das Kalb auf und machte sich daran, es an Land zu schleppen. Als es dem Hund klar wurde, daß das Kalb gerettet werden würde, geriet er ganz außer sich vor Freude. Er sprang rund um den Holzwärter herum, leckte ihm die Hände und bellte vor Entzücken.

Der Holzwärter trug das Kalb nach Hause und setzte es in einen Stand im Stall. Dann mußte er Hilfe herbeiholen, um die tote Elchkuh aus dem Moor zu ziehen, und erst als das alles besorgt war, fiel ihm ein, daß er ja Karr erschießen sollte. Er rief den Hund, der ihm die ganze Zeit gefolgt war, und ging wieder mit ihm in den Wald.

Der Holzwärter schlug den Weg nach dem Hundegrabe ein, ehe er aber noch angelangt war, kam er auf andere Gedanken, denn plötzlich kehrte er um und ging auf den Herrenhof zu.

Karr war ihm ganz still gefolgt, als aber der Holzwärter umkehrte und nach seinem alten Heim ging, wurde er unruhig. Sicher hatte der Holzwärter ausfindig gemacht, daß er die Elchkuh umgebracht hatte, und nun sollte er nach dem Herrenhof, um seine Strafe in Empfang zu nehmen, ehe er starb.

Aber Prügel zu kriegen, war das Schlimmste, was Karr sich denken konnte, und bei dieser Aussicht vermochte er den Mut nicht aufrecht zu halten. Er ließ den Kopf hängen, und als er auf den Hof kam, sah er nicht auf, sondern tat so, als kenne er niemand.

Der Gutsbesitzer stand auf der Treppe, als der Holzwärter daherkam. »Was in aller Welt ist das für ein Hund, mit dem Sie da kommen, Holzwärter?« sagte er. »Es ist doch wohl nicht Karr? Der muß doch schon längst erschossen sein.« Da erzählte der Holzwärter von den Elchen, und Karr machte sich so klein, wie er nur konnte, und kroch hinter den Beinen des Holzwärters zusammen, als wolle er sich verstecken.

Aber der Holzwärter erzählte die Geschichte nicht so, wie Karr es erwartet hatte. Er konnte nicht genug Worte des Lobes für Karr finden. Er sagte, der Hund habe offenbar gewußt, daß die Elche in Not seien, und habe sie retten wollen. »Der Knecht muß ja tun, was der Herr will, ich kann den Hund aber nicht totschießen,« schloß der Holzwärter seinen Bericht.

Der Hund erhob sich und spitzte die Ohren. Er wollte kaum glauben, daß er recht gehört hatte. Obwohl er ungern verraten wollte, wie bange er gewesen war, konnte er sich nicht enthalten, ein klein wenig zu bellen. War es wirklich möglich, daß er am Leben bleiben durfte, nur weil er um die Elche besorgt gewesen war?

Der Gutsbesitzer fand auch, daß Karr sich gut benommen hatte, da er ihn aber unter keinen Umständen wieder haben wollte, wußte er nicht gleich, was er sagen sollte. »Ja, wenn Sie sich seiner annehmen wollen, Holzwärter, und dafür einstehen wollen, daß er sich besser schickt als bisher, so mag er leben,« sagte er endlich. Dazu war der Holzwärter bereit, und so ging es zu, daß Karr zum Holzwärter kam.

Graufells Flucht.

Von dem Tage an, als Karr zum Holzwärter kam, ließ er die unerlaubte Jagd im Walde ganz nach. Nicht daß er bange geworden wäre, sondern vielmehr weil er nicht wollte, daß der Holzwärter böse auf ihn werden sollte. Denn seit der Holzwärter ihm das Leben gerettet hatte, liebte er ihn über alles in der Welt. Er hatte keinen anderen Gedanken, als ihm zu folgen und für ihn zu sorgen. Ging er aus, so lief Karr voraus und untersuchte den Weg, und saß er zu Hause, so lag Karr draußen vor der Tür und beobachtete jeden, der kam und ging.

Wenn im Holzwärterhäuschen alles still war, wenn man keinen Schritt auf dem Wege hörte, und Karrs Herr sich mit den kleinen Bäumen zu schaffen machte, die er im Küchengarten züchtete, vertrieb sich Karr die Zeit, indem er mit dem Elchkalb spielte.

Anfangs hatte Karr gar keine Lust, sich mit ihm abzugeben. Da er aber seinen Herrn überall hin begleitete, ging er auch mit ihm in den Stall hinaus, wenn der Holzwärter dem Elchkalb Milch gab; er saß dann vor dem Stand und sah das Kalb an. Der Waldhüter nannte das Kalb Graufell, denn er fand, es verdiene keinen feineren Namen, und darin stimmte Karr mit ihm überein. Jedesmal, wenn er das Kalb sah, meinte er, nie etwas gesehen zu haben, was so häßlich war und so schlecht zusammengesetzt. Es hatte lange schlackerige Beine, die wie ein Paar lose Stelzen unter dem Körper sahen. Der Kopf war groß und alt und runzelig, und immer hing er nach der einen Seite. Das Fell saß in Runzeln und Falten, als wenn es einen Pelz anbekommen hätte, der nicht für seinen Körper gemacht war. Es sah immer mutlos und mißmutig aus, aber, sonderbarerweise, richtete es sich schnell auf, sobald es Karr draußen vor dem Stand erblickte, als freue es sich, den Hund zu sehen.

Das Elchkalb wurde mit jedem Tag, der verging, elender, es wuchs nicht, und schließlich konnte es sich nicht einmal mehr aufrichten, wenn es Karr sah. Da sprang der Hund zu ihm in den Stand hinein, und auf einmal blitzte es in den Augen des Ärmsten auf, als sei ihm ein Herzenswunsch erfüllt. Von nun an kam Karr jeden Tag und besuchte das Elchkalb und verbrachte ganze Stunden damit, seinen Pelz zu lecken, mit ihm zu spielen und sich zu tummeln und es allerlei zu lehren, worüber Waldtiere Bescheid wissen müssen.

Und merkwürdig, von dem Tage an, als Karr auf den Einfall gekommen war, zu dem Elchkalb hineinzulaufen, fing es an zu gedeihen und zu wachsen. Und als es erst damit in Gang gekommen war, wuchs es in einigen wenigen Wochen so stark, daß es in dem kleinen Stand keinen Platz mehr hatte, sondern in ein Gehege geschafft werden mußte. Als es aber ein paar Monate in dem Gehege gewohnt hatte, waren seine Beine so lang geworden, daß es über den Zaun springen konnte, wenn es wollte. Da erhielt der Holzwärter Erlaubnis von dem Gutsbesitzer, eine hohe, große Hecke um das Kalb zu errichten. Dort lebte der Elch mehrere Jahre und wuchs zu einem großen, stattlichen Hirsch heran. Karr leistete ihm Gesellschaft, sooft er konnte, aber jetzt geschah das nicht mehr aus Mitleid, sondern weil eine warme Freundschaft zwischen den beiden entstanden war. Der Elch war noch immer niedergeschlagen und schien schlaff und träge zu sein, aber Karr verstand die Kunst, ihn munter und lebhaft zu machen.

Graufell war fünf Sommer im Holzwärterhäuschen gewesen, als der Gutsbesitzer von einem zoologischen Garten im Ausland einen Brief mit der Frage erhielt, ob er den Elch verkaufen wolle. Das wollte er gern. Der Holzwärter war betrübt, aber es konnte ja nichts nützen, daß er nein sagte, und so wurde denn beschlossen, daß Graufell verkauft werden sollte. Karr erhielt bald Wind von dem, was bevorstand und eilte zu dem Elch hinaus, um ihm zu erzählen, daß man die Absicht habe, ihn wegzuschicken. Der Hund war unglücklich, daß er Graufell verlieren sollte, der aber blieb ganz ruhig und schien weder froh noch traurig zu sein. »Willst du dich gar nicht dagegen auflehnen, weggeschickt zu werden?« fragte Karr.– »Was sollte das wohl nützen, wenn ich mich dagegen auflehnen wollte!« erwiderte Graufell. »Ich möchte am liebsten bleiben, wo ich bin, haben sie mich aber verkauft, so muß ich wohl fort von hier.« Karr stand da und sah Graufell an, maß ihn förmlich mit den Augen. Man konnte sehr wohl sehen, daß der Elch noch nicht ganz ausgewachsen war. Seine Schaufeln waren nicht so breit und sein Buckel nicht so hoch und seine Mähne nicht so struppig wie bei den voll ausgewachsenen Elchhirschen, aber er war doch stark genug, um für seine Freiheit zu kämpfen. »Man kann es ihm doch anmerken, daß er sein ganzes Leben in Gefangenschaft verbracht hat,« dachte Karr, sagte aber nichts.

Der Hund kehrte erst nach Mitternacht, als er wußte, daß Graufell ausgeschlafen hatte und bei seiner ersten Mahlzeit war, nach dem Elchhof zurück. »Es ist sicher vernünftig von dir, daß du dich darin findest, fortgeschickt zu werden, Graufell,« sagte Karr, der jetzt ganz ruhig und zufrieden zu sein schien. »Du wirst in einem großen Garten eingesperrt und kannst ein sorgloses Leben führen. Ich finde nur, es ist ein Jammer, daß du von hier fortgehst, ohne den Wald gesehen zu haben. Du weißt, daß deine Stammesgenossen den Wahlspruch haben: Der Elch ist eins mit dem Walde. Aber du bist nicht einmal in einem Wald gewesen!«

Graufell sah von dem Klee auf, an dem er kaute. »Ich hätte wohl Lust, den Wald zu sehen, aber wie soll ich über die Hecke kommen?« sagte er mit seiner gewohnten Schlaffheit. – »Nein, das ist wohl ganz unmöglich für jemand, der so kurze Beine hat,« entgegnete Karr. Der Elch sah Karr an, der täglich mehrmals über die Hecke sprang, so klein er war. Er ging an die Hecke heran, machte einen Sprung und war im Freien, fast ohne daß er wußte, wie es zugegangen war.

Karr und Graufell begaben sich nun in den Wald. Es war eine herrliche, mondhelle Nacht zu Ende des Sommers, aber unter den Bäumen war es dunkel, und der Elch bewegte sich mit großer Vorsicht vorwärts. »Es ist vielleicht am besten, wenn wir umkehren,« sagte Karr. »Du bist ja noch nie draußen in dem großen Wald gewesen, und du könntest dir leicht die Beine brechen.« Da entschloß sich Graufell, schneller und kühner vorzugehen.

Karr führte den Elch in einen Teil des Waldes, wo mächtige Tannen wuchsen, die so dicht standen, daß kein Windhauch zwischen sie hineindringen konnte, »Hier pflegen deine Stammesgenossen Schutz gegen Sturm und Kälte zu suchen,« sagte Karr. »Hier stehen sie den ganzen Winter unter offenem Himmel. Aber du kriegst es viel besser da, wo du hinkommst. Du bekommst ein Dach über dem Kopf und wirst in einem Stall stehen wie eine Kuh.« Graufell erwiderte nichts; er stand noch da und sog den starken Tannenduft ein. »Hast du mir noch mehr zu zeigen, oder habe ich jetzt den ganzen Wald gesehen?« fragte er. – »Nein, noch nicht,« sagte Karr.

Dann ging Karr mit ihm an ein großes Moor und ließ ihn über Grasbüschel und Bebeland hinaussehen. »Auf dies Moor pflegen die Elche hinauszufliehen, wenn sie in Gefahr sind,« sagte Karr. »Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber so groß und schwer sie sind, können sie hier gehen, ohne einzusinken. Du könntest dich wohl nicht auf einem so schwankenden Grund bewegen; aber das hast du ja auch nicht nötig, denn du wirst ja nie von Jägern verfolgt werden.« Graufell erwiderte nichts, war aber mit einem langen Sprung draußen auf dem Moor. Es war ihm eine Wonne, die Grasbüschel unter sich schaukeln zu fühlen, und er sauste über das Moor dahin und kehrte zu Karr zurück, ohne auch nur ein einziges Mal eingesunken zu sein. »Haben wir nun den ganzen Wald gesehen?« fragte er. »Nein, noch nicht,« sagte Karr.

Er ging nun mit dem Elch an den Saum des Waldes, wo große Laubbäume wuchsen: Eiche und Espe und Linde. »Hier pflegen deine Stammesgenossen Laub und Baumrinde zu fressen,« sagte Karr. »Das betrachten sie als die beste Nahrung, aber im Auslande bekommst du gewiß bessere Nahrung.« Graufell sah mit Staunen die prachtvollen Laubbäume an, die ihre grünen Kuppeln über ihm wölbten. Er kostete Eichenlaub und Espenrinde. »Dies schmeckt herbe und gut,« sagte er. »Es ist besser als Klee.« – »Dann ist es ja gut, daß du es doch einmal geschmeckt hast,« sagte der Hund.

Darauf nahm er den Elch mit an einen kleinen Waldsee. Der See lag ganz blank und still da, und die Ufer spiegelten sich darin, in dünne, leichte Nebel gehüllt. Als Graufell den See sah, blieb er unbeweglich stehen. »Was ist das, Karr?« fragte er. Es war das erstemal, daß er einen See sah. – »Das ist ein großes Wasser, ein See, sagte Karr. »Deine Sippe pflegt darüber hin zu schwimmen, von einem Ufer zum anderen. Aber man kann ja nicht verlangen, daß du es auch kannst; du solltest aber auf alle Fälle hinabgehen und ein Bad nehmen.« Karr selbst ging ins Wasser und schwamm hinaus. Graufell blieb ziemlich lange am Ufer stehen. Schließlich ging auch er in den See. Ihm ging fast der Atem aus vor Wohlbehagen, als das Wasser seinen Leib sanft und kühlend umschloß. Sobald sie wieder am Ufer angelangt waren, fragte der Hund, ob sie nun nicht nach Hause gehen wollten. »Es ist noch lange bis zum Morgen,« antwortete Graufell. »Laß uns noch eine Weile im Walde umhergehen.«

Sie gingen wieder in den Nadelwald hinauf. Bald erreichten sie einen kleinen offenen Fleck, der ganz hell im Mondschein dalag, mit Gras und Blumen, die von Tau glitzerten. Mitten auf der Waldebene gingen einige große Tiere und grasten. Da waren ein Elchhirsch, einige Elchkühe und mehrere Färsen und Kälber. Als Graufell sie erblickte, blieb er mit einem Ruck stehen. Er sah die Kühe und das Jungvieh kaum an, er starrte nur zu dem alten Elchstier hinüber, der ein breites Schaufelgeweih mit vielen Spitzen, einen mächtigen Buckel auf dem Rist und einen langhaarigen Felllappen hatte, der ihm vom Halse herabhing. »Was für einer ist denn das?« fragte Graufell, und seine Stimme zitterte vor Erregung. – »Er heißt Hornkrone,« sagte Karr, »und ist dein Verwandter, Du kriegst auch noch einmal so breite Schaufeln und ebensolche Mähne, und wenn du im Walde bliebest, wohl auch eine Herde, deren Führer du würdest.« – »Wenn der da mein Verwandter ist, so will ich näher herangehen und ihn mir ansehen,« sagte Graufell. »Nie hätte ich gedacht, daß ein Elchstier so gewaltig sein kann.«

Graufell ging zu den Elchen, kam aber gleich wieder zu Karr zurück, der am Waldessaum stehen geblieben war. »Dich haben sie wohl nicht gut aufgenommen?« fragte Karr. – »Ich erzählte ihm, es sei das erstemal, daß ich Verwandten begegnete, und ich bat, ob ich nicht bei ihnen auf der Wiese weiden dürfe, aber er wies mich ab und drohte mir mit dem Geweih.« – »Es war gut, daß du ihm wichest,« sagte Karr. »Ein junger Stier, der noch kein Schaufelgeweih hat, muß sich in achtnehmen, mit den alten Elchen zu kämpfen. Wäre es ein anderer gewesen, der ohne Widerstand gewichen wäre, so hätte er im ganzen Walde einen schlechten Namen gehabt, aber du, der du ins Ausland reisen sollst, brauchst dich ja nicht an dergleichen zu kehren.«

Karr hatte kaum ausgeredet, als Graufell kehrt machte und auf die Wiese hinausging. Der alte Elch kam ihm entgegen und sie gerieten sogleich in Kampf. Sie setzten die Geweihe gegeneinander und stießen zu, und es endete damit, daß Graufell über die ganze Wiese zurückgetrieben wurde. Er verstand offenbar nicht, seine Kräfte zu gebrauchen. Als er aber an den Waldessaum kam, setzte er seine Schalen fester in den Erdboden, brach gewaltsam mit dem Geweih drauf los und trieb Hornkrone ein wenig zurück. Graufell kämpfte lautlos, während Hornkrone schnob und fauchte. Jetzt war die Reihe an dem alten Elch, über die Wiese zurückgetrieben zu werden. Plötzlich hörte man ein starkes Krachen. Von dem Geweih des alten Elchs war eine Spitze abgebrochen. Er riß sich mit Gewalt von Graufell los und lief in den Wald.

Karr stand noch am Waldessaum, als Graufell zu ihm zurückkehrte. »Jetzt hast du gesehen, was da im Walde ist,« sagte Karr. »Willst du nun mit nach Hause gehen?« – »Ja, es wird wohl Zeit,« antwortete der Elch.

Auf dem Heimwege sprach keiner von beiden. Karr seufzte mehrmals, als sei er über irgend etwas enttäuscht, aber Graufell schritt mit hocherhobenem Kopf dahin und schien froh über sein Abenteuer zu sein. Er legte den ganzen Weg ohne das geringste Zögern zurück, bis er an die Hecke kam; da aber blieb er stehen. Er warf einen Blick auf die kleine Bucht, in der er bisher gelebt hatte, sah den zerstampften Boden, das welke Futter, den kleinen Trog, aus dem er Wasser getrunken und den dunklen Schuppen, in dem er geschlafen hatte. »Die Elche sind eins mit dem Walde!« rief er, warf den Kopf zurück, so daß sein Nacken den Rücken berührte, und stürmte in wildester Flucht in den Wald hinein.

Hilflos.

In einem Tannendickicht tief drinnen in dem großen Hegewald zeigten sich jedes Jahr im August einige grauweiße Nachtfalter von der Art, die Nonnen heißen. Sie waren klein und nicht zahlreich, und fast niemand beachtete sie. Wenn sie ein paar Nächte tief drinnen im Walde umhergeflogen waren, legten sie einige Tausend Eier auf die Baumstämme, und bald darauf sanken sie leblos zu Boden.

Wenn es Frühling wurde, kamen einige kleine, punktierte Larven aus den Eiern und machten sich daran, Tannennadeln zu fressen. Sie hatten einen guten Appetit, aber sie kamen nie dazu, den Bäumen sonderlich zu schaden, denn sie waren sehr gesucht von den Vögeln. Selten entgingen den Verfolgern mehr als einige hundert Larven.

Die wenigen Larven, denen es vergönnt war, auszuwachsen, krochen auf die Zweige hinaus, spannen sich in weiße Fäden und saßen einige Wochen als unbewegliche Puppen da. Im Laufe dieser Zeit wurde in der Regel über die Hälfte von ihnen weggeschnappt. Wenn im August hundert beschwingte und voll ausgewachsene Nonnen aus den Puppen herauskrochen, mußte man es ein gutes Jahr für sie nennen.

So ein unsicheres und unbeachtetes Dasein führten die Nonnen viele Jahre lang in der Tannenschonung. Kein Insektenvolk in der ganzen Gegend war so gering an Zahl. Und sie würden auch ferner ebenso machtlos und unschädlich geblieben sein, wenn sie nicht unerwartet einen Helfer bekommen hätten.

Daß aber die Nonnen einen Helfer bekamen, hing damit zusammen, daß der Elch das Holzwärterhäuschen verlassen hatte. Graufell war nämlich den ganzen Tag nach seiner Flucht im Walde umhergegangen, um sich mit ihm vertraut zu machen. Gegen Nachmittag brach er sich einen Weg durch ein Dickicht, und auf der anderen Seite dieses Dickichts kam er auf einen offenen Platz, wo der Erdboden aus Schlamm und losem Morast bestand. In der Mitte war ein Wasserloch mit schwarzem Wasser, und rings um das Ganze standen hohe Tannen, die fast kahl waren vor Alter und Gebrechlichkeit. Der Ort gefiel Graufell gar nicht, und er würde ihn sofort wieder verlassen haben, wenn er nicht einige hellgrüne Kallablätter entdeckt hätte, die neben dem Wasserloch wuchsen.

Als er nun den Kopf über die Kallablätter beugte, weckte er unversehens eine große, schwarze Natter auf, die darunter lag und schlief. Der Elch hatte Karr von den giftigen Kreuzottern reden hören, die im Walde lebten, und als nun die Natter den Kopf erhob, ihre gespaltene Zunge aussteckte und ihn anzischte, glaubte er, es sei ein sehr gefährliches Tier, dem er gegenüberstand. Er erschrak, hob das Bein in die Höhe, schlug mit der Schale zu und zermalmte den Kopf der Schlange. Dann eilte er in wilder Flucht davon.

Sobald Graufell weg war, tauchte noch eine Natter, die ebenso lang und schwarz war wie die erste, aus dem Wasserloch auf. Sie kroch zu der Getöteten hin und ließ ihre Zunge über den zerschmetterten Kopf gleiten.

»Bist du wirklich tot, alte Harmlos?« zischte die Natter, »Und wir zwei haben doch so viele Jahre zusammen gelebt! Wir hatten uns so lieb und haben es so gut hier im Sumpf gehabt, daß wir älter geworden sind als alle anderen Nattern im Walde! Das war der größte Kummer, der mich treffen konnte.«

Die Natter war so betrübt, daß ihr langer Körper sich zusammenringelte, als sei sie verwundet. Selbst die Frösche, die in beständiger Angst vor ihr lebten, mußten sie bemitleiden.

»Wie schlecht muß der sein, der eine arme Natter tötet, die sich nicht verteidigen kann!« zischte die Natter. »Wer das getan hat, verdient eine harte Strafe!« Die Natter lag noch eine Weile da und wand sich in ihrem Schmerz, plötzlich aber erhob sie den Kopf. »So wahr ich Hilflos heiße und die älteste Natter im Walde bin, soll dies gerächt werden. Ich werde nicht ruhen, ehe nicht der Elch tot am Boden liegt so wie mein altes Weibchen.«

Als die Natter dies Gelübde getan hatte, rollte sie sich wie ein Knäuel zusammen, legte sich hin und grübelte. Aber man kann sich kaum etwas denken, was schwieriger für eine arme Natter ist, als Rache an einem großen, starken Elch zu nehmen, und der alte Hilflos lag Tage und Nächte da, ohne einen Ausweg zu finden.

Aber eines Nachts, als er so mit seinen Rachegedanken da lag und nicht schlafen konnte, hörte er ein schwaches Rascheln über sich. Er sah hinauf und gewahrte einige weiße Nonnenfalter, die zwischen den Bäumen spielten. Er verfolgte sie lange mit den Augen und dann fing er an, laut vor sich hin zu zischen, schließlich aber schlief er ein, und da schien er zufrieden zu sein mit dem, was er gefunden hatte.

Am nächsten Vormittag begab sich Hilflos zu Kryle, der Kreuzotter, die in einem hochgelegenen und steinigen Teil der Tannenschonung wohnte. Ihr erzählte er von dem Tod der alten Natter und bat sie, falls ihr Biß Tod bringen könne, ihn zu rächen. Aber Kryle war keineswegs geneigt, sich mit den Elchen einzulassen. »Wenn ich einen Elch angriffe,« sagte sie, »so würde er mich augenblicklich totschlagen. Die alte Harmlos ist tot, und wir können sie nicht wieder ins Leben zurückrufen. Warum sollte ich mich um ihretwillen ins Unglück stürzen?«

Als die Natter diese Antwort erhielt, erhob sie den Kopf einen halben Fuß von der Erde und zischte fürchterlich. »Wisch, wasch! Wisch, wasch!« sagte sie. »Es ist ein Jammer, daß du, die du so gute Waffen bekommen hast, so feige bist, daß du sie nicht zu gebrauchen wagst.« Als die Kreuzotter das hörte, wurde auch sie zornig. »Krauch davon, du alter Hilflos!« fauchte sie. »Das Gift läuft mir in die Zähne herunter, aber ich will den schonen, der für meinen Verwandten gilt!«

Die Natter aber rührte sich nicht vom Fleck und eine ganze Weile lagen die Tiere da und fauchten einander Grobheiten ins Gesicht. Als Kryle so wütend geworden war, daß sie nicht mehr fauchen, sondern nur noch zischen konnte, änderte Hilflos sogleich sein Benehmen und begann in ganz anderem Ton zu sprechen.

»Eigentlich hatte ich noch ein Anliegen, Kryle,« sagte er und senkte die Stimme zu einem sanften Flüstern. »Aber nun habe ich dich wohl so erzürnt, daß du mir gar nicht mehr helfen willst?«

»Wenn du nur keine Torheiten von mir verlangst, stehe ich dir gern zu Diensten.« – »In den Tannen, dicht bei meinem Sumpf, wohnt ein Schmetterlingsvolk,« sagte die Natter. – »Ja, ich weiß, was für welche du meinst,« sagte Kryle. »Was für eine Bewandtnis hat es mit ihnen?« – »Es ist das kleinste Insektenvolk im Walde,« sagte Hilflos, »und das unschädlichste von allen, denn die Larven fressen nichts weiter als Tannennadeln.« – »Ja, das weiß ich,« sagte Kryle. – »Ich bin bange, daß dies Schmetterlingsvolk bald ausgerottet werden wird,« sagte die Natter. »Da sind so viele, die die Larven im Frühling fressen.« Kryle glaubte, daß die Natter die Larven gern für sich selbst behalten wollte und antwortete freundlich: »Willst du, daß ich den Eulen sage, daß sie die Tannenlarven in Ruhe lassen sollen?« – »Ja, es wäre mir lieb, wenn du, die du etwas im Walde zu sagen hast, das bewirken könntest,« antwortete Hilflos. »Soll ich vielleicht auch bei den Drosseln ein gutes Wort für die Tannenfresser einlegen?« fragte die Kreuzotter. »Ich bin dir ja gern gefällig, wenn du nichts Unsinniges verlangst.« – »Dann danke ich dir für dein freundliches Versprechen, Kryle,« sagte Hilflos, »und ich freue mich, daß ich mich an dich gewandt habe.«

Die Nonnen.

Mehrere Jahre nach diesem Geschehnis lag Karr eines Morgens draußen unter dem Beischlag und schlief. Es war im Frühsommer, in der Zeit der hellen Nächte, und obwohl die Sonne noch nicht aufgegangen, war es heller, lichter Tag. Da erwachte Karr dadurch, daß jemand seinen Namen rief. »Bist du es, Graufell?« fragte Karr, denn er war daran gewöhnt, daß der Elch fast jede Nacht kam und ihn besuchte. Er erhielt keine Antwort, hörte aber wieder, daß ihn jemand rief. Er glaubte, Graufells Stimme zu erkennen und lief dem Ton nach.

Karr konnte den Elch vor sich her laufen hören, war aber nicht imstande, ihn einzuholen. Er stürzte in den dichtesten Tannenwald hinein, mitten durch das Dickicht, ohne Weg oder Steg zu benutzen. Karr war mehrmals nahe daran, die Spur zu verlieren. Dann aber ertönte es wieder: »Karr! Karr!« und die Stimme war die Graufells, obwohl sie einen Klang hatte, wie ihn der Hund nie zuvor gehört hatte. »Ich komme, ich komme. Wo bist du?« antwortete der Hund. – »Karr, Karr, siehst du nicht, wie es herabrieselt?« fragte Graufell. Und da sah Karr denn, daß unaufhörlich Nadeln von den Tannen herabrieselten wie ein feiner Regen. »Ja, ich sehe, daß es rieselt,« rief er, lief aber gleichzeitig immer tiefer in den Wald hinein, um den Elch zu finden.

Graufell lief voraus, quer durch das Dickicht, und Karr war wieder nahe daran, die Spur zu verlieren. »Karr, Karr!« schrie Graufell, und es klang wie ein Brüllen. »Kannst du nicht merken, wie es hier im Walde riecht?« Karr blieb stehen und witterte. Er hatte bisher nicht darüber nachgedacht, konnte jetzt aber merken, daß die Tannen einen weit stärkeren Duft ausströmten als sonst. »Ja, ich kann merken, daß es hier stark riecht,« sagte er, ließ sich jedoch nicht Zeit, nachzusehen, woher es kam, sondern eilte weiter, Graufell nach.

Der Elch lief mit einer solchen Eile, daß der Hund ihn nicht einzuholen vermochte. »Karr, Karr,« rief er nach einer Weile, »kannst du nicht hören, wie es in den Tannen knarrt!« –Jetzt war die Stimme so betrübt, daß es einen Stein rühren mußte. Karr stand still, um zu lauschen, und er hörte ein schwaches aber deutliches Knarren oben in den Bäumen. Es klang wie das Ticken einer Uhr. »Ja, ich kann es ticken hören,« rief Karr und lief nun nicht mehr. Er begriff, daß der Elch nicht wollte, daß er ihm folgen sollte, sondern daß er etwas beachten sollte, was hier im Walde vor sich ging.

Karr stand gerade unter einer Tanne, die buschige, herabhängende Zweige und grobe, dunkelgrüne Nadeln hatte. Er sah den Baum genau an, und da war es ihm, als wenn sich die Nadeln bewegten. Er ging näher heran und entdeckte nun eine Menge grauweißer Larven, die auf den Zweigen herumkrabbelten und von den Nadeln fraßen. Jeder Zweig wimmelte von ihnen, sie nagten und fraßen. Es tickte und tickte in den Bäumen von allen ihren kleinen arbeitenden Kiefern. Unaufhörlich fielen abgenagte Tannennadeln zur Erde, und den armen Tannenbäumen entströmte ein so starker Duft, daß der Hund es fast nicht ertragen konnte.

»Die Tanne wird kaum viele von ihren Nadeln behalten,« dachte er und betrachtete dann aufmerksam den danebenstehenden Baum. Das war auch eine große, hohe Tanne, und sie sah ganz ebenso aus. »Was kann das doch nur sein?« dachte Karr. »Es ist ein Jammer um die schönen Bäume. Es ist bald nichts Schönes mehr an ihnen.« Er ging von Baum zu Baum und suchte zu entdecken, was ihnen fehlte. »Da steht eine Fichte, die haben sie wohl nicht anzurühren gewagt,« dachte er. Aber auch die Fichte hatten sie angegriffen. »Und die Birke da! Ja, auch die, auch die! Darüber wird sich der Holzwärter nicht freuen,« dachte Karr.

Er lief tiefer in das Dickicht hinein, um zu sehen, wie weit die Zerstörung um sich gegriffen hatte. Wohin er kam, hörte er dasselbe Ticken, spürte er denselben Geruch, sah er denselben Nadelregen. Er brauchte gar nicht stillzustehen, um es zu sehen. Diese Zeichen sagten ihm, wie es stand. Die kleinen Larven waren überall. Der ganze Wald schwebte in Gefahr, von ihnen kahl gefressen zu werden. Plötzlich kam er an eine Stelle, wo er den starken Tannenduft nicht spüren konnte, und wo es still und ruhig war. »Hier hat ihre Herrschaft ein Ende,« dachte er, stand still und sah sich um. Aber hier war es noch schlimmer, hier hatten die Larven ihre Arbeit schon beendet, und die Bäume standen ohne Nadeln da. Sie waren wie tot, und das einzige, was sie bedeckte, waren eine Menge zusammengerollter Fäden, die die Larven gesponnen und als Brücken und Wege benutzt hatten.

Hier zwischen den sterbenden Bäumen stand Graufell und wartete auf Karr. Aber er war nicht allein; neben ihm standen vier alte Elche, die angesehensten im Walde. Karr kannte sie. Es war Krummrück, ein kleiner Elch, dessen Höcker aber größer war als der aller anderen, Hornkrone, der größte von der ganzen Elchschar, Struwwelmähne mit dem dicken Pelz und ein alter, hochbeiniger, der Großkraft hieß, und schrecklich heftig und kampflustig gewesen war, bis er auf der letzten Herbstjagd eine Kugel in den Schenkel bekommen hatte.

»Was in aller Welt geht hier mit dem Walde vor sich?« fragte Karr, als er zu den Elchen herankam, die die Köpfe hängen ließen und die Oberlippe verschoben und sehr nachdenklich aussahen. – »Das weiß niemand,« antwortete Graufell. »Dies Insektenvolk ist das schwächste im ganzen Walde gewesen und hat bisher niemals Schaden angerichtet, aber in den letzten Jahren hat es plötzlich an Zahl zugenommen, und nun siehst du, daß es den ganzen Wald zerstören wird.« – »Ja, es sieht schlimm aus,« sagte Karr, »aber ich sehe, daß die Klügsten im Walde sich versammelt haben, um zu beraten, und sie haben vielleicht schon eine Abhilfe gefunden?«

Als der Hund so sprach, erhob Krummrück sehr feierlich den schweren Kopf, schlug mit den langen Ohren um sich und sagte: »Wir haben dich hierher bestellt, Karr, um zu erfahren, ob die Menschen von dieser Zerstörung wissen.« – »Nein,« sagte Karr, »so tief in das Dickicht hinein kommt ja niemals ein Mensch außer in der Jagdzeit. Sie wissen nichts von dem Unglück.« – »Wir, die wir alt im Walde geworden sind,« sagte alsdann Hornkrone, »glauben nicht, daß wir Tiere allein mit dem Insektenvolk fertig werden können.« – »Wir finden, das eine ist fast ein ebenso großes Unglück wie das andere,« sagte Struwwelmähne. »Nun hat es wohl ein Ende mit dem Frieden im Walde.« – »Aber wir können doch nicht den ganzen Wald zerstören lassen,« sagte Großkraft. »Uns bleibt keine Wahl.«

Karr begriff, daß es den Elchen schwer wurde, zu sagen, was sie wollten, und er suchte ihnen zu Hilfe zu kommen. »Ihr wollt vielleicht, daß ich die Menschen wissen lasse, wie es hier steht?« Da nickten alle die Alten mehrere Male. »Es ist hart für uns, daß wir gezwungen sind, die Menschen um Hilfe zu bitten, aber wir wissen uns nicht anders zu helfen.«

Bald darauf war Karr auf dem Heimwege. Als er in der größten Sorge über das, was er gehört hatte, dahin eilte, begegnete er einer großen, schwarzen Natter. »Willkommen im Walde!« zischte die Schlange. »Gleichfalls willkommen!« bellte Karr und wollte weitereilen, ohne sich aufzuhalten. Aber die Natter kehrte um und suchte, ihn einzuholen. »Vielleicht ist sie auch betrübt über den Wald,« dachte Karr und blieb stehen. Die Natter begann sofort, von der großen Zerstörung zu reden. »Nun hat es wohl ein Ende mit dem Frieden und der Ruhe hier im Walde, wenn erst nach den Menschen geschickt wird,« sagte sie. – »Das fürchte ich auch,« entgegnete Karr, »aber die Alten im Walde wissen wohl, was sie tun.« – »Ich glaube, ich könnte einen besseren Ausweg finden,« sagte die Natter, »wenn ich nur den Lohn erhielte, den ich haben will.« – »Bist du nicht der, den sie Hilflos nennen?« sagte der Hund höhnisch. – »Ich bin alt im Walde geworden,« sagte die Natter. »Ich weiß wohl, wie man dergleichen Ungeziefer los wird.« – »Kannst du es uns nur wegschaffen,« sagte Karr, »so wird dir gewiß niemand verweigern, was du verlangst.«

Als Karr dies sagte, schlüpfte die Natter unter eine Baumwurzel und setzte die Unterhaltung nicht fort, ehe sie wohlgeborgen in einem engen Loch lag. »Dann kannst du Graufell grüßen und sagen,« fauchte sie, »wenn er aus dem Hegewald fortziehen und sich nicht niederlassen will, ehe er so weit gen Norden gekommen ist, wo keine Eiche mehr im Walde wächst, und nicht hierher zurückkehren will, solange die Natter Hilflos lebt, so will ich Krankheit und Tod über alle die senden, die auf den Tannen kriechen und an ihnen nagen!« – »Was sagst du da?« fragte Karr und seine Haare sträubten sich zu Borsten. »Was hat dir Graufell zuleide getan?« – »Er hat die getötet, die ich am innigsten auf der Welt geliebt habe,« sagte die Natter, »und ich will Rache an ihm nehmen.« Ehe die Natter noch ausgeredet hatte, fuhr Karr auf sie ein, sie aber lag wohlgeborgen unter der Baumwurzel. »Lieg‘ du da, solange du Lust hast!« sagte Karr. »Wir wollen schon ohne deine Hilfe mit den Tannenlarven fertig werden.«

Am nächsten Tage gingen der Gutsbesitzer und der Holzwärter einen Waldweg entlang. Anfänglich lief Karr neben ihren, bald aber war er fort, und kurz darauf vernahm man ein lautes Bellen aus dem Walde heraus. »Das ist Karr, der jagt,« sagte der Gutsbesitzer. Der Holzwärter wollte das nicht glauben. »Karr hat seit vielen Jahren keine unerlaubte Jagd getrieben,« sagte er. Er lief in den Wald hinein, um zu sehen, was für ein Hund das sei, und der Gutsbesitzer folgte ihm.

Sie gingen dem Hundegebell nach, bis in den tiefsten Teil des Waldes hinein, aber es verstummte. Sie standen still, um zu lauschen, und da, in der Stille, hörten sie die Kiefern der Larven arbeiten, sahen, wie die Nadeln herabregneten und spürten den starken Duft. Und da entdeckten sie auch, daß alle Bäume mit Larven von Nonnenfaltern bedeckt waren, mit diesen kleinen Baumschädlingen, die Wälder meilenweise zerstören können.

Der große Nonnenkrieg

Im nächsten Frühling kam Karr eines Morgens durch den Wald gelaufen. »Karr, Karr!« rief jemand hinter ihm drein. Karr wandte sich um. Er hatte sich nicht geirrt. Es war ein alter Fuchs, der vor seiner Höhle stand und ihn rief. »Du mußt mir wirklich sagen, ob die Menschen etwas für den Wald tun?« fragte der Fuchs. »Ja, das kannst du mir glauben,« sagte Karr, »sie arbeiten mit allen Kräften.« – »Sie haben meiner ganzen Sippe das Leben genommen, und mich werden sie auch wohl noch ums Leben bringen,« sagte der Fuchs. »Aber das soll ihnen verziehen sein, wenn sie nur dem Walde helfen.«

Karr kam in diesem Jahr niemals durch das Dickicht, ohne daß ihn nicht irgend jemand fragte, ob die Menschen nicht helfen könnten. Es war nicht so leicht für Karr, darauf zu antworten, denn die Menschen wußten selber nicht, ob es ihnen gelingen würde, die Nonnen auszurotten.

Wenn man daran denkt, wie gehaßt und gefürchtet der alte Kolmård einstmals war, mußte man sich wundern, zu sehen, daß jeden Tag über hundert Mann tief drinnen im Walde gingen und arbeiteten, um ihn vor der Zerstörung zu erretten. Sie fällten die Bäume, die am meisten Schaden gelitten hatten, rodeten das Unterholz und hauten die untersten Zweige ab, damit es den Larven nicht so leicht werden sollte, von Baum zu Baum zu kriechen. Sie holzten große Gürtel rings um den zerstörten Wald aus und legten dort Leimruten, um die Larven einzuschließen und sie zu hindern, sich in andere Gebiete zu verbreiten! Als das getan war, legten sie Leimringe und Fanggürtel um die Baumstämme. Damit beabsichtigten sie, die Larven zu verhindern von den Bäumen herabzukriechen, die sie schon kahl gefressen hatten, und sie zu zwingen zu bleiben, wo sie waren und zu verhungern.

Die Menschen setzten diese Arbeiten bis weit in den Frühling hinein fort. Sie machten sich große Hoffnungen und warteten fast mit Ungeduld darauf, daß die Larven aus den Eiern kriechen sollten. Sie waren fest überzeugt, sie so gut eingeschlossen zu haben, daß die allermeisten Hungers sterben mußten.

Und dann kamen die Larven früh im Sommer, und es waren ihrer viel mehr als im vergangenen Jahr. Aber das machte ja nichts, wenn sie nur eingeschlossen waren und sich nichts zu fressen verschaffen konnten.

Aber es ging nun nicht gerade so, wie man gehofft hatte. Freilich blieben Larven an den Leimruten hängen, und eine ganze Menge wurden von den Fanggürteln verhindert, von den Bäumen herunterzukommen, aber daß sie eingesperrt waren, konnte man nicht sagen. Sie waren außerhalb des Geheges und sie waren innerhalb desselben. Sie waren überall. Sie krochen auf den Landstraßen, auf den Zäunen, an den Wänden der Häuser. Sie gingen aus dem Gebiet des Hegewaldes in die anderen Teile des Kolmårds über.

»Sie halten nicht inne, ehe der ganze Wald zerstört ist,« sagten die Menschen. Sie waren in der größten Not und konnten nicht in den Wald kommen, ohne Tränen in den Augen zu haben.

Karr hatte einen solchen Ekel vor alledem, was da kroch und nagte, daß er sich kaum überwinden konnte, aus der Tür hinauszugehen. Aber eines Tages fand er doch, daß er ausgehen müsse, um sich einmal nach Graufell umzusehen. Er schlug den kürzesten Weg zu dem Bereich der Elche ein und lief schnell, die Schnauze am Boden. Als er an die Baumwurzel kam, wo er im vergangenen Sommer mit Hilflos gesprochen hatte, lag dieser wieder da unten und rief ihn an: »Hast du Graufell erzählt, was ich dir sagte, als wir uns zum letzten Male sahen?« fragte die Natter. Karr bellte nur und suchte Hilflos näher zu Leibe zu kommen. »Das solltest du wirklich tun,« sagte die Natter. »Du siehst ja, daß die Menschen keine Abhilfe für die Zerstörung wissen.« – »Und du auch nicht.« erwiderte Karr und setzte seinen Weg fort.

Karr traf Graufell, aber der Elch war so niedergeschlagen, daß er kaum guten Tag sagte. »Ich weiß nicht, was ich darum geben würde, wenn ich diesem Elend ein Ende machen könnte,« sagte er. »Dann will ich dir doch erzählen, daß man sagt, du könntest den Wald retten, erwiderte Karr und überbrachte ihm den Gruß der Natter. – »Wenn es jemand anders als Hilflos wäre, der dies Versprechen gäbe, würde ich augenblicklich in die Verbannung gehen,« sagte der Elch, »Aber wie kann eine elende Natter die Macht haben?« – »Es ist natürlich nichts weiter als Prahlerei,« sagte Karr. »Nattern tun immer so, als wenn sie klüger sind als andere Tiere.«

Als Karr nach Hause ging, gab ihm Graufell das Geleite. Da hörte Karr, daß eine Drossel, die in dem Wipfel einer Tanne saß, zu rufen begann: »Da geht Graufell, der den Wald zerstört hat! Da geht Graufell, der den Wald zerstört hat!«

Karr glaubte, er müsse sich verhört haben, aber einen Augenblick später kam ein Hase über den Weg gelaufen. Als der Hase sie erblickte, stand er still, wedelte mit den Ohren und rief: »Da kommt Graufell, der den Wald zerstört hat!« Und dann nahm er die Beine auf den Nacken und jagte davon.

»Was meinen sie nur damit?« fragte Karr. – »Ich weiß es nicht recht,« antwortete Graufell »Ich glaube, die kleinen Leute hier im Walde sind böse auf mich, weil ich den Rat erteilte, die Hilfe der Menschen zu suchen. Als das Unterholz gefällt wurde, sind alle ihre Nester und Schlupfwinkel vernichtet.«

Sie gingen noch eine Strecke zusammen, und Karr hörte, wie von allen Seiten gerufen wurde: »Da geht Graufell, der den Wald zerstört hat!« Graufell tat, als höre er es nicht, Karr aber verstand jetzt, warum er so niedergeschlagen war.

»Sage mir doch, Graufell,« sagte Karr plötzlich, »was meinte die Natter damit, daß du diejenige getötet hast, die sie am innigsten auf der ganzen Welt geliebt hat?« – »Wie kann ich das wissen,« entgegnete Graufell. »Du weißt doch selbst, daß es nicht meine Art ist, jemand zu töten.«

Bald darauf begegneten sie den vier alten Elchen: Krummrück, Hornkrone, Struwwelmähne und Großkraft. Sie kamen langsam und sinnend, einer nach dem anderen dahergegangen. »Willkommen im Walde!« rief Graufell ihnen entgegen. – »Danke, gleichfalls!« antworteten die Elche. »Wir waren gerade auf dem Wege zu dir, Graufell, um mit dir über den Wald zu ratschlagen.«

»Die Sache ist die,« nahm Krummrück das Wort, »daß uns zu Ohren gekommen ist, es sei eine Untat hier im Walde verübt, und weil sie nicht bestraft wurde, fällt der ganze Wald der Vernichtung anheim.« – »Was für eine Untat ist denn das?« – »Jemand hat ein unschädliches Tier getötet, das er nicht essen konnte. So etwas gilt hier im Hegewald als Untat,« – »Wer hat einen solchen Bubenstreich verübt?« fragte Graufell.– »Es soll ein Elch sein, und wollten wir dich fragen, ob du weißt, wer das sein kann.« – »Nein,« sagte Graufell, »ich habe nie von einem Elch gehört, der ein unschädliches Tier getötet hat.«

Graufell verließ die Alten und ging weiter mit Karr. Er war noch schweigsamer als bisher und ließ den Kopf tief hangen. Dann kamen sie an der Kreuzotter Kryle vorüber, die auf ihrem Stein lag. »Da geht Graufell, der den Wald vernichtet hat!« fauchte Kryle so wie alle anderen. Jetzt war es vorbei mit Graufells Geduld. Er ging auf die Otter zu und erhob das eine Bein. »Hast du vielleicht die Absicht, mich totzuschlagen, wie du ein armes Natternweibchen getötet hast?« fragte Kryle. – »Hab‘ ich ein Natternweibchen getötet?« fragte Graufell. – »Am ersten Tage, als du hier in den Wald hinauskamst, hast du das Weibchen der Natter Hilflos totgeschlagen!«

Graufell entfernte sich schnell von Kryle und schritt an Karrs Seite weiter dahin. Plötzlich stand er still. »Karr, ich habe die Untat verübt. Ich habe ein unschädliches Tier getötet. Es ist meine Schuld, daß der Wald vernichtet wird.« – »Was sagst du da?« unterbrach ihn Karr. – »Sage der Natter Hilflos, daß Graufell noch diese Nacht in die Verbannung geht!« – »Nie werde ich so etwas sagen,« entgegnete Karr. »Es ist eine gefährliche Gegend für Elche da oben im Norden.« – »Meinst du, daß ich hier bleiben will, wenn ich so etwas verübt habe?« sagte Graufell. – »Übereile dich nun nicht! Warte mit deinem Vorhaben bis morgen!« – »Du selber hast mich gelehrt, daß die Elche Eins sind mit dem Walde,« erwiderte Graufell, und mit diesen Worten trennte er sich von Karr.

Karr ging nach Hause, aber diese Unterhaltung hatte ihn unruhig gemacht, und schon am nächsten Tage ging er wieder in den Wald hinaus, um den Elch zu treffen. Aber Graufell war nirgends zu finden, und der Hund suchte auch nicht lange nach ihm. Er begriff, daß Graufell die Natter beim Wort genommen hatte und in die Verbannung gegangen war.

Auf dem Heimwege war Karr in einer Stimmung, die nicht zu beschreiben ist. Er konnte nicht begreifen, daß Graufell sich von der elenden Natter vertreiben lassen wollte. Er hatte nie etwas Ähnliches erlebt. Welche Macht hatte denn so ein Hilflos?

Als Karr in diese Gedanken versunken dahintrottelte, gewahrte er den Holzwärter, der zu einem Baum hinaufzeigte. »Wonach siehst du?« fragte ein Mann, der neben ihm stand, – »Es ist Krankheit unter den Larven ausgebrochen,« sagte der Holzwärter. Karr war ungeheuer erstaunt, aber er war im Grunde noch mehr ärgerlich darüber, daß die Natter imstande gewesen war, Wort zu halten. Nun war Graufell wohl gezwungen, eine ewige Zeit wegzubleiben, denn diese Natter starb scheinbar nie.

Aber mitten in Karrs allergrößter Betrübnis fiel ihm etwas ein, das ihn ein wenig tröstete. »Vielleicht wird die Natter doch nicht alt,« dachte er, »immer kann sie doch nicht unter der Baumwurzel liegen! Sobald sie uns die Larven vom Halse geschafft hat, weiß ich jemand, der sie tot beißen wird!«

Es war wirklich Krankheit unter den Larven ausgebrochen, aber im ersten Sommer griff sie nicht sonderlich um sich. Sie hatte sich kaum gezeigt, als die Zeit kam, wo die Larven zu Puppen werden. Und aus den Puppen krochen Millionen von Schmetterlingen. Jede Nacht flogen sie wie ein Schneegestöber zwischen den Bäumen herum und legten eine unzählige Menge Eier. Im nächsten Jahr mußte man auf noch größere Zerstörungen vorbereitet sein.

Die Zerstörung kam, aber nicht nur über den Wald, sondern auch über die Larven selbst. Die Krankheit breitete sich schnell von dem einen Teil des Waldes auf den anderen aus. Die kranken Larven hörten auf zu fressen, krochen in die Wipfel der Bäume hinauf und starben. Es herrschte große Freude unter den Menschen, als sie sie sterben sahen, aber noch größere Freude herrschte unter den Tieren im Walde.

Karr, der Hund, ging Tag aus, Tag ein umher und dachte mit grimmiger Freude an den Tag, an dem er es verantworten konnte, Hilflos totzubeißen.

Aber die Larven hatten sich meilenweit über die benachbarten Wälder verbreitet, und auch in diesem Sommer erreichte die Krankheit sie nicht alle; viele blieben am Leben und wurden Puppen und Schmetterlinge.

Durch Zugvögel erhielt Karr Grüße von Graufell, er sei am Leben, und es gehe ihm gut. Aber die Vögel vertrauten Karr an, daß wiederholt Wilddiebe Graufell nach dem Leben getrachtet hatten, und daß er ihnen nur mit Müh und Not entkommen sei.

Karr lebte in Unruhe und Trauer und Sehnen. Und noch ganze zwei Sommer mußte er sich gedulden. Da erst war es vorbei mit den Larven.

Kaum hatte Karr den Holzwärter sagen hören, daß der Wald außer Gefahr sei, als er auf Jagd auf Hilflos ausging. Aber als er in das Dickicht hinein kam, machte er eine schreckliche Entdeckung. Er konnte nicht mehr jagen, er konnte nicht laufen, er konnte seinen Feind nicht aufstöbern, er konnte nicht einmal sehen. In der langen Wartezeit war das Alter über Karr gekommen. Er war alt geworden, ohne es gemerkt zu haben. Er war nicht einmal mehr imstande, eine Natter totzubeißen. Er vermochte seinen Freund Graufell nicht von dem Feind zu befreien.

Die Rache

Eines Nachmittags ließen sich Akka von Kebnekajse und ihre Schar am Ufer eines Waldsees nieder. Sie waren noch auf dem Kolmård, aber sie hatten Ostgotland verlassen und hielten sich nun in der Jönåker Harde in Sörmland auf.

Der Frühling kam spät, wie gewöhnlich in Berggegenden, und der ganze See war, bis auf einen Rand offenen Wassers hart am Ufer, mit Eis bedeckt. Die Gänse stürzten sich sogleich ins Wasser, um zu baden und Nahrung zu suchen, aber Niels Holgersen hatte eines Morgens seinen einen Holzschuh verloren und ging zwischen den Erlen und Birken, die am Ufer wuchsen, umher, um etwas zu finden, was er um seinen Fuß wickeln konnte.

Der Junge ging eine ganze Strecke, bis er etwas fand, was er gebrauchen konnte, und er sah sich unruhig um, denn ihm war unheimlich zumute im Walde. »Nein, da ist mir denn doch die Ebene oder auch der See lieber,« dachte er. »Da kann man doch sehen, wohin man geht. Wäre es wenigstens noch ein Buchenwald! Das kann zur Not angehen, denn da ist fast kein Unterholz; aber diese Birken- und Tannenwälder, die sind so unwegsam und wild, ich verstehe nicht, daß die Leute sich darin finden wollen. Wär ich es, dem dies hier gehörte, ich ließe das Ganze abhauen!«

Schließlich erblickte er ein Stück Birkenrinde und war gerade damit beschäftigt, sie seinem Fuß anzupassen, als er einen raschelnden Laut hinter sich hörte. Er wandte sich um und sah eine Natter durch das Gestrüpp gleiten, gerade auf sich zu. Sie war ungewöhnlich lang und dick, aber der Junge sah sofort, daß sie zwei weiße Nackenflecke hatte, und blieb stehen. »Es ist ja nur eine Natter,« dachte er. »Die kann mir doch nichts tun.«

Im selben Augenblick aber versetzte ihm die Natter einen so kräftigen Stoß vor die Brust, daß er umfiel. Er kam schnell wieder auf die Beine und fing an zu laufen, die Schlange aber verfolgte ihn. Der Erdboden war steinig und mit Gestrüpp bewachsen, so daß es nur langsam ging, und er hatte die Natter dicht auf den Fersen.

Auf einmal sah der Junge gerade vor sich einen großen Stein mit steilen Seiten, auf den kletterte er hinauf. »Hier kann mir die Natter doch nicht nachkommen,« dachte er, aber als er glücklich hinaufgekommen war und sich umwandte, sah er, daß die Schlange versuchte, hinter ihm herzukommen.

Dicht neben dem Jungen, oben auf dem Steinblock, lag noch ein Stein, der war fast rund und so groß wie ein Menschenkopf. Er lag ganz lose hart am Rande. Es war unfaßlich, daß er da liegen konnte. Als die Natter näher kam, lief der Junge hinter den runden Stein und versetzte ihm einen Schubs. Er rollte gerade auf die Natter herab, so daß diese an die Erde fiel, und der Stein ihren Kopf traf, auf dem er liegen blieb.

»Der Stein hat seine Sache gut gemacht,« dachte der Junge und seufzte erleichtert auf, als er sah, daß die Natter noch ein paarmal zuckte und dann still liegen blieb. »Ich glaube kaum, daß ich auf der ganzen Reise je in einer größeren Gefahr gewesen bin.«

Kaum hatte er Zeit gehabt, sich ein wenig zu besinnen, als er ein Sausen in der Luft vernahm und einen Vogel niederstoßen sah, dicht neben der Natter. Er glich in Größe und Bau einer Krähe, aber er hatte ein hübsches Kleid aus schwarzen, metallschimmernden Federn. Der Junge verkroch sich vorsichtig in einen Riß im Stein. Er entsann sich nur zu gut, wie es ihm ergangen war, als er von den Krähen entführt wurde. Er beschloß, nicht zum Vorschein zu kommen, wenn es nicht notwendig war.

Der schwarze Vogel ging mit langen Schritten neben der toten Schlange auf und nieder und berührte sie mit dem Schnabel. Schließlich schlug er mit den Flügeln und rief mit einer so gellenden Stimme, daß es in den Ohren weh tat: »Dies muß die Natter Hilflos sein, die hier tot liegt!« Noch einmal ging er der ganzen Länge nach an der Natter entlang, und dann blieb er in tiefe Gedanken versunken stehen und kraute den Kopf mit dem Fuß. »Es kann unmöglich zwei so große Nattern hier im Walde geben,« sagte er. »Es ist ganz sicher Hilflos.«

Es sah so aus, als wolle er mit dem Schnabel in die Natter hineinhacken, aber plötzlich hielt er inne. »Sei nun kein Tor, Bataki,« sagte er. »Es kann dir doch nicht einfallen, die Natter zu fressen, ehe du Karr geholt hast. Er wird nie glauben, daß Hilflos tot ist, wenn er es nicht selbst gesehen hat.«

Der Junge tat sein Bestes, um sich still zu verhalten, aber der Vogel war so possierlich feierlich, wie er da mit sich selbst redete, daß er sich nicht enthalten konnte, zu lachen.

Der Vogel hörte ihn, und mit einem einzigen Flügelschlag war er oben auf dem Stein. Der Junge sprang sofort auf und ging ihm entgegen: »Bist du nicht der Rabe, den sie Bataki nennen, und der ein guter Freund von Akka von Kebnekajse ist?« fragte der Junge. Der Vogel sah ihn genau an, dann nickte er langsam dreimal. »Du bist doch wohl nicht der Knirps, der mit den Wildgänsen herumfliegt und den sie Däumeling nennen?« – »Ja, da hast du nicht weit vom Ziel geschossen,« sagte der Junge.

»Welch Glück, daß ich dich getroffen habe. Du kannst mir am Ende sagen, wer die Natter hier totgeschlagen hat?« – »Ich hab‘ den Stein da auf sie heruntergerollt, und der hat sie totgeschlagen,« sagte der Junge und erzählte, wie sich das Ganze zugetragen hatte. – »Das ist eine gute Leistung für einen so kleinen Knirps wie du,« sagte der Rabe. »Ich habe einen Freund hier in der Gegend, der wird sich freuen, daß die Natter tot ist, und ich wollte, ich könnte auch etwas für dich tun.« – »Dann erzähle mir, warum ihr euch so freut, daß die Natter tot ist,« sagte der Junge. – »Ach,« meinte der Rabe, »das ist eine lange Geschichte. Du hast gar nicht soviel Geduld, sie anzuhören.«

Der Junge aber behauptete, die hätte er, und da erzählte denn der Rabe die Geschichte von Karr und Graufell und der Natter Hilflos. Als er damit fertig war, saß der Junge eine Weile stumm da und starrte in die Luft. »Hab‘ vielen Dank!« sagte er. »Mir ist, als verstünde ich den Wald besser, nachdem ich dies alles gehört habe. Ich möchte wohl wissen, ob noch etwas von dem großen Hegewald übriggeblieben ist?« – »Das meiste ist wohl zerstört. Die Bäume sehen so aus, als hätte ein Waldbrand sie verheert. Sie müssen gefällt werden, und es vergehen sicher viele Jahre, ehe der Wald wieder das wird, was er gewesen ist.«

»Die Natter hat ihren Tod redlich verdient,« sagte der Junge, »aber wie konnte sie nur so klug sein, Krankheit über die Larven zu bringen?« – »Sie wußte am Ende, daß sie von einer solchen Krankheit befallen werden würden,« sagte Bataki. – »Das mag ja sein, aber ich finde doch, daß sie ein kluges Tier gewesen sein muß.«

Der Junge schwieg, denn der Rabe hatte gar nicht zugehört, er saß mit abgewandtem Kopf da und lauschte. »Hör‘ doch!« sagte er. »Karr ist hier in der Nähe! Wird der sich freuen, wenn er sieht, daß Hilflos tot ist.« Der Junge wandte den Kopf nach der Seite, woher der Laut kam. »Er spricht mit den wilden Gänsen,« sagte er. – »Ja, er hat sich gewiß an den See hinabgeschleppt, um sich nach Graufell zu erkundigen.«

Der Junge und der Rabe sprangen vom Stein herunter und eilten an den See. Alle Gänse waren aus dem Wasser heraufgekommen und sprachen mit einem alten Hund, der so schwach und jämmerlich war, daß es aussah, als könne er auf dem Fleck tot umfallen.

»Das ist Karr,« sagte Bataki zu dem Jungen. »Laß ihn nun erst hören, was die wilden Gänse ihm zu sagen haben. Dann können wir ihm hinterher erzählen, daß die Natter tot ist.«

Bald waren sie so nahe herangekommen, daß sie hören konnten, was Akka Karr erzählte. »Es war im letzten Jahr, als wir unsere Frühlingsreise machten,« sagte die Führergans. »Eines Morgens waren wir vom Silja in Dalarna ausgeflogen, Ykai und Kaksi und ich, und flogen über die großen Grenzwälder zwischen Dalarna und Helsingland. Wir sahen nichts weiter unter uns als den schwarz-grünen Nadelwald. Der Schnee lag noch hoch zwischen den Bäumen, die Bäche waren zugefroren, mit einer dunklen Wake hier und da, und an den Bachufern war der Schnee zum Teil schon fort. Wir sahen fast keine Dörfer und Gehöfte, nur graue Sennhütten, die den ganzen Winter unbewohnt standen. Hin und wieder schlängelte sich ein schmaler, gewundener Waldpfad dort, wo die Leute im Laufe des Winters Holz gefahren hatten Unten an den Bächen lagen große Holzstapel.

Wie wir so dahinflogen, sahen wir drei Jäger unten im Walde. Sie sausten auf Schneeschuhen daher, sie hatten Hunde an der Leine und Messer im Gürtel aber keine Büchsen. Über dem Schnee lag eine harte Eiskruste, und sie machten sich nichts daraus, den gewundenen Waldpfaden zu folgen, sie gingen geradewegs vor. Es sah so aus, als wenn sie ganz bestimmt wüßten, wohin sie gehen mußten, um das Gesuchte zu finden.

Wir Wildgänse flogen hoch oben, und der ganze Wald lag offen vor unserem Blick. Als wir die Jäger gesehen hatten, bekamen wir auch Lust, zu sehen, wo das Wild war. Wir flogen hin und her und spähten zwischen den Bäumen. Und da gewahrten wir in einem Dickicht etwas, das so aussah wie große, moosbewachsene Steine. Aber Steine konnten es doch nicht sein, denn es lag kein Schnee darauf.

Wir schwebten schnell herab und ließen uns mitten in das Dickicht nieder. Da rührten sich die drei Steinblöcke. Es waren drei Elche, die da in der Finsternis des Waldes lagen: ein Hirsch und zwei Kühe. Der Hirsch richtete sich auf, als wir uns herabließen, und kam auf uns zu. Es war das größte und schönste Tier, das wir je gesehen hatten. Als es aber sah, daß es nur elende Wildgänse waren, die ihn geweckt hatten, legte er sich wieder nieder.

»Nein, Vater Elch, legt Euch nicht schlafen!« sagte ich da zu ihm. »Fliehet so schnell Ihr könnt. Es sind Jäger im Walde, und sie kommen gerade auf dies Dickicht zu.«

»Vielen Dank, Gänsemutter,« sagte der Elch, und es sah so aus, als wenn er wieder einschlafen wollte, während er sprach, »Ihr wißt doch, daß in dieser Jahreszeit Schonzeit für die Elche ist. Die Jäger sind gewiß auf Füchse aus.«

»Da waren überall Fuchsspuren im Walde, aber die beachteten die Jäger nicht. Glaubt mir! Sie wissen, daß Ihr hier liegt. Und nun kommen sie, um Euch zu töten. Sie sind ohne Büchse ausgegangen, nur mit Spieß und Messer, weil sie zu dieser Zeit des Jahres keinen Schuß im Walde zu lösen wagen.

Der Elch blieb ganz ruhig liegen, aber die Kühe wurden ängstlich. »Vielleicht verhält es sich doch so, wie die Gänse sagen,« meinten sie und wollten sich erheben. – »Bleibt Ihr nur liegen,« sagte der Hirsch. »Hier in das Dickicht kommen keine Jäger, darauf könnt Ihr Euch verlassen.«

Dabei war nichts zu machen, und so stiegen wir Wildgänse dann wieder in die Luft auf. Aber wir flogen noch über demselben Fleck hin und her, um zu sehen, wie es den Elchen ergehen würde.

Kaum waren wir in unsere gewöhnliche Flughöhe hinaufgelangt als wir den Elch aus dem Dickicht herauskommen sahen. Er witterte nach allen Seiten und ging dann geradeswegs auf die Jäger zu. Indem er ging, trat er auf trockene Zweige, die krachend zerbrachen. Ein großes, kahles Moor lag vor ihm. Da ging er hinaus und stellte sich mitten auf das offene Moor, wo ihn nichts schützen konnte.

Hier blieb der Elch stehen, bis die Jäger am Waldessaum sichtbar wurden. Dann machte er jäh Kehrt und lief in einer anderen Richtung, als woher er gekommen war, davon. Die Jäger ließen die Hunde los und jagten selbst auf ihren Schneeschuhen hinter ihm drein, so schnell es ihnen nur möglich war.

Der Elch warf den Kopf zurück und stürmte in wilder Fahrt davon. Der Schnee spritzte unter ihm auf, daß er wie in ein Schneegestöber gehüllt war. Weder Hunde noch Jäger konnten ihm folgen. Dann blieb er stehen, um auf sie zu warten, und wenn sie wieder in Sehweite gelangt waren, stürmte er von neuem davon. Wir begriffen sehr wohl, daß es seine Absicht war, die Jäger von der Stelle wegzulocken, wo die Elchkühe lagen. Wir bewunderten seine Tapferkeit, daß er selbst der Gefahr entgegenging, damit die zu ihm Gehörigen in Frieden sein konnten. Keine von uns war imstande weiterzufliegen, ehe wir gesehen hatten, wie das Ende würde.

Die Jagd wurde ein Paar Stunden auf gleiche Weise fortgesetzt. Wir konnten nicht verstehen, daß die Jäger sich darauf einließen, den Elch zu jagen, wenn sie nicht mit Büchsen bewaffnet waren. Sie konnten doch nicht erwarten, daß es ihnen gelingen würde, einen solchen Läufer zu ermüden.

Aber dann sahen wir, daß der Elch nicht mehr so schnell lief, er trat vorsichtiger in den Schnee. Und als er die Beine wieder hob, war da Blut in den Spuren.

Da wußten wir, warum die Jäger so beharrlich gewesen waren. Sie bauten darauf, daß der Schnee ihnen helfen werde. Der Elch war jung, und bei jedem Schritt, den er tat, sank er ganz bis auf den Grund der Schneewehe. Dadurch aber scheuerte die harte Schneekruste seine Beine entzwei. Sie riß ihm die Haare ab und kratzte ein Loch in das Fell, so daß es ihm eine Qual war, den Fuß auf den Boden zu setzen.

Die Jäger und die Hunde, die so leicht waren, daß sie auf der Eiskruste laufen konnten, setzten ihre Verfolgung fort. Er lief und lief, aber seine Schritte wurden immer unsicherer und strauchelnder. Er keuchte heftig. Er litt nicht nur große Qual, er wurde auch müde von dem Waten im tiefen Schnee.

Endlich riß ihm die Geduld. Er stand still und ließ Hunde und Jäger an sich herankommen, um den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Während er dastand und wartete, sah er in die Höhe und gewahrte uns wilden Gänse, die über ihm schwebten, und er rief: »Bleibt nun hier, Wildgänse, bis das Ganze vorbei ist. Und wenn ihr das nächstemal über den Kolmården fliegt, so sucht den Hund Karr auf und erzählt ihm, daß sein Freund Graufell einen guten Tod gefunden hat!«

Als Akka geendet hatte, richtete der alte Hund sich auf und ging einige Schritte näher an sie heran. »Graufell hat ein edles Leben geführt!« sagte er. »Er kennt mich, er weiß, daß ich ein mutiger Hund bin und mich darüber freuen werde, zu hören, daß er einen guten Tod gefunden hat. Erzähle mir jetzt …«

Er hob den Schwanz in die Höhe und richtete den Kopf auf, um eine mutige, stolze Haltung einzunehmen, sank aber wieder zusammen.

»Karr, Karr!« rief eine Menschenstimme aus dem Walde.

Der alte Hund erhob sich sofort. »Das ist der Herr, der ruft,« sagte er, »und ich will ihn nicht warten lassen. Ich sah ihn vorhin die Flinte laden, und wir beide gehen nun zum letztenmal in den Wald hinaus. Hab‘ dank, Wildgans! Nun weiß ich alles, was ich zu wissen brauche, um froh in den Tod zu gehen!«