Am nächsten Abend hatte Meister Hirsebrei gar keine Lust, zu Meister Drillhose zu gehen, er sagte: »Mit dem Kasperle ist es doch nur eine Lügengeschichte, das gibt es nicht.«

Aber Frau Mariechen bat und bat: »Laß uns doch hingehen, ich glaube an das Kasperle.«

Da ließ sich Meister Hirsebrei endlich erweichen und ging mit, aber gleich an der Türe rief er: »Geht die Lampe wieder aus?«

»Nein, ich habe auch Petroleum im Vorrat.«

»Und Zylinder?«

»Auch Zylinder.«

»Au!« schrie Meister Hirsebrei, es krachte, es splitterte, Meister Hirsebrei hatte sich auf die Zylinder gesetzt.

»Sie dürfen sie nicht auf den Stuhl legen.«

»Sie dürfen sich nicht draufsetzen, man setzt sich nicht auf Zylinder.«

»Aber auf Stühle.«

So stritten sich die beiden eine Weile herum, bis Madame Käsewurm sagte, es wäre besser, nicht zu streiten, sondern einen Zylinder zu holen, sonst bekäme man das Kasperle wieder nicht zu sehen.

»Das bekommt man ohnehin nicht zu sehen.« Meister Hirsebrei war mißtrauisch.

»Warum denn nicht?« fragte Madame Käsewurm.

»Weil es kein Kasperle gibt.«

»Oho, wer sagt das?«

»Ich!«

»Der, der daran zweifelt, ist sehr dumm.« Meister Drillhose war in heller Wut und Meister Hirsebrei war beleidigt.

Sie hätten sich wohl wieder gestritten, wenn Frau Mariechen und Madame Käsewurm nicht zum Frieden gemahnt hätten. Endlich gaben sich die beiden die Hand, Meister Drillhose sagte: »Nun wird Kasperle gezeigt.«

Er öffnete wieder den Deckel vorsichtig, ließ ihn wieder fallen und sagte: »Ist auch die Katze nicht im Zimmer?«

»Nein!« riefen alle, »nun machen Sie endlich auf!«

Da machte Meister Drillhose endlich den Kasten weit auf und darin lag wirklich ein Kasperle und schlief.

Wirklich ein lebendiges Kasperle.

Sein unnützes Kasperlegesicht sah ganz sanft und ruhig im Schlafe aus, es lag da, die Hände gefaltet, als wäre es eben eingeschlafen.

»Der ist von Wachs,« rief Meister Hirsebrei.

»Unsinn, er ist lebendig.« Meister Drillhose war empört, daß man sein Kasperle für Wachs hielt.

Aber Meister Hirsebrei war ein ungläubiger Thomas, der mußte doch erst sehen, ob es Wahrheit war, daß Kasperle lebte. Er zog geschwind aus Mutter Mariechens Federhut eine Feder heraus und kitzelte Kasperle an der Nase.

Da geschah ein Wunder.

Kasperle nieste. »Hatzi, hatzi!« Ganz laut und vernehmlich und auf einmal schlug Kasperle groß und rund seine Augen auf. Es war erwacht.

»Hatzi, hatzi!« Kasperle nieste und nieste, als wollte es alles von den fünfundsiebzig Jahren nachholen: »Hatzi, hatzi!«

»Sie haben ihm einen Schaden zugefügt,« rief Meister Drillhose leise.

»O nein,« rief Kasperle. »So ’n bißchen Nießen schadet nichts. Aber wo ist denn der Oskar?«

Kasperle sah sich mit verwunderten Augen rings um, sah auch Meister Drillhose an, als hätte es ihn nie gesehen, aber der sagte: »Oskar heiße ich, Oskar Drillhose.«

»O nä, der ist doch nicht alt, das ist ’n ganz junger Mann.«

»Aber Kasperle glaub’ mir’s doch, das war mein Vater, der ist tot und ich bin alt geworden, du hast aber auch fünfundsiebzig Jahre geschlafen.«

»Potzwetter, das ist lange.« Kasperle steckte vor Erstaunen sein Bein in den Mund und dann sagte er: »Wo ist Frau Marlenchen?«

»Die ist lange tot.«

Da fing das Kasperle an furchtbar zu weinen, die Wahrheit machte es erschrecklich traurig. Plötzlich aber erfaßte ihn ein großer Zorn, er schrie: »Warum haste mich schlafen lassen?«

»Ich konnte dich nicht erwecken.«

Kasperle sann nach. Was Meister Drillhose sagte, war wohl recht und auf einmal fiel ihm ein, daß Marlenchen ihn gewarnt hatte, aus einem Fläschchen zu trinken, und daß er doch getrunken hatte. Davon war er gewiß eingeschlafen. Er seufzte tief und Meister Hirsebrei sagte: »Ist’s wirklich ein ganz richtiger Kasper, kein Mumpitz?«

Schwupp – hatte er eine Ohrfeige weg, die nur so knallte, und Kasperle schrie: »Ich bin kein Mumpitz, ich bin ein echtes lebendiges Kasperle, so eins wie ich bin, gibt es nur einmal in der Welt.«

»Das ist nicht wahr,« rief Madame Käsewurm, die bis dahin ganz stillgewesen war. »Ich habe auch ein lebendiges Kasperle!«

»Das ist nicht wahr!«

Schwuppdiwupp war Kasperle aus seinem Kasten herausgeturnt und saß auf dem Kleiderschrank. »Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr. Andere lebendige Kasperles gibt’s nicht, ich bin das einzige.«

»Stimmt nicht, meines soll sogar ein Prinz sein.«

»Ein Prinz!« Kasperle riß den Mund vor Erstaunen weit auf, der Prinz Bimlim fiel ihm ein, die Kasperleinsel, Mister Stopps, Prinzessin Gundolfine, Marlenchen, Meister Severin, an alle mußte er denken, und ein gewaltiger Schmerz überkam ihn, nicht nur Marlenchen, auch alle anderen waren tot. Nur der Kasperleprinz lebte, Bimlim, der auch ein Kasperle war wie er, und große Sehnsucht erfüllte ihn, den Kasperleprinzen zu sehen. Kasperle wußte in seinem Schmerz und seiner Sehnsucht sich keine andere Hilfe als zu weinen und er weinte nicht sanft und leise, er heulte laut nach echter Kasperleart, er heulte so sehr, daß Meister Drillhose Angst bekam, die ganze Gasse könnte es hören. Er sagte mitleidig: »Aber Kasperle, Meister Friedolin hat doch noch meinem Großvater erzählt, du wüßtest nichts mehr von allem, wenn du geschlafen hast.«

»Ich habe doch so kurz geschlafen, nur fünfundsiebzig Jahre, nicht mal ausschlafen kann man.«

»Erst hast du dich beklagt, daß man dich nicht geweckt hat.«

»Dumm, dumm,« schrie Kasperle, »eine Nacht schlafen und ausschlafen ist doch ein Unterschied, ausschlafen heißt achtzig Jahre schlafen. Zu dumm.«

»Na Kasperle, sei nicht frech.«

Da mußte Kasperle lachen, ein bißchen laut war es schon, es lachte so laut, daß Meister Drillhose nun wieder dachte, die ganze Gasse müßte glauben, er wäre verrückt geworden.

»Kasperle, du bist übergeschnappt,« schrie er.

»Warum?« Kasperle riß den Mund weit auf vor Erstaunen.

»Weil du so lachst!«

»Huch, ich bin doch ein Kasperle. Kasperles werden nicht verrückt.«

»Es ist aber unschicklich.«

»Huch, ich habe Sehnsucht.«

»Nach was denn?«

»Nach Mittagessen und dem anderen Kasperle.«

Nach Mittagessen hat doch kein Mensch in deutschen Landen um 8 Uhr abends Sehnsucht, und Meister Drillhose fiel es schwer aufs Herz, daß er ein armer Mann und Kasperle ein Vielfraß war. Das wußte er noch aus seiner Jugendzeit, daß sein Vater oft geklagt hatte über das Geschlinge Kasperles. Nicht satt zu kriegen war der gewesen. Als er gerade darüber nachdachte, daß er Kasperle nur ein Butterbrot geben konnte, sagte Madame Käsewurm: »Ich habe zu Hause einen Kuchen, vielleicht ißt Kasperle davon ein Stück.«

Was Kuchen war, wußte Kasperle noch, das hatte er nicht verschlafen, er schlug einen Purzelbaum und schrie: »Huch Kuchen, fein, den esse ich auf.«

»Doch nicht den ganzen?« rief das alte Fräulein.

»Ja, den ganzen Kuchen.«

»Ja,« sagte Madame Käsewurm, »dann dürfen wir das andere Kasperle nicht wecken, denn für zwei Kasperles langt er dann nicht.«

»Aber Mister Stopps gibt uns Geld, der ist reich.«

»Ach, Mister Stopps ist lange tot.«

Wieder wurde das Kasperle traurig und klagte: »Sind denn alle tot?«

»Aber Kasperle, wie kann man fünfundsiebzig Jahre schlafen und denken, alle leben noch, die damals gelebt haben. Sie waren doch alle schon alt, als du eingeschlafen bist. Denke doch, Marlenchen war schon Großmutter, nun lebt ihre Urenkelin hier,« sagte Meister Drillhose.

»Warum denn hier? Wo bin ich denn?«

Kasperle hatte wirklich sehr viel verschlafen, er wußte nicht einmal mehr, daß er in Torburg eingeschlafen war, ja er wußte nicht einmal, daß er früher in Torburg gelebt hatte. Erst als ihm Meister Drillhose von Torburg und den alten Freunden erzählte, wachte sein Gedächtnis mehr und mehr auf und zuletzt rief er: »Aber wie heißen die Urenkel meiner alten Freunde, die hier leben?«

»Rosemarie Severin, diese ist eine Ururenkelin von Meister Severin und ein sehr kluges Mädchen, sie geht auf das Gymnasium und ist Erste in der Sexta.«

»In was?« rief Kasperle und riß seine Augen weit auf, denn wie soll ein Kasperle wissen, was es bedeutet, Erste in einer Sexta zu sein. Meister Drillhose wollte es ihm erklären, aber Kasperle fragte nur: »Spielt sie mit mir wie Marlenchen?«

»Das glaube ich nicht. Das tut vielleicht Marlenchen Michael, die Urenkelin von dem berühmten Geiger Michael, sie geigt zwar auch.«

»Was tut sie?«

»Sie geigt.«

»Kann denn ein Mädchen so etwas?«

Kasperle war doch sehr dumm. Er wußte gar nicht, was Mädchen heute alles können, und als er gar hörte, Liebetraut Severin wollte Malerin werden, da schrie er kläglich: »Ist denn kein vernünftiger Junge da, der mit mir hopsen kann? Was soll ich denn machen, wenn alle so erschrecklich viel lernen?«

»Da ist Michael Florizel und Henry Stopps, das sind zwei wilde Jungens, sie gehen mit Rosemarie Severin in eine Klasse.«

»Huch, dann lernen sie auch?«

»Lernen müssen alle Kinder. Marlenchen und das Prinzlein haben doch auch mit dir gespielt und dabei doch gelernt.«

»Na ja, aber das Spielen war die Hauptsache. Können denn die Kinder heute noch kaspern?«

»Das können sie schon, Kinder kaspern immer.«

»Lebt denn der Herzog noch?«

»Welcher Herzog?«

»August Erasmus.«

»Ach, du Dummkopf, wie soll denn der noch leben, der wäre ja über hundert Jahre alt! Es lebt aber noch ein Prinzlein August Erasmus, das ist das, das mit Henry Stopps in die Schule geht.«

»Prinzen gehen doch nicht in die Schule.«

»Doch, heute tun sie es.«

Das wollte dem Kasperle alles nicht in den Kopf. Lauter fremde Kinder, die alle fleißig lernten, wie sollte es da mit seinem Kaspern werden. Er gähnte gewaltig und sagte, er werde wieder einschlafen. Da wußte aber Meister Hirsebrei ein Zauberwort. Er sagte: »Ich denke, Madame Käsewurm hat einen Kuchen und ein anderes Kasperle.« Heida, da machten Neugier und Hunger das Kasperle wieder munter, er purzelbaumte über den Tisch weg, riß beinahe die Lampe um und landete auf dem Schoß von Madame Käsewurm.

»Die Lampe, die Lampe!« schrien Meister Hirsebrei und Meister Drillhose wie aus einem Munde.

»Es ist kein rechtes Licht, Sie müssen elektrisches Licht haben,« sagte Meister Hirsebrei, der sehr für elektrisches Licht schwärmte.

»Was ist denn das?« Kasperle hatte das Wort noch nie gehört.

»Licht, das man bloß anzudrehen braucht, dann brennt es.«

»Brennt man sich?«

»Nein, man brennt sich nicht.«

Kasperle staunte Bauklötze. Es rief: »Das muß ich sehen!«

»Komm zu mir, da kannst du es sehen,« sagte Madame Käsewurm.

»Du gibst mir auch Kuchen, ich habe recht lange keinen Kuchen gegessen.«

»Ja, fünfundsiebzig Jahre. Das ist lange.«

»Nein kurz, wenn man doch schläft.«

Da hatte Kasperle recht. Aber wer außer einem Kasperle kann fünfundsiebzig Jahre schlafen? Nicht einmal ein Murmeltier.

»Aber nun kommt, wir wollen jetzt mein Kasperle aufwecken,« rief Madame Käsewurm.

»Wie heißt es, Bimlim?«

»Das weiß ich nicht, Kasperles haben keinen Namen.«

»Doch, ich heiße Peringel.«

»Der Schlingel,« vollendete Meister Drillhose und Kasperle lachte, denn ihm fiel ein, daß man ihm wirklich den Namen gegeben hatte.

»Nun aber hinüber,« rief Meister Hirsebrei.

»Ja, zum Kasperle und zum Kuchen«.

Da liefen alle über die Straße und Kasperle staunte wieder Bauklötze, als er ein Auto daherfahren sah.

»Das fährt ohne Pferde!« schrie er und zappelte wie ein Frosch.

»Es ist doch ein Auto.«

»Was für ein Ding?«

Kasperle kannte kein Auto, Kasperle kannte vieles nicht und Kasperle wäre beinahe vom Auto überfahren worden. Da nahm ihn Meister Hirsebrei auf den Arm und trug ihn über die Straße in das Haus, in dem Madame Käsewurm wohnte.