Dienstag, 8. November.
Es war einer von diesen nebeligen, trüben Tagen. Die Wildgänse hatten auf den großen Feldern bei der Sturuper Kirche geweidet und hielten gerade Mittagsrast, als Akka zu Niels Holgersen geflogen kam. »Es scheint, daß wir jetzt eine Weile stilles Wetter bekommen werden,« sagte sie, »und ich denke, wir fliegen morgen über die Ostsee.« – »Ach so!« sagte der Junge kurz, denn der Hals war ihm wie zugeschnürt, so daß er nicht sprechen konnte. Er hatte ja noch immer gehofft, daß er von dem Zauberbann erlöst werden würde, während er in Schonen war.
»Jetzt sind wir ziemlich nahe bei Vestervemmenhög,« sagte Akka, »und ich denke mir, du hast vielleicht Lust einmal zu Hause einzugucken. Es wird ja eine ganze Weile währen, bis du wieder jemand von den Deinen zu sehen bekommst.« – »Es wird wohl das beste sein, wenn ich das unterlasse,« sagte der Junge, aber man konnte es seiner Stimme anhören, daß er sich über den Vorschlag freute. – »Wenn der Gänserich bei uns bleibt, kann ja kein Unglück geschehen,« fuhr Akka fort. »Ich meine, du mußt wissen, wie es daheim bei dir aussieht. Vielleicht kannst du den Deinen auf irgendeine Weise helfen, selbst wenn du nicht wieder ein Mensch wirst.« – »Ja, darin habt Ihr recht, Mutter Akka. Daran hätte ich selbst denken sollen,« sagte der Junge und wurde ganz eifrig.
Einen Augenblick später befanden sich der Junge und die Führergans auf dem Wege zu Holger Nielsens, und es währte nicht lange, bis sich Akka hinter der steinernen Mauer niederließ, die die Häuslerstelle einschloß.
»Es ist doch sonderbar, wie unverändert alles ist,« sagte der Junge und kroch schleunigst auf die Mauer hinauf und sah sich um. »Es ist mir, als sei es gestern gewesen, als ich hier saß und euch in der Luft daherfliegen sah.«
»Ich möchte wohl wissen, ob dein Vater eine Büchse hat?« fragte Akka plötzlich. – »Das sollte ich meinen!« antwortete der Junge. »Um der Büchse wegen bin ich ja an jenem Sonntag zu Hause geblieben, statt in die Kirche zu gehen.« – »Dann wage ich nicht, hier zu stehen und auf dich zu warten,« sagte Akka. »Es wird am besten sein, wenn du morgen früh bei Smygehuk wieder zu uns stößt, dann kannst du die Nacht über zu Hause bleiben.« – »Ach nein, fliegt noch nicht fort, Mutter Akka!« rief der Junge und sprang schnell vom Zaun herunter. Er wußte nicht, woher es kam, aber er hatte gleichsam eine Ahnung, daß ihm oder den Wildgänsen etwas zustoßen könne, so daß sie einander nie wiedersehen würden. »Ihr könnt ja wohl sehen, wie betrübt ich bin, daß ich meine rechte Gestalt nie wieder bekommen soll,« fuhr er fort. »Aber ich will Euch doch sagen, ich bereue es nicht, daß ich im Frühling mit Euch geflogen bin. Nein, lieber will ich nie wieder ein Mensch werden, als diese Reise entbehren.« Akka sog ein paarmal Luft ein, ehe sie antwortete: »Da ist etwas, worüber ich schon lange mit dir habe reden wollen, aber wenn du doch nicht zu deinen Eltern zurückkehren wolltest, meinte ich, es habe keine Eile. Aber es kann ja nie schaden, daß wir darüber reden.« – »Ihr wißt, daß es nichts auf der Welt gibt, was ich nicht für Euch tun würde,« sagte der Junge. – »Wenn du etwas Gutes bei uns gelernt hast, Däumling, so findest du am Ende nicht mehr, daß die Menschen allein die Erde besitzen sollen,« sagte die Führergans feierlich. »Bedenke, ihr habt ein großes Land, da könntet ihr uns armen Tieren sehr wohl ein paar kahle Schären und einige sumpfige Seen und Moore und einige öde Felsen und entlegene Wälder überlassen, wo wir in Frieden leben könnten! Alle die Jahre, die ich gelebt habe, bin ich gejagt und verfolgt gewesen. Es wäre herrlich, zu wissen, daß es auch für einen Vogel, wie ich es bin, eine Freistatt gäbe.«
»Ich würde wahrlich glücklich sein, wenn ich Euch dazu hätte verhelfen können,« sagte der Junge, »doch ich werde wohl niemals zu Macht unter den Menschen gelangen.« – »Aber wir stehen ja hier und sprechen, als wenn wir uns nie wiedersehen sollten,« sagte Akka, »und morgen früh treffen wir uns doch! Jetzt fliege ich zu meiner Schar zurück.« Sie hob die Flügel, kam aber wieder zurück, strich ein paarmal mit dem Schnabel an Däumling auf und nieder und flog dann schließlich davon.
Es war heller Tag, aber auf dem Hofe war kein Mensch zu sehen, so konnte der Junge gehen, wohin er wollte. Er eilte nach dem Kuhstall, denn er wußte, daß er bei den Kühen am besten Auskunft erhalten konnte. Es sah traurig aus dadrinnen. Im Frühling waren da drei prächtige Kühe gewesen, aber nun stand nur noch eine einzige da. Es war Mairose und man konnte ihr ansehen, daß sie sich nach ihren Kameraden sehnte. Sie ließ den Kopf hängen und hatte kaum ein Hälmchen von dem Futter angerührt, das vor ihr lag.
»Guten Tag, Mairose!« sagte der Junge und sprang ohne Angst zu ihr in den Stand hinein. »Wie geht es Vater und Mutter? Was machen die Katze und die Gänse und die Hühner, und wo hast du Stern und Goldlilie gelassen?«
Als Mairose die Stimme des Jungen hörte, fuhr sie zusammen, und es sah so aus, als habe sie Lust, mit den Hörnern nach ihm zu stoßen. Aber sie war nicht mehr so hitzig wie früher, sondern ließ sich Zeit, Niels Holgersen zu betrachten, ehe sie ihn auf die Hörner nahm. Er war noch ebenso klein wie bei seiner Abreise, und er hatte denselben Anzug an wie bei seiner Abreise, aber er sah trotzdem ganz anders aus. Der Niels Holgersen, der im Frühling von dannen gezogen war, hatte einen schweren und langsamen Gang, seine Stimme war träge und seine Augen waren schläfrig, der Niels Holgersen aber, der wiederkam, war leicht und geschmeidig, flink in seiner Rede, und hatte ein Paar Augen, die leuchteten und glänzten. Seine Haltung war so keck, daß man unwillkürlich Respekt vor ihm bekommen mußte, so klein er war. Und obwohl er selbst nicht gerade glücklich aussah, wurde man froh, wenn man ihn nur ansah.
»Muh!« brüllte Mairose. »Sie haben ja freilich gesagt, er wäre anders geworden, aber ich wollte es nicht glauben. Willkommen daheim, Niels Holgersen, willkommen daheim! Dies ist die erste frohe Stunde, die ich seit langen Zeiten gehabt habe!« – »Hab‘ Dank, Mairose!« sagte der Junge, froh überrascht durch den freundlichen Empfang. »Erzähle mir jetzt, wie es Vater und Mutter geht!«
»Die haben nur Sorgen und Unglück gehabt, seit du davongegangen bist,« sagte Mairose. »Das Allerschlimmste war das teure Pferd, das den ganzen Sommer hier gestanden und nichts weiter getan hat als fressen. Dein Vater kann sich nicht entschließen, es zu erschießen, und verkaufen kann er es nicht. Das Pferd ist schuld daran, daß Stern und Goldlilie verkauft werden mußten.«
Der Junge wollte eigentlich etwas ganz anderes wissen, aber er scheute sich, geradeheraus zu fragen. Deswegen sagte er: »Mutter war wohl nicht sehr ärgerlich, als sie sah, daß der Gänserich Martin davonflog?«
»Ich glaube, sie hätte sich die Sache mit dem Gänserich nicht so zu Herzen genommen, wenn sie gewußt hätte, wie es kam, daß er davonflog. Jetzt trauert sie Tag und Nacht darüber, daß ihr eigener Sohn sich von Hause fortgeschlichen und den Gänserich mitgenommen hat.«
»Sie glaubt also, daß ich den Gänserich gestohlen habe?« fragte der Junge. – »Was sollte sie sonst wohl glauben?« – »Vater und Mutter glauben wohl, daß ich mich diesen Sommer wie ein Landstreicher umhergetrieben habe?« – »Sie denken, daß es schlimm mit dir steht,« antwortete Mairose. »Und sie haben über dich getrauert, wie man trauert, wenn man das Liebste verliert, was man besitzt.«
Als der Junge dies hörte, ging er schnell aus dem Kuhstall und begab sich in den Pferdestall. Der war klein aber zierlich. Man konnte deutlich sehen, daß Holger Nielsen sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, um ihn so einzurichten, daß das neuangekommene Pferd sich wohl dort fühlen sollte. Und da stand ein wunderschönes Pferd, das förmlich von Wohlsein glänzte.
»Willkommen im Stall!« sagte der Junge. »Ich habe gehört, daß hier ein krankes Pferd sein soll, aber das kannst du doch nicht sein, so frisch und gesund, wie du aussiehst!« Das Pferd wandte den Kopf um und sah den Jungen aufmerksam an. »Bist du der Sohn des Hauses?« fragte es. »Von dem habe ich soviel Schlimmes gehört. Aber du siehst so gut aus, daß, wenn ich nicht wüßte, er sei in ein Heinzelmännchen verwandelt, ich nie geglaubt hätte, daß du es seiest.« – »Ich weiß sehr wohl, daß ich hier zu Hause einen schlechten Ruf hinterlassen habe,« sagte der Junge. »Meine eigene Mutter glaubt, daß ich mich als Dieb weggeschlichen habe, aber das ist jetzt einerlei, denn ich bleibe nicht lange zu Hause. Ehe ich gehe, möchte ich aber doch gern wissen, was dir eigentlich fehlt.«
»Schade, daß du nicht hier bleibst,« sagte das Pferd, »denn ich bin überzeugt, du und ich, wir wären gute Freunde geworden. Mir fehlt nichts weiter, als daß ich mir etwas in den Fuß hineingetreten habe, eine Messerspitze oder was es sonst sein mag. Das sitzt so gut verborgen, daß der Doktor es nicht hat finden können, aber es sticht und sticht, so daß ich fast nicht auftreten kann. Wenn du Holger Nielsen nur erzählen wolltest, was mir fehlt, so glaube ich, daß er mir leicht helfen könnte. Ich möchte so gern für mein Futter arbeiten. Ich schäme mich so, daß ich dastehe und fresse, ohne das Geringste zu leisten.«
»Gut, daß du keine eigentliche Krankheit hast,« sagte der Junge. »Ich will sehen, ob ich nicht dafür sorgen kann, daß du kuriert wirst. Es tut dir wohl nicht weh, wenn ich mit meinem Messer etwas in deinen Huf ritze?«
Niels Holgersen war gerade mit dem Pferd fertig geworden, als er draußen auf dem Hof Stimmen vernahm. Er öffnete die Stalltür ein klein wenig und sah hinaus. Es waren sein Vater und seine Mutter, die von der Landstraße her auf das Haus zukamen. Man konnte ihnen ansehen, daß sie von Sorgen niedergedrückt waren. Seine Mutter hatte viel mehr Runzeln bekommen, als sie früher gehabt hatte, und das Haar des Vaters war grau geworden. Die Mutter redete dem Vater zu, sich Geld von seinem Bruder zu leihen. »Nein, ich will nicht noch mehr Geld leihen,« sagte der Vater, gerade als sie am Stall vorübergingen. »Schulden sind das Schlimmste von allem. Dann müssen wir lieber das Haus verkaufen.« – »Ich hätte auch nichts dagegen, daß wir uns von dem Hause trennten, wenn es nicht des Jungen wegen wäre. Aber was soll er anfangen, wenn er eines Tages arm und elend, wie er natürlich ist, zurückkehrt, und wir dann nicht hier sind?« – »Ja, darin hast du recht,« sagte der Vater, »wir müßten dann die Leute, die hier nach uns wohnen, bitten, sich seiner anzunehmen und ihm zu sagen, daß wir ihn erwarten. Er soll kein böses Wort von uns hören, wie er auch sein mag. Nicht wahr, Mutter!« – »Ach nein, nein! Hätte ich ihn nur wieder daheim, so daß ich wüßte, er triebe sich nicht hungrig und frierend auf der Landstraße herum, dann könnte alles andere einerlei sein.«
Als sein Vater und seine Mutter das gesagt hatten, gingen sie ins Haus, und Niels konnte nichts mehr von ihrer Unterhaltung hören. Er war sehr glücklich und tief gerührt, als er hörte, daß sie ihn so lieb hatten, obwohl sie glaubten, er sei ganz vor die Hunde gegangen. Am liebsten wäre er gleich zu ihnen gelaufen. »Aber wenn sie mich so sehen, wie ich jetzt bin, würden sie vielleicht noch betrübter werden,« dachte er.
Während er noch dastand und überlegte, hielt ein Wagen am Zaun. Der Junge hätte beinahe laut aufgeschrien vor Überraschung; denn niemand anders als das Gänsemädchen Aase und ihr Vater stiegen aus und kamen auf den Hof gegangen. Hand in Hand schritten sie dem Hause zu; sie kamen so still und ernsthaft daher, aber ein schöner Schimmer von Glück strahlte aus ihren Augen. Als sie ungefähr mitten auf dem Hofe waren, hielt Aase ihren Vater zurück und sagte zu ihm: »Vergiß nun auch nicht, Vater, daß du kein Wort von dem Holzschuh oder den Gänsen oder dem kleinen Wicht sagst, der Niels Holgersen so ähnlich sah, daß, wenn er es nicht selbst gewesen ist, es einer sein muß, der etwas mit ihm zu schaffen hat.« – »Nein,« sagte Jon Assarson, »nein, ich sage natürlich nichts weiter, als daß ihr Sohn dir mehrmals große Hilfe geleistet hat, als du umherwandertest und nach mir suchtest, und daß wir gekommen sind, um zu fragen, ob wir ihnen dafür nicht auch einen Dienst erweisen können, jetzt, wo ich ein wohlhabender Mann geworden bin und mehr habe, als ich gebrauchen kann, seit ich die Grube da oben fand.« – »Ja, ich weiß sehr wohl, daß du dich gut ausdrücken kannst,« sagte Aase. »Ich meinte ja auch nur, daß du dies nicht sagen solltest.«
Sie gingen ins Haus, und der Junge hätte schrecklich gern gehört, worüber sie da drinnen sprachen, aber er hatte nicht den Mut, sich auf den Hofplatz hinauszuwagen. Es währte nicht lange, da kamen die beiden wieder heraus, und da begleiteten der Vater und die Mutter sie bis an die Gitterpforte. Es war merkwürdig zu sehen, wie froh die beiden jetzt waren. Sie sahen so aus, als hätten sie neues Leben bekommen.
Als die Gäste wieder fortgefahren waren, blieben der Vater und die Mutter an der Pforte stehen und sahen ihnen nach. »Jetzt will ich auch nicht mehr traurig sein,« sagte die Mutter, »jetzt, wo ich soviel Gutes von Niels gehört habe.« – »Viel haben sie eigentlich nicht von ihm erzählt,« sagte der Vater nachdenklich. – »War es nicht schon genug, daß sie einzig und allein hergereist kamen, um uns zu helfen, nur weil unser Niels ihnen große Dienste geleistet hatte? Ich finde übrigens, du hättest ihr Anerbieten annehmen sollen, Vater.« – »Nein, Mutter, ich will von niemand Geld annehmen, weder als Geschenk noch als Darlehn. Erst will ich meine Schulden abbezahlen, und dann wollen wir versuchen, uns wieder emporzuarbeiten. Wir sind ja doch noch nicht so uralt, Mutter!« Der Vater lachte so herzlich, als er das sagte. »Ich glaube wahrhaftig, du findest es ergötzlich, den Hof zu verkaufen, in den wir soviel Arbeit hineingesteckt haben,« sagte die Mutter. – »Ach, du weißt ja recht gut, weswegen ich lache, Mutter,« entgegnete der Vater. »Was mich so bedrückt hat, daß ich zu nichts mehr zu gebrauchen war, das war ja, daß ich glaubte, der Junge sei vor die Hunde gegangen. Aber jetzt, wo ich weiß, daß er lebt und sich gut geschickt hat, jetzt sollst du sehen, daß Holger Nielsen noch was wert ist!«
Die Mutter ging ins Haus hinein, aber Niels Holgersen versteckte sich schleunigst in eine Ecke, denn der Vater kam in den Stall, um nach dem Pferd zu sehen. Er ging zu ihm in den Stand hinein und hob, wie er es zu tun pflegte, den kranken Fuß in die Höhe, um zu sehen, ob er nicht entdecken könne, was ihm fehlte. »Aber was ist denn das?« fragte der Vater, denn er sah, daß einige Buchstaben in den Huf hineingeritzt waren. »Nimm das Eisen von dem Huf ab!« las er. Verwundert und fragend sah er sich nach allen Seiten um. Schließlich besah und befühlte er die untere Seite des Hufes. »Ich glaube wahrhaftig, daß etwas Scharfes darin sitzt,« murmelte er nach einer Weile.
Während der Vater mit dem Pferde beschäftigt war und der Junge in einer Ecke des Stalles versteckt saß, kam noch mehr Besuch auf den Hof. Als nämlich der Gänserich Martin gesehen hatte, daß er sich so in der Nähe seiner alten Heimat befand, war es ihm unmöglich, der Lust zu widerstehen, seinen früheren Kameraden auf dem Hofe Frau und Kinder zu zeigen; und ohne weitere Umstände zu machen, nahm er Daunfein und die jungen Gänse mit und flog dahin.
Es war kein Mensch draußen auf dem Hofe bei Holger Nielsen, als der Gänserich geflogen kam; so konnte er sich denn ganz ruhig niederlassen und Daunfein zeigen, wie herrlich er es gehabt hatte, als er noch eine zahme Gans war. Als sie den ganzen Hofplatz besichtigt hatten, entdeckte er, daß die Tür zum Kuhstall offen stand. »Guck einen Augenblick hier herein,« sagte er, »dann kannst du sehen, wo ich in alten Zeiten gewohnt habe! Das war etwas anderes, als sich in Teichen und Sümpfen aufzuhalten, so wie wir es jetzt tun.«
Der Gänserich stand auf der Schwelle und sah in den Kuhstall hinein. »Hier ist kein Mensch,« sagte er. »Komm nur, Daunfein, dann sollst du die Gänsebucht sehen! Du brauchst nicht bange zu sein, da ist nicht die geringste Gefahr!«
Und dann gingen der Gänserich, Daunfein und alle sechs Jungen in die Gänsebucht hinein, um zu sehen, in welchem Glanz und welcher Herrlichkeit der große Weiße gelebt hatte, ehe er sich den Wildgänsen anschloß.
»Ja, seht, so hatten wir es hier! Da war mein Platz, und da stand der Futtertrog, der immer mit Hafer und Wasser gefüllt war,« sagte der Gänserich. »Wartet einmal, da ist auch jetzt Fressen!« Und damit lief er an den Trog und begann Hafer zu verschlingen.
Aber Daunfein war unruhig. »Laß uns lieber wieder gehen,« sagte sie. – »Ach, nur noch ein paar Körner!« entgegnete der Gänserich. Im selben Augenblick stieß er einen Schrei aus und eilte auf den Ausgang zu. Aber es war zu spät. Die Tür fiel ins Schloß, Holger Nielsens Frau stand draußen und hakte die Krampe zu, und dann waren sie eingesperrt!
Holger Nielsen hatte ein spitzes Stück Eisen aus dem Huf des Pferdes gezogen und stand nun sehr vergnügt da und streichelte das Tier, als seine Frau in den Stall gestürzt kam. »Komm einmal her, dann sollst du sehen, was für einen Fang ich gemacht habe!« sagte sie. – »Nein, noch einen Augenblick, Mutter, und sieh erst einmal hierher!« sagte der Mann. »Jetzt habe ich entdeckt, was dem Pferd gefehlt hat.« – »Ich glaube, jetzt hat sich das Glück gewendet und kehrt wieder zu uns zurück,« sagte die Frau. »Denk dir nur, der große Gänserich, der im Frühling verschwand, muß mit den Wildgänsen geflogen sein. Er ist zurückgekommen und hat sieben Wildgänse mitgebracht. Sie gingen in die Gänsebucht hinein, und ich habe sie da alle eingesperrt.« – »Das ist doch sonderbar!« sagte Holger Nielsen. »Weißt du aber, was das beste bei dem Ganzen ist, Mutter? Wir brauchen nun nicht mehr zu glauben, daß unser Junge den Gänserich mitgenommen hat, als er weglief.« – »Ja, da hast du recht, Vater. Aber nun will ich dir etwas sagen, Vater: Ich glaube, ich muß die Gänse gleich heute abend schlachten. In ein paar Tagen ist der Martinstag, und wir müssen uns beeilen, wenn wir sie noch in die Stadt bringen wollen,« – »Ich finde eigentlich, es ist unrecht, den Gänserich zu schlachten, da er doch mit einer so großen Schar zu uns zurückgekehrt ist,« sagte Holger Nielsen. – »Wenn die Zeiten besser wären, würde ich ihn gern am Leben lassen, aber da wir ja selbst von hier fort müssen, können wir die Gänse doch nicht behalten.« – »Darin hast du freilich recht.« – »Komm, und hilf mir, sie ins Haus hineinzutragen,« sagte die Mutter.
Sie gingen aus dem Stall hinaus, und einen Augenblick später sah der Junge seinen Vater mit Daunfein unter dem einen Arm und dem Gänserich Martin unter dem andern zusammen mit der Mutter ins Haus gehen. Der Gänserich rief: »Däumling! Komm und hilf mir!« wie er zu tun pflegte, wenn er in Gefahr war, obwohl er ja gar nicht wissen konnte, daß der Junge in der Nähe war.
Niels Holgersen hörte ihn sehr wohl, aber er blieb trotzdem in der Stalltür stehen. Wenn er zögerte, so geschah das nicht, weil er wußte, daß es gut für ihn war, wenn der Gänserich auf die Schlachtbank gelegt würde – daran dachte er in diesem Augenblick nicht einmal. Sollte er aber den Gänserich retten, so mußte er sich vor seinem Vater und seiner Mutter sehen lassen, und dazu konnte er sich nicht entschließen. »Sie haben es schon schwer genug!« dachte er. »Soll ich ihnen wirklich auch noch diesen Kummer bereiten?«
Als sich aber die Tür hinter dem Gänserich schloß, kam Leben in den Jungen. Er stürzte über den Hofplatz, sprang auf die eichene Schwelle vor der Haustür und lief auf den Flur. Hier zog er nach alter Gewohnheit die Holzschuhe aus und näherte sich der Stubentür. Aber er hatte noch immer einen solchen Widerwillen dagegen, sich seinen Eltern zu zeigen, daß er nicht imstande war, die Hand zu erheben, um anzuklopfen. »Bedenke doch, es handelt sich um den Gänserich Martin,« dachte er, »um ihn, der dein bester Freund war, seit du hier das letztenmal standest!« Und im selben Augenblick erlebte er wieder alles, was er und der Gänserich auf gefrorenen Seen und stürmischen Meeren und zwischen wütenden Raubtieren durchgemacht hatten. Sein Herz schwoll vor Dankbarkeit und Liebe, und er überwand sich und klopfte an die Tür.
»Ist da jemand, der herein will?« fragte der Vater, indem er die Tür öffnete.
»Mutter! du darfst der Gans nichts tun!« rief der Junge, und im selben Augenblick stießen der Gänserich und Daunfein einen Freudenschrei aus; sie waren auf einer Bank festgebunden, aber er konnte doch hören, daß sie noch am Leben waren.
Aber auch die Mutter stieß einen Freudenschrei aus. »Nein, wie groß und schön du geworden bist!« rief sie aus.
Der Junge war nicht in die Stube hineingegangen, er war auf der Schwelle stehengeblieben wie jemand, der nicht sicher ist, welcher Empfang ihm zuteil werden wird. »Gott sei Lob und Dank, daß ich dich wieder habe!« sagte die Mutter. »Komm herein! Komm herein!« – »Sei herzlich willkommen!« sagte der Vater, er konnte kein Wort weiter herausbringen.
Der Junge aber blieb auf der Türschwelle stehen. Er konnte nicht begreifen, daß sie sich über ihn freuten, so wie er aussah. Aber dann kam die Mutter zu ihm, schlang die Arme um ihn und führte ihn in die Stube hinein und da konnte er merken, wie alles zusammenhing. »Vater! Mutter!« rief er. »Ich bin groß! Ich bin wieder ein Mensch!«