Nun war Kasperle in Torburg, in der Stadt. Am Morgen holte ihn Frau Liebetraut aus dem Gärtnerhaus ab, und sie sagte, als sie das Tor durchschritten: »Kasperle, nun schneide aber keine Gesichter! Hier in der Stadt mußt du recht wie ein artiges Büble sein. In unserem Hause kannst du dann herumkaspern.«

O jegerl, so etwas ist schwer für ein Kasperle!

Er ging aber ganz brav an der schönen Frau Liebetraut Hand durch das Tor. Da saß gleich rechts eine dicke Pfefferkuchen- und Apfelfrau, die rief freundlich: »Na, will der Bube nicht ’ne Zuckerstange?«

Kasperle grinste die Frau an, riß den Mund himmelweit auf, und die Frau starrte ganz verdutzt den fremden Jungen an. »Meine Güte,« rief sie, »in den Mund hinein gehen ja alle meine Zuckerstangen, so groß ist der!«

Kasperle legte den Kopf schief und schielte die Frau schelmisch an. Die konnte nicht anders, sie mußte lachen, und sie nahm eine grasgrüne Zuckerstange und gab sie Kasperle. »Die paßt zu deinem sonderbaren Kittel,« sagte sie.

Da hatte der kleine Schelm die erste Freundin in Torburg gefunden. Und weil er dachte, es geht so weiter, lachte er laut, als ein Mann in ziemlicher Eile daherrannte und beinahe über ihn fiel. Doch der nahm das übel, Potz Wetter, konnte der schelten!

Frau Liebetraut zog das Kasperle rasch mit sich fort. »Das ist der Bürgermeister,« sagte sie erschrocken, »den darfst du doch nicht auslachen!«

Das Schelten klang den beiden noch ein Weilchen nach, und alle Leute drehten sich um, und da – ja, Kasperle drehte sich auch um, und er sah den Bürgermeister breit und gewichtig mit raschen Schritten hinter sich herkommen.

»O Kasperle!« sagte Frau Liebetraut. »Das darfst du nicht.«

Kasperle hatte nun flink ein Gesicht wie die Prinzessin Gundolfine gemacht. War das denn so schlimm?

Himmel, nein, waren die Stadtleute komisch! Der Bürgermeister geriet so in Wut, daß er erst gar nichts und dann sehr viel sagte; er rief sogar nach dem Stadtwächter, aber da wutschte Frau Liebetraut just mit dem Kasperle in ein altmodisches Haus an der Kirche.

Nun hatte Kasperle auf seinem ersten Gang durch Torburg zur Freundin auch einen Feind gewonnen. Er vergaß aber alle beide, als ihm im Haus Meister Friedolin, Mutter Annettchen, Herr Severin und die beiden Kinder Leni und Lotti entgegenliefen. Alle aus dem Waldhaus waren da, sogar Line, die Magd, war mitgekommen und die lieben alten Sachen waren auch da. Aber die Tannen rauschten nicht vor der Tür, und statt Vogelgesang erdröhnte ein schwerer Schlag von draußen; die Turmuhr war es. Von diesem ernsten, gewaltigen Ton erschrak das kleine Kasperle sehr, und er seufzte tief: »Im Waldhaus gefiel’s mir besser!«

»Mir auch, weiß der Himmel!« Meister Friedolin seufzte. Mutter Annettchen aber tröstete: »Wir haben doch einen Garten.«

Heissa, einen Garten! Kasperle dachte gleich an den Park, der Burg Himmelhoch groß und weit umgab, an das Bächlein darinnen, das Wäldchen und an die weiten Wiesenflächen, und er lief so rasch Meister Severin nach, wie er sonst Pudding aß. Der tat das Türle zum Garten auf, Kasperle rannte hinein, rannte hindurch, stieß mit der Nase an eine Mauer und schrie: »Wo ist der Garten?«

»Na, da wo du bist! Du bist ja schon durchgelaufen!«

Jemine, war das ein Garten! Ein Baum stand drin und drei Büsche; in einer Ecke war eine kleine Laube, in der Mitte ein Blumenbeet, um das ein Pfad lief, und das war alles.

»Das ist doch kein Garten!« schrie Kasperle entrüstet. »Das ist ’n Loch!«

»Sei froh, daß du den Garten hast!« meinte Meister Severin. »Viele Leute in der Stadt haben überhaupt keinen Garten, oft haben sie nur einen Blumentopf am Fenster stehen, mehr nicht.«

Nur einen Blumentopf! Kasperle seufzte tief. Die Stadtleute taten ihm arg leid. Er sah sich darum das Gärtchen noch einmal an und dachte: Vielleicht gefällt es mir doch; vielleicht kann ich auch ’n Purzelbaum schießen. Er rannte also erst dreimal um das Beet herum, rannte in das Haus hinein, und schwätzte dort mal eine Weile; er erzählte, was er alles erlebt hatte, und dann rannte er wieder zurück in den Garten. Dort wollte er erst einmal das Purzelbaumen versuchen. Es konnte das niemand so gut wie Kasperle. Er sagte also eins, zwei drei – und dann schoß er los.

»Zum Teufel! Was ist das?« schrie da jemand.

Kasperle sah sich ganz entsetzt um. Im Eifer war er gleich über die Mauer gepurzelbaumt und saß mitten auf einem Tisch in einem großen Tintensee: An dem Tisch saß ein alter Herr, der hielt die Feder steil in die Höhe und starrte das Kasperle höchst verwundert an.

Der alte Herr war ein sehr großer Gelehrter, der gerade in einem uralten Buch allerlei alten Zauberspuk gelesen hatte. Nun dachte er, das Kasperle sei so ein Zauberding, ein Alräunchen oder so etwas. Er fragte zitternd: »Habe ich dich gerufen?«

»Nä!« Kasperle machte einen Hopser, da war er vom Tisch herab, und weil ihm die ganze Sache höchst ungemütlich war, wollte er just über die Mauer zurück. Doch da erwischte ihn der alte Herr, der endlich etwas zu sich gekommen war, beim Jackenzipfel und fragte streng: »Wer bist du?«

»Kasperle!«

»Unsinn! Du bist ein ganz frecher Bube. Kasperles gibt’s nur auf Jahrmärkten. Gleich sagst du, wo du herkommst!«

»Von da drüben.« Kasperle deutete mit der Hand nach der Mauer hin.

»Bist du übergeklettert?«

»Nä, ich wollte nur mal ’n Purzelbaum schießen, und weil der Garten zu klein ist, flog ich gleich über die Mauer.«

»Aber du lügst ja!« rief der alte Herr entrüstet. »So was, das kann man nicht.«

»Doch, man kann’s!« Und weil der alte Herr Kasperle ein bißchen freiließ, purzelbaumte der schwipp, schwapp! über die Mauer zurück. Weg war er! Sonderbar, höchst sonderbar! Der alte Herr schüttelte eine Weile den Kopf, und gerade wie er zu einem Entschluß gekommen war, sagte drüben Frau Liebetraut: »Aber Kasperle, dein Hosenbödle ist ja ganz voll Tinte!«

Da erzählte Kasperle bedrückt das sonderbare Erlebnis, und Mutter Annettchen sagte gerade: »Na, das kann ja gut werden!« als bimelimbim, bimelimbim! die Hausglocke ertönte.

Kasperle rannte neugierig zur Haustür, nachzuschauen, wer es sein könnte. Die Türe tat sich auf, und zweifach ertönte der Ruf: »Da ist er!«

Der Herr Professor Schnappel stand auf der Schwelle; er starrte das Kasperle an, und das Kasperle starrte ihn ziemlich ängstlich an.

Endlich nahm der gelehrte Herr seinen langen Stock, zeigte damit auf Kasperle und fragte: »Wer ist das?«

»Ein Kasperle,« sagte Frau Liebetraut rasch.

»Unsinn! Kasperles gibt es nur auf Jahrmärkten, und da sind sie von Holz und –«

»Ich bin nicht von Holz,« schrie Kasperle entrüstet. »Und ich bin auch nicht vom Jahrmarkt; ich bin das einzige lebendige Kasperle.«

Da kam Meister Severin, der den Lärm gehört hatte. Er verneigte sich gar höflich vor dem alten Herrn, dessen Namen er wohl kannte, und dann erzählte er Kasperles Geschichte.

Darob erstaunte der Herr Professor Schnappel so, daß er sich seine Brille auf die alleräußerste Nasenspitze setzte, um das Kasperle ganz genau zu sehen.

Kasperle fand das Angestauntwerden etwas unbequem. Er schielte den Professor von der Seite an und fragte ein bissel sehr unnütz: »Ja, da staunste wohl?«

»Hm ja, höchst merkwürdig! Ich muß es studieren.« Der gelehrte Herr sah Kasperle unverwandt an und fragte: »Willst du mich jeden Tag besuchen? Ich will dich studieren.«

Dem Kasperle wurde himmelangst. Er dachte an den Herzog August Erasmus; vielleicht war der Professor auch so böse.

»Nä,« schrie er plötzlich und brach in ein so lautes Jammergebrüll aus, daß es nun dem Professor himmelangst wurde. »Es stirbt, dies sonderbare Ding stirbt!«

Darüber mußte Kasperle nun wieder lachen. Und so entsetzlich er vorher geschrien hatte, so herzhaft lachte er nun. Hin und her wackelte das Kasperle vor Lachen, und da knurrte und knarrte es auf einmal, als ob jemand eine alte verrostete Türe auf und zu mache: der Professor Schnappel lachte. Und weil bei ihm das Lachen eingerostet war, klang es so seltsam.

Kasperle fand das ungemein spaßig. Er hielt sich mit beiden Händen sein Bäuchlein fest, lachte und lachte, und der Professor hielt sich seinen Kopf fest; er meinte nämlich, der könnte ihm vor Lachen herabfallen.

Herr Severin lachte auch, die schöne Frau Liebetraut lachte, und zuletzt tönte auf den Kirchplatz hinaus ein so herzliches, frohes Lachen aus dem Hause, daß draußen die Leute stehen blieben und sagten: »Der neue Musikmeister muß aber ein lustiger Mann sein!«

Professor Schnappel mußte sich schließlich zur Erholung auf die Treppe setzen, so sehr hatte er gelacht. Und flugs setzte sich Kasperle ganz zutraulich neben ihn.

»Besuchst du mich nun jeden Tag?« fragte da der Professor.

»Hm!« Kasperles Lachgesicht wurde flink ernsthaft. »Haste ’ne Base, die Gundolfine heißt?«

Der Professor schüttelte erstaunt den Kopf. »Ich wohne allein,« sagte er, »ich habe nur ein Mädchen, das heißt Dörte und wird bald heiraten.«

»Ist sie böse?« fragte Kasperle ängstlich.

»Bewahre! Sehr nett und freundlich.«

»Bäckt se Kuchen?«

»Kuchen?« Der Professor sah höchst erstaunt drein. »Du ißt wohl gern Kuchen?«

»Ja, und Puddings.«

»Seltsam, höchst seltsam! Ich muß dich studieren.« Der Professor sah Kasperle wieder sehr erstaunt an, und dem schien das Studieren nicht sehr behaglich zu sein. Er fragte zögernd: »Wie machst du denn das?«

»Hm – ich sehe dich immer an!«

»Du sperrst mich nicht in einen Turm oder in ein finsteres Kellerloch?«

»Bewahre!« rief der Professor erschrocken. »So etwas werde ich doch nicht tun!«

Da war Kasperle zufrieden. Er gab seinem neuen Freund die Hand und versprach, ihn sehr oft zu besuchen. Der Professor bemerkte noch, es sei eine Tür in der Gartenmauer, vielleicht habe Herr Severin einen Schlüssel dazu, da könnte Kasperle immer durch den Garten kommen.

Den Waldhausleuten war es recht. Wenn das Kasperle im Nebengarten, der groß und weit war, spielen konnte, würde es nicht auf die Straße laufen. Sie gingen alle miteinander in den Garten, und dort suchten der Professor und Herr Severin nach der Türe. Die war nicht leicht zu finden, da Efeu die Mauer dicht überzog.

Warum also warten, bis man ein Türlein fand, wenn man auf Kasperleart so flink hinüber kam? Eins, zwei, drei –

»Alle guten Geister – was ist das?« rief Professor Schnappel. »Was ist das? Wo ist Kasperle hin und was schreit so?«

Ja, was schrie da drüben nur so?

»Kasperle ist’s,« rief Meister Severin. Er stieg flink über die Mauer, denn drüben ertönte ein ganz klägliches Hilfegeschrei. Kasperle mußte etwas geschehen sein.

»Au, au, au!« brüllte es.

Da kletterte auch der Professor über die Mauer – und was sah er drüben? Eine alte Frau hielt Kasperle fest und wichste ihn mit einem Stock durch.

»Loslassen!« Ritsch, zerrten Meister Severin und der Professor Kasperle weg, und alle beide schalten: »Was fällt Ihnen denn ein! Warum hauen Sie Kasperle so?«

O weh, es war die Base Mummeline aus Waldrast! Nun erkannte sie Herr Severin, und der Professor erkannte sie auch. Der Schullehrer in Waldrast, der vor dreizehn Jahren das Kasperle gar liebevoll aufgenommen hatte, sandte dem Professor immer seltene Pflanzen, Käfer, Steine – was er fand. Und die Base Mummeline brachte sie.

Die war an dem Vormittag gekommen, hatte von der Magd erfahren, der Herr Professor sei im Garten, und gerade war sie hineingekommen, da sauste pardauz! das Kasperle über die Mauer.

»Den nehme ich mit,« schrie die Base. »Unser Herzog will ihn haben und die Prinzessin Gundolfine –«

»Hach!« Da lag Kasperle. Er streckte Arme und Beine aus und behauptete: »Ich bin tot.«

»I wo, dich will ich gleich lebendig machen!« Die Base Mummeline schwang ihren Stock, und witsch! war das Kasperle auf und davon; drüben im kleinen Gärtlein war er und schrie laut: »Ich geh nicht mehr rüber. Das Studieren gefällt mir nicht; ich lasse mich nicht studieren.«

Das Ende vom Liede war böse: Der Professor warf die Base Mummeline zum Hause hinaus. Da ging die zu ihren Klatschfreunden und Tratschmuhmen, dem Kaufmann Schoflich und der Grünwarenhändlerin Hippauf, und erzählte denen, was für ein schreckliches Ding der neue Musikmeister in seinem Hause hätte. Und ganz gewiß würde der Herzog August Erasmus Krieg beginnen, – na, und dann könnten sie in Torburg was erleben!

Das gab ein Geschrei! Herr Schoflich und Frau Hippauf erzählten das flink weiter, und als Kasperle, nun schon wieder ganz vergnügt, zum erstenmal im Stadthaus seine Suppe aß, redeten sie draußen laut über das Kasperle. Der aber dachte nur an die gute Frau mit den Zuckerstengeln und an den Herrn Professor, der ihn zum nächsten Tage eingeladen hatte. Als Meister Severin etwas bedenklich sagte: »Ach, Kasperle, wie wird es dir in der Stadt ergehen!« rief der Schelm: »Gut; mir gefällt’s hier.«