Der Professor wartete auf das Kasperle, er wollte es studieren. Die Base Mummeline ging noch durch die Straßen und dachte: Vielleicht erwische ich das Kasperle, dann stecke ich es in meinen Karren und nehme es mit. Die Torburger Buben aber strichen um Meister Severins Haus herum und warteten auch auf Kasperle. Doch das lief nur manchmal flink und eilig, von jemand geleitet, hinüber in des Fürsten Haus. Husch! war es über den Platz gelaufen, und husch! war es im Haus verschwunden. Und meist war es zu einer Zeit, da kein Bubenbein über den Platz rannte.
Es war sehr schnell eine dicke Freundschaft zwischen dem blassen Christli und Kasperle entstanden. In dem Zimmer nach dem Garten hinaus verlebten beide frohe Stunden, und das Lachen bekam Christli gut. Er konnte bald aufstehen, ja, nach ein paar Tagen durfte er sogar in den Garten gehen.
Der war auch nicht viel größer als Herrn Severins Garten. Kasperle schaute auf ein Mäuerlein und fragte: »Wo geht’s da hin?«
»Das ist dem Professor Schnappel sein Garten,« antwortete Christli.
»Hach!« Kasperle riß die Augen weit auf. So nahe war ihm der?
»Ja,« sagte Christli, »der Professor hat einen sehr großen Garten. Wenn du durch den Garten gehen könntest, brauchtest du gar nicht über den Kirchplatz zu laufen.«
»Ich spring über die Mauer,« rief Kasperle.
»Das kannst du nicht, die ist zu hoch.«
Der Zweifel an seiner Kunstfertigkeit, einen Purzelbaum über eine Mauer hinweg zu schlagen, kränkte Kasperle ein wenig. Und der kleine Luftikus vergaß, daß er drüben schon einmal in die Tinte gefallen war. Also drehte er sich um, und hopps! flog er wie ein Gummiball über die Mauer.
Drüben landete er in Indien. Das war ein von Blumenbeeten eingefaßter Grasplatz. Der Professor saß da gerade und las, als er auf einmal etwas durch die Luft fliegen und in sein Feuerlilienbeet fallen sah.
»Kasperle,« rief er erstaunt, »endlich kommst du; da kann ich dich gleich studieren.«
»Nä,« schrie Kasperle, »ich will nicht in Spiritus sitzen.«
Aber da hatte ihn der Professor schon am Hosenzipfel erwischt. »Du bleibst,« rief er, »ich muß dich studieren. So einen seltenen Fang habe ich noch nie getan.«
»Nä!« schrie Kasperle wieder. Aber der Professor kümmerte sich nicht weiter um das Geschrei, er hörte auch nicht auf das angstvolle Rufen Christlis jenseits der Mauer. Er nahm Kasperle und trug ihn in sein Haus, trug ihn in sein Studierzimmer. Dort setzte er ihn etwas unsanft auf den Boden und sagte: »Jetzt bleibst du hier!«
Ach, was wußte der gute Professor Schnappel davon, wie flink ein Kasperle durch ein offenstehendes Fenster purzelbaumen kann! Eins, zwei, drei – an der Nase des Professors vorbei, und draußen mitten auf dem Kirchplatz in einer Bubenschar landete Kasperle.
Innen in seinem Zimmer stand der Professor, rieb sich die Nase und sagte dreimal: »Merkwürdig, höchst merkwürdig!«
Auf dem Kirchplatz aber standen vier Buben und schauten nicht minder verdutzt das heulende Kasperle an. Wo war das auf einmal hergekommen? Und war es wirklich das lebendige Kasperle, das alle Torburger Buben und Mädel doch so himmelgern sehen wollten? Endlich tippte ein großer Junge Kasperle an und fragte: »Bist du wirklich Kasperle?«
Der nickte, und flugs schnitt er ein Räubergesicht, denn er fürchtete sich ein wenig vor den fremden Buben. Die wichen erst zurück, dann kamen sie wieder und jauchzten laut: »Kasperle, es ist Kasperle! Wo kommst du denn her?«
»Da.« Kasperle deutete auf des Professors Haus, und eben öffnete sich an diesem eine Türe, und der Professor trat heraus.
»Hach!« kreischte Kasperle, »er will mich in Spiritus setzen, er macht mich tot.«
»Wir retten dich!« Den Buben kam die Sache ungeheuer wichtig vor. Schwipp, schwapp! packten sie das Kasperle, ein stämmiger kleiner Blondkopf schrie: »Zu mir!« und fort ging die wilde Jagd.
»Halt, halt!« rief der Professor. Aber er konnte gut halt rufen: ehe er noch drei Schritte getan hatte, sausten die Buben mit Kasperle in ein Gäßlein hinein, dann links um die Ecke herum, und auf einmal stand Kasperle in einer Schmiede. Das Feuer glühte, und ein mächtiger Mann schlug gerade auf den Amboß: Bums!
Bums! Da lag auch Kasperle vor Schreck auf dem Boden. Er schnappte erst dreimal nach Luft, dann heulte er, heulte, wie eben ein Kasperle heult.
So etwas hatten die Torburger Buben noch nie gehört, und sie konnten das Heulen wahrlich gut. Auch der große Schmied sah höchst verdutzt drein. »Was habt ihr denn da für ein wunderfitziges Ding?« fragte er erstaunt.
»Kasperle ist’s, und er sagt, der Professor Schnappel wolle ihn in Spiritus setzen.«
»I nä!« Meister Christoph, der Schmied, schüttelte den Kopf. »Was so’nem Professor auch alles einfällt! – Du da, du Kasper, höre jetztmal auf zu heulen! So ’n Gelärme lieb‘ ich nicht; bei mir muß es fein leise zugehen.«
Der Schmied hatte eine Stimme, die dröhnte wie ein Kanonenschuß, und Kasperle ließ vor Schreck das Heulen sein, schielte den gewaltigen Mann hilflos an und rief kläglich: »Er will mich doch in Spiritus setzen!«
»Hm, hm, das wär‘ nicht angenehm! Hab‘ aber keine Angst, ich schütze dich.« Meister Christoph war herzensgut, und das Kasperle, das da so kläglich am Boden saß, tat ihm, er wußte selbst nicht warum, herzhaft leid. Er legte also seinen Schmiedehammer weg, kam näher, hob das Kasperle empor, setzte sich auf einen Hocker und nahm den kleinen Schelm auf seinen Schoß. »Nu erzähl‘ mal! Wo kommste denn her?«
Ja, erzählen! Kasperle erzählte schon gern seine Abenteuer, aber bis einer aus seinem Geschwätze klug wurde, das dauerte schon ein Weilchen. Es war gut, daß die Torburger Buben schon wußten, wer eigentlich Kasperle war. Sie redeten dazwischen, Kasperle schwätzte, schnitt Gesichter, sah aus wie die Base Mummeline und die Prinzessin Gundolfine, und Meister Christoph lachte, daß er bald mitsamt dem Kasperle von seinem Hocker gefallen wäre. Die Buben kreischten vor Vergnügen, und je mehr sie lachten, desto flinker erzählte Kasperle. Jeder Bergbach hätte ihn um dies rasche Schwätzen beneiden können. Aber plötzlich fiel ihm wieder der Professor ein, und er schrie: »Ich will nicht in Spiritus sitzen!«
»Ist recht, mein Kasperle, sollste auch nicht.« Der Schmied streichelte mit seiner großen Hand das Kasperle ganz zart und lind und sagte: »Ich bring‘ dich heim.«
»Erst muß ich wieder zu Christli.«
»Zu dem hochmütigen kleinen Prinzen?« Meister Christoph schüttelte den Kopf, und die Buben riefen alle: »Der spielt sich auf, der ist nicht nett!«
Ei, man durfte dem Kasperle seinen Freund nicht schelten! Gleich machte er ein bitterböses Gesicht und brüllte wie ein kleiner Wolf: »Das ist er doch.« Und flugs erzählte er von Christli, wie lieb und gut der sei, und wie nett er mit ihm, dem Kasperle sei.
Die Buben wurden alle eifersüchtig, und sie schrien alle: »Wir bringen dich hin.« Und dann erzählten sie, Christli sei einmal acht Tage in die Schule gekommen, kein Wort habe er aber mit den andern gesprochen, also sei er hochmütig.
»Nä!« Kasperle schüttelte den Kopf, ja, das ganze Kasperle schüttelte sich vor Nachdenken, und dann – plumps! da lag er wieder einmal unten, und Meister Christoph rief ganz erschrocken: »Biste entzwei?«
»Nä!« Kasperle lachte. Er rieb sich ein bissel seine Nase und sagte plötzlich: »Er hat sich nicht getraut.«
»Der Prinz Christli? Zu reden meinste?« Der Schmied sah ganz nachdenklich aus. Dann wuschelte er einem Buben über den Kopf und schrie ihn an: »Geh, Maxel, wasch dich, erst! Nachher geht ihr alle mit bis an des Fürsten Haus, nur du nicht, Hansjörg, du hast ’n Loch in den Hosen.«
Hansjörg verzog sein Gesicht jämmerlich. Er schluchzte: »Ich hab’s doch schon drei Tage!«
Aber Meister Christoph entschied: »Loch ist Loch, damit geht man nicht zum Prinzen.«
»Der schaut nicht hin.« Kasperle sah den Schmied so bittend an, daß der bloß auf dem Händewaschen bestand und sagte, er wolle nicht mehr auf Löcher schauen. Und das war gut: Friedel hatte ein Loch im Jackenärmel, und Fritze hielt sich gleich beide Hände vor das Hosenbödle. Mit einem Löchlein war es dort nämlich nicht abgetan.
Kasperle sah nicht darauf. Der marschierte ganz stolz an des Schmieds Hand über den Kirchplatz. Dort stand ein Diener vor des Fürsten Hause und hielt Umschau. »Na, endlich kommt Kasperle!« rief er. »Unser junger Prinz ist schon halbtot vor Angst. – Holla, was soll denn das?«
Hinter Kasperle wollten nämlich Maxel und Hansjörg ins Haus laufen, und den andern sah man die große Lust an, dies auch zu tun.
Dem alten Johann paßte das aber ganz und gar nicht. Er ging nämlich nicht immer in einem Dienerrock, sondern putzte auch die Schuhe, scheuerte die Böden und hatte keine Lust, über den weißen Fliesenboden acht Bubenbeine laufen zu lassen.
»Die wollen mit,« schrie Kasperle vergnügt.
»Gibt’s nicht!« brummte der Diener.
»Wer will mit?« Da stand auf einmal die Gräfin mitten im Flur, schaute lieb und freundlich auf die Bubenschar und ließ sich von Kasperle erzählen, wie die ihn gerettet und beschirmt hatten. Die gute Gräfin lachte herzhaft, sagte aber doch, heute dürften die Buben noch nicht zu Christli. Den hätten sie wieder ins Bett legen müssen, so sehr habe er sich über Kasperles Verschwinden gegrämt. Doch wenn er gesund sei, könne er solche kleine Freunde wohl gebrauchen, sie wolle ihn einstweilen grüßen. »Da geh nur rasch mal zu ihm, Kasperle! Doch lange darfst du nicht bleiben, und deine neuen Freunde können so lange auf dich warten.«
Das taten die arg gern. Meister Christoph ermahnte sie noch: »Paßt aber gut auf!« Dann kehrte er zur Schmiede zurück. Die Buben aber setzten sich stolz auf die Stufen, die zum Haus hinauf führten. Sie kamen sich ungeheuer wichtig vor als Kasperlewächter.
Innen erzählte Kasperle unterdessen eifrig dem blassen Christli seine Abenteuer. Und beinahe hätten sie sich gestritten. Christli sagte nämlich, er glaube nicht, daß der Professor Kasperle in Spiritus setzen würde. Doch Kasperle nickte sehr ängstlich mit dem Kopf und rief: »Er setzt mich doch rein!« Und er beschrieb, wie ihn der Professor in sein Arbeitszimmer getragen hatte, und schließlich flehte Christli: »Kasperle, sei vorsichtig.«
Das versprach Kasperle, versprach das Wiederkommen für morgen und nahm nicht nur allein Grüße, sondern auch ein paar Zuckerstücke für die neuen Freunde draußen mit. Dann nahm er Abschied von Christli, als ginge er auf eine Weltreise.
Kasperle wurde draußen von seinen Freunden mit lautem Jubel empfangen. »Ich führe dich,« riefen sie alle vier zugleich.
Ein paar Minuten zerrten und rissen sie an Kasperle herum, bis der sagte: »Zwei können mich am Jäckle anfassen, dann geht’s.«
Oh, war Kasperle gescheit! Fritzle und Hansjörg kriegten je eine kleine dicke Kasperlehand, Maxel packte Kasperle an den Höslein, Friedel nahm das Jäcklein wie einen Zügel, und dann trabten sie alle vier los, erst langsam und feierlich, damit auch jeder sehen konnte, wer da kam.
Es sah es aber niemand, denn der Platz war wie leergefegt. An Professor Schnappels Haus gab es ein heftiges Rennen und Schreien, und weil sie alle so im Schuß waren, rannten sie an Meister Severins Hause vorbei und rannten natürlich den einzigen Menschen an, der gerade um diese Zeit über den Kirchplatz ging. Das war ausgerechnet der Herr Bürgermeister. Puff! erhielt der einen Stoß vor den Bauch. Er drehte sich gleich rundum, und dann sah er nur noch die letzten Bubenbeine in Meister Severins Haus hineinlaufen. »Das war wieder dies vermaledeite Kasperle; immer stößt er mich,« brummte er. »Muß der Schlingel gerade hierherkommen! Nichts wie Ärger werde ich von ihm haben. Und die Prinzessin Gundolfine –« Weiter sagte der dicke Bürgermeister nichts. Das andere dachte er sich; was er sich aber dachte, erfuhr an diesem Tage kein Mensch, selbst seine liebe Frau nicht. Dabei hatte ihm diese sein allerbestes Lieblingsessen, Klöße mit Kraut, gekocht.
Im Hausflur verabschiedete sich inzwischen Kasperle von seinen neuen Freunden. Die versprachen ihm, ihn morgen nach der Schule abzuholen, und dann wollten sie zusammen wieder Meister Christoph besuchen. Wann die Schule aus war, wußten sie nicht genau. An diesem Tage hatten sie früher frei bekommen, weil ein Lehrer erkrankt war.
»Vielleicht ist morgen wieder einer krank,« sagte Hansjörg hoffnungsvoll.
Dann trennten sie sich, denn im Hause wurde Kasperle gerufen. Frau Liebetraut hatte das Geschwätz vernommen, und sie rief etwas ängstlich Kasperles Namen.
Da kam der eilig gerannt, erzählte vergnügt seine Erlebnisse und sagte zuletzt: »Hoffentlich ist morgen ’n Lehrer krank!«
»Aber Kasperle, das war bös!«
Kasperle sah Frau Liebetraut ganz erschrocken an. Böse wollte er doch nicht sein! Kleinlaut brummelte er: »Na, ’s Bäuchle könnt‘ ihm doch ein bißchen weh tun!«
»Wenn es nur dir nicht weh tut, heute! Es gibt nämlich dein Lieblingsessen, Griesbrei mit Blaubeeren.«
Da schmauste Kasperle genau so wie der Herr Bürgermeister von Torburg an diesem Tag sein bestes Lieblingsessen. Doch er saß nicht stumm und feierlich am Tisch wie dieser, er schwätzte, und es war ein Wunder, daß der Himmel blau blieb, daß Kasperle nicht alles Blaue herunterschwätzte.