Die Fenster der Zimmer, die Mister Stopps bewohnte, öffneten sich nach einem großen Garten. Einsam daneben lag ein altes, gelbes Häuschen, auch in einem Garten, und auf der Mauer, die beide Gärten trennte, hockte Kasperle, und Florizel spielte. Kasperles Beine baumelten wie zwei Uhrpendel hin und her, und an diesen Beinen packte Bob den Schelm, als er ihn auf der Gartenmauer entdeckte. »Kasperle, was machst du?«
»Ich denke nach.«
»Worüber?«
»Florizel ist traurig, ich hör’s.«
»Dein Florizel hat Liebesleid,« sagte Bob, »man hört es.«
»Was ist denn das?«
»Na, wenn einer ein schönes, junges Fräulein liebt,« antwortete Bob.
»Hach, ich weiß, und sie soll den Grafen von Singerlingen heiraten.«
»Wen?« fragte Bob erstaunt.
»Na, den Grafen von Singerlingen, so war’s bei Rosemarie.«
Weil nun Bob von der Geschichte kein Wörtlein wußte, erzählte Kasperle von seinem Freund, dem berühmten Geiger Michele, der die Gräfin Rosemarie geheiratet hatte. »Er konnt’s, weil ich zum Herzog August Erasmus ging,« schloß er.
»War’s da schön?«
»Nä,« Kasperle schüttelte sich, als wäre er ein Bäumlein im Winde.
Es fielen aber keine Äpfel und Birnen von ihm herab, sondern ein rotes Seidentäschlein purzelte aus seinem Hosensack dem Bob auf die Nase.
»Was ist denn das?«
»Hach, ein Späßlein,« schrie Kasperle.
Er griff nach dem Täschchen, aber Bob hatte es aufgemacht; drinnen lag, zierlich auf Elfenbein gemalt, das Bild eines feinen, hübschen Fräuleins.
»Gehört es dir?«
»Nä.« Kasperle beugte sich neugierig hinab und sah das Bild auch an.
»Hach, die ist alleweil an uns vorbeigefahren, und darum hat Florizel so traurig dreingesehen, gewiß, weil Mister Stopps sie nicht mitgenommen hat.«
»Wer ist sie denn? Und wem gehört das Täschchen?«
Bob wollte auch zuviel auf einmal wissen. Kasperle legte sich auf die Mauer und seufzte, aber Bob stupfte ihn so lange, bis er erzählte.
Das Bild stellte das Fräulein dar, das den Reisenden öfter unterwegs begegnet war, und das Täschchen gehörte Florizel.
»Und da drüben wohnt sie,« rief Kasperle und zeigte auf das kleine gelbe Haus. Flugs kletterte Bob auf die Mauer, und die beiden lustigen Kameraden saßen da und schauten in den fremden Garten hinein. Beide überlegten, wie wohl dem armen Florizel zu helfen sei. Da ging ganz ruhig ein alter Mann durch den Garten, dem sah Kasperle erstaunt nach, und endlich flüsterte er: »Der war’s.«
»Wer denn?« Bob war etwas ungeduldig, und Kasperle flüsterte ihm geheimnisvoll ins Ohr: »Der sie gefahren hat.«
»Also wohnt sie drüben?«
»Hach!« Kasperle rutschte erschrocken von der Mauer herunter, und Bob rutschte ihm flink nach. Unten fragte er: »Was hast du denn?«
»Da sitzt sie!«
»Wer?«
»Na, sie!«
»Ach, das Fräulein, das Florizel liebt?«
»Aber darum brauchst du doch nicht zu schreien.«
Kasperle lag am Boden und schnaufte vor Aufregung, und Bob stand daneben und sagte ärgerlich: »Was machen wir nun?«
»Du sagst es ihr.«
»Das geht doch nicht!«
»Dann singst du!«
Nun sang Bob auch gern, und der Gedanke, dem schönen jungen Fräulein ein Verslein vorzusingen, gefiel ihm wohl. Aber dann meinte er doch, man müsse erst wissen, was Florizel dazu sage. Der saß noch immer am offenen Fenster und sang leise traurige Lieder vor sich hin, als Kasperle angestiegen kam. Kasperle stellte sich breitbeinig vor ihn hin; er hatte mit Bob ausgemacht, er wolle heimlich erforschen, ob Florizel das Fräulein liebe. Nun fragte er mit schallender Stimme: »Liebst du sie?«
»Dummkopf,« brummte Bob hinter der Türe, »das ist doch nicht heimlich erforscht.«
»Wen denn? Was denn?« fragte Florizel.
»Na, sie!« Kasperle war höchst erstaunt und dachte, jeder müßte wissen, daß er das fremde Fräulein von unterwegs meinte.
»Ja,« sagte Florizel und lachte. Er hatte keine Ahnung, was das unnütze Kasperle wollte.
»Ich dacht’s doch!« Kasperle rannte zur Türe hinaus und suchte Bob.
Der hatte inzwischen einen Gärtner gefunden, und der hatte ihm erzählt, drüben im gelben Hause wohne ein alter Herr, der wäre erschrecklich geizig, und hätte jetzt so eine schöne, junge Nichte eingesperrt. Weil die auch reich war, gönnte er sie keinem, nur dem dicken Herrn von Löwenzahn, weil der auch reich war.
Na, das war eine Geschichte!
»Wir befreien sie!« Bob und Kasperle kletterten wieder auf die Mauer. Da sahen sie drüben eine Dame lustwandeln. Die war ganz eingehüllt in einen langen, schwarzen Schleier, und Kasperle schrie: »Sie ist’s!«
»Sie ist es nicht,« rief Bob.
»Doch, sie ist es, du mußt ihr dein Lied vorsingen.«
Die Dame setzte sich, und Kasperle gab dem neuen Freund ein solches Stößlein, daß der gleich in den Nachbargarten plumpste. Wie eine reife Pflaume fiel er hinein.
Die Dame saß auf einer Bank, sie drehte ihm den Rücken zu, und Kasperle flüsterte: »Mach doch, flink!«
Da schlich sich Bob heran, stellte sich hinter der Dame auf und sang leise:
»Schöne Maid, schöne Maid,
Florizel denkt dein.
Bald, bald dein Leid,
Bald dein Leid
Gelindert soll sein.«
Da drehte sich die Dame um, und –
Alle guten Geister, erschrak da Bob. Eine fremde, sehr böse aussehende Dame schaute ihn an, die fragte mit einer dünnen Quietschstimme: »Wer ist denn dein Herr Florizel?«
Da riß Bob aus. Eins, zwei, drei, war er auf der Mauer, und dann sauste er mit Kasperle zusammen herab, und beide purzelten in einen Rosenbusch. Das war weder ihnen noch dem Busch angenehm. Es gab Risse und Krätzer in den Gesichtern und an den Händen, und da rief gerade Mister Stopps oben, und jenseits rief die Dame. Es war sehr unangenehm!
Bob und Kasperle rannten in das Haus hinein zu Mister Stopps. Der sah sie erstaunt an und fragte, was sie getan hätten. Da erzählten sie eine traurige Geschichte von der Gartenmauer und dem Rosenbusch, von der fremden Dame sagten sie aber kein Wort. Auf einmal tat sich die Türe auf und die Dame aus dem Garten kam herein und fragte: »Ist hier Herr Florizel?«
»Ja, der bin ich!« Florizel blickte die Dame verwundert an. Die lächelte jetzt sehr holdselig und – bums! da fiel sie dem erschrockenen Florizel um den Hals. »Ach,« rief sie, »ich wußte ja nicht, daß du mich lieb hast, erst durch deine Boten habe ich es erfahren.«
Florizel war ganz verdutzt, er stand wie ein Pfahl, und Mister Stopps fragte: »Uer sein das?«
»Mein Bräutigam,« rief die Dame.
»Nä,« schrie da auf einmal Kasperle. »Das ist ’ne falsche. Das ist ein Gespenst!«
Die Dame erschrak arg vor Kasperles großer Nase und seinem frechen Gesicht, und da Florizel sie auch nicht hielt, plumpste sie vor Schrecken gerade Mister Stopps vor die Füße.
»Bitte,« sagte der, »das müssen Sie nicht tun!«
»Schrecklich!« stöhnte die Dame, und da sah sie Bob. »Er ist’s, der hat gesungen,« rief sie empört.
»Ja, aber ich habe eine andere gemeint!« stotterte Bob verlegen.
»Welche andere? Oh, ich weiß, er meint die Jungfer Angela, des Herrn Vetters Mündel. Ei, das sind ja schöne Geschichten! Na, ich werde es dem Herrn Vetter schon sagen!« Die Dame sprang auf und rannte aus dem Zimmer, und Mister Stopps sah ihr verdutzt nach: »Uas uollte sie?«
»Mich,« rief Florizel, »und angezettelt haben das Bob und Kasperle.«
»Bob ist dran schuld,« rief Kasperle vorschnell und unschuldsvoll.
Da sagte Bob traurig: »Aber Kasperle!«
»Ich auch, ich auch, ich am meisten!« Kasperle fing ein wildes Geheule an, und dann stöhnte er: »Ich kann doch nichts dafür, wenn die Falsche dasitzt. Ich wollte doch Florizel helfen!«
»Dummes, kleines Kasperle, warum wolltest du mir denn helfen?« fragte Florizel freundlich.
»Weil du eine Braut möchtest und – und –«
»Aber ich will ja gar keine!« Nun erzählte endlich Bob die ganze Geschichte und Mister Stopps schüttelte bald den Kopf vor Verwunderung.
»Aber ich kenne das fremde Fräulein doch gar nicht,« rief Florizel lachend.
»Aber du hast ihr doch zugenickt und hast ihr Bild.«
»Du doch auch, Kasperle. Und das Bild hab’ ich gefunden, gestern auf der Treppe. Ich glaube, es gehört Herrn von Löwenzahn. Wenn ich ihn gesehen hätte, dann würde ich es schon zurückgegeben haben.«
»Du hast aber gesagt, du liebst sie,« schrie Kasperle jetzt wütend.
»Ich habe Spaß gemacht. Ich wußte ja nicht, wen du meinst.«
»Hach!« Kasperle machte ein unglaublich dummes Gesicht, Florizel und Bob lachten, Mister Stopps sagte: »Kurios!« und dann mußten ihm Bob und Florizel die Geschichte noch dreimal erzählen, ehe er sie verstand. Da rief er: »Uir uollen abreisen.«
»Ja, abreisen.« Bob machte gleich einen Hopser, Kasperle sah aber traurig drein und sagte: »Florizel, wenn du sie nicht heiratest, muß sie Herrn von Löwenmaul –«
»Zahn,« schrie Bob.
»Löwenzahn heiraten, das ist schlimm.«
»Aber Herzenskasperle, ich kenne sie ja gar nicht.«
Kasperle senkte seine Nase, und während Bob rasch daran ging, die Sachen wieder einzupacken, schlich das Kasperle hinaus. Er ging wieder in den Garten, und auf einer ganz von Gebüsch überwachsenen Stelle kletterte er auf die Mauer und schaute in den Nachbargarten hinab. Der gefiel ihm gar nicht. Er sah wild und wüst aus. Wenig Blumen blühten darin, und gerade als Kasperle oben auf der Mauer sich zurechtgesetzt hatte, ging unten ein mürrisch dreinschauender Herr mit Herrn von Löwenzahn vorbei. Die beiden redeten etwas, das Kasperle nicht verstand, aber während sie noch sprachen, kam die bitterböse Dame angelaufen, der vorhin Bob das Lied gesungen hatte.
»Sie wollen Angela entführen,« rief sie.
»Wer – was?«
»Drüben einer, der sich Stopps nennt.«
»Ein Prinz von England.« Herr von Löwenzahn erzählte von Mister Stopps, und die Dame erzählte die ganze Geschichte, die sie erlebt hatte.
»Das ist unerhört, sie wollen wirklich Angela entführen!« riefen der Griesgram und Herr von Löwenzahn.
»Da kommt sie, ihr könnt sie gleich nach diesem Florizel fragen. Sie kennt ihn gewiß.«
Da kam das schöne junge Fräulein, das Kasperle unterwegs gesehen hatte, langsam daher. Wirklich, sie war es. Sie hing den Kopf und sah sehr traurig aus, und Kasperle dachte betrübt: »Ach, wenn sie lacht, ist sie noch viel schöner.«
Aber das Fräulein sah aus, als hätte sie das Lachen ganz verlernt. Dazu wurde sie auch noch angefahren von ihrem Vormund, ihrer Tante und Herrn von Löwenzahn.
Das arme Fräulein fing bitterlich an zu weinen, und Kasperle auf seinem Mauerversteck hätte beinahe mitgeheult. Und dann wurde er fuchswild, denn Herr von Löwenzahn sagte, die Hochzeit solle gleich morgen sein, das wäre am besten.
»Ja, und bis dahin wird sie in das Gartenhaus gesperrt,« rief der Griesgram zornig.
Aber da weinte das junge Fräulein sehr und sagte, darin wäre es so dunkel, und Ratten und Mäuse wären auch darin. Und vielleicht auch Fledermäuse.
Aber je mehr sie bat und weinte, desto mehr schalten der Griesgram und die Tante auf sie ein, nur der Herr von Löwenzahn war nicht für das Gartenhaus. Der Vormund schien aber ein äußerst zorniger Herr zu sein, er schrie immerzu: »Ins Gartenhaus, ins Gartenhaus!«
Potz Blitz, das ging dem Kasperle doch über die Hutschnur. Er hätte beinahe laut geschrien. Sie sperrten die arme Angela wirklich in das Gartenhaus, und der Vormund wollte gerade den gewaltig großen Schlüssel abziehen, als ihm Kasperle ein Scheit Holz auf die Nase warf. Im gleichen Augenblick zog ihn jemand von rückwärts von der Mauer und hielt ihm auch noch den Mund zu. Es war Florizel. »Sei still,« flüsterte der, »ganz still!« Kasperle war nun still, desto mehr schrien die drüben: »Da hat jemand Holz über die Mauer geworfen.« Florizel zog Kasperle in einen Winkel und kaum kauerten sie in ihrem Versteck, als Herr von Löwenzahn über die Mauer sah. Er konnte die beiden nicht erblicken und sagte: »Der Garten ist ganz leer, es war ein trockener Ast. Ein Zeichen, lieber Oheim, daß Sie Angela nicht einsperren sollen.«
»Eingesperrt wird sie, und damit Punktum!« rief der Griesgram. Noch ein paar Minuten redeten sie zusammen, dann sahen Florizel und Kasperle sie fortgehen, und ein Weilchen später war es ganz still. »Kasperle,« sagte Florizel, »gelt, dem armen, schönen Fräulein helfen wir zwei, aber kannst du den Mund halten?«
Platsch, schlug Kasperle gleich mit beiden Händen auf seinen Mund, und Florizel nickte. »So ist’s recht,« lobte er, »und nun paß einmal auf, daß niemand kommt.«
Er kletterte auf die Mauer und hob Kasperle auch hinauf. Der mußte nach links und nach rechts sehen, während sich Florizel auf das Dach des Gartenhauses setzte und durch den Schornstein in das kleine Haus hinabsang:
»Schönstes Jungfräulein,
Mußt stille sein,
Springen auch die Ratten und Mäuse,
Kommt doch bald leise, leise
Einer übers Mäuerlein,
Dich, Angela, zu befrein,
Und beim Mondenschein
Geht’s in die weite Welt hinein.
Rate, wer kann das sein?«
Im Häuschen war es erst ganz still. Dann tönte ein feines Singen heraus, das hörten die beiden wohl.
»Florizel, der Sängersmann,
Mich wohl befreien kann,
Florizel, vergiß mein nicht
Beim Mondenlicht.«
Da sang Florizel noch einmal:
»Allerschönstes Jungfräulein,
Nicht bange sein!
Florizel hält sein Wort,
Noch heut führt er dich fort.«
»So, das ist ja eine nette Geschichte,« sagte Bob, der die ganze Singerei mit angehört hatte. Er stand im Garten, und das Kasperle hatte vor lauter Mitgefühl den Bob gar nicht gesehen. Erst wollte Bob schelten, aber da sagte Florizel: »Bob, du mußt uns helfen.« Und Bob, der lieber drei dumme als einen klugen Streich machte, sagte ja. »Und um Mitternacht retten wir sie. Das Fräulein Angela muß halt der neue Diener sein.«
»Ja, braucht denn Mister Stopps noch einen Diener?«
»Ha, wie kann der wissen, wer hinten aufsitzt!« rief Bob.
»Nun aber flink hinein, drinnen steht der ganze Flur voll Besuch; sie wollen alle den Prinzen von England sehen!«
»Ja,« schrie Kasperle, »was machen wir da?«
»Nichts weiter, als du legst dich ins Bett und spielst den Prinzen von England. Mister Stopps schläft. Kommt flink hinten herum. Es darf uns niemand erwischen.«