Mister Stopps schlief. Er saß in einem hohen Lehnstuhl, schnarchte ganz gemütlich und hatte den Arm auf den Tisch gelegt. Unter dem Arm aber lag der Brief, den Kasperle gern haben wollte.
Eine große bläuliche Fliege wollte sich Mister Stopps gerade auf die Nase setzen, als Kasperle sie wegjagte.
Ja, Kasperle! Das tat das aber nicht aus Mitleid und Liebe, es wollte nur nicht, daß Mister Stopps aufwachen und ihn erblicken sollte.
»Rrrrrrrrrr« schnarchte Mister Stopps.
Kasperle ging um ihn herum wie die Katze um den heißen Brei. Seine Augen blinkerten, und wer das Kasperle jetzt ansah, konnte merken, daß es ein rechter Schelm war.
Da erblickte Kasperle den Brief unter dem Arm von Mister Stopps, und beinahe hätte es einen lauten Freudenruf ausgestoßen. Es versuchte den Brief wegzuziehen, aber es wollte und wollte nicht gelingen, weil der Arm von Mister Stopps gar zu schwer auf dem weißen Umschlag lag.
Was sollte Kasperle beginnen?
Feuer schreien, dachte es, dann springt Mister Stopps auf und rennt hinaus und dann –, dann war das Feuerlein nicht da, und jeder wußte gleich: Kasperle hat den Streich gespielt.
Mister Stopps würde sofort den Brief vermissen und dann –
Weiter mochte Kasperle gar nicht denken. Es fand ohnehin, es müßte sich an diesem Tag schrecklich quälen mit dem dummen Nachdenken.
Vor lauter Anstrengung steckte Kasperle das linke Bein in den Mund, da ging es mit dem Nachdenken gleich viel besser.
Auf einmal ließ es das Bein fahren und sprang mit solchem Getöse auf, daß Mister Stopps im Schlafe brummte: »Oh, Kahspärle, du sein böse.«
Wenn Mister Stopps nur gewußt hätte, was für einen schlimmen Gedanken das Kasperle hatte.
Das blieb vor Schreck wie angewurzelt stehen. – Ob Mister Stopps nicht aufwacht? dachte es.
Aber der wachte nicht auf.
Der schnarchte – risselrassel – weiter. Und Kasperle ging leise, leise zur Türe hinaus.
Nach ein paar Minuten war er wieder da und trug in der Hand – ein Schlänglein. Ein graues, unschuldiges Schlänglein, das keine Giftzähne hatte. Oh, aber Mister Stopps wäre doch furchtbar erschrocken, wenn er es gesehen hätte, denn Mister Stopps hatte eine ganz unbändige Angst vor Schlangen.
Und das schlimme Kasperle legte das Schlänglein gerade vor seinem Herrn nieder, kroch dann unter dessen Stuhl und zog eine große Nadel hervor.
Aber Kasperle!
Wirklich, das schlimme Kasperle stach zu und stach Mister Stopps in die Wade.
Ein gellender Schrei ertönte. Mister Stopps sprang auf, sah sich um und sah das Schlänglein zu seinen Füßen.
Das konnte jeder sehen, daß das ein harmloses Schlänglein war, aber Mister Stopps sah es nicht. Der begann furchtbar zu schreien und rannte eins – zwei – drei aus dem Zimmer. »Eine Schlange hat mir totgebeißen, ganz totgebeißen,« schrie Mister Stopps.
»Ih wo,« sagte Bob, der herzugelaufen kam und beinahe gesagt hätte: »Das wird Kasperle gewesen sein.« Denn Bob hatte Kasperle sehr im Verdacht, es würde an diesem Tag Mister Stopps noch ein Streichlein spielen. Doch kein Kasperle war zu sehen und unten lag ganz matt und dösig das Schlänglein. Kasperle hatte es vorher zu fest angepackt, das hatte das arme Tier nicht vertragen.
»Da sein sie!«
»Die beißt nicht,« sagte Bob.
»Doch, sie hat gebeißen, hier,« und Mister Stopps zeigte kläglich auf seine Wade. »Ich bin vergiften, ich uerde stirbsen.«
»Ih wo,« sagte Bob wieder. Etwas anderes fiel ihm nicht ein.
»Nicht ih uoh, ja,« rief Mister Stopps ärgerlich, »hol schnell einen Arzt!«
Bob sah ein, Widerspruch half hier nichts, also ging er hinaus, schickte draußen Eino nach dem Doktor und brachte seinem Herrn ein Brausepulver. »Das ist gut gegen Schlangenbiß,« sagte er.
Und Mister Stopps glaubte es und trank. »Es uird mich schon besser,« behauptete er dann.
Da kam der Doktor.
Einer, der viel wußte, war es nicht gerade. Als er den Nadelstich sah, dachte er, etwas hat gestochen, was es war, wußte er nicht, doch dem Schlänglein traute er die Untat auch nicht zu; aber es konnte gar wohl eine bitterböse giftige Fliege gewesen sein. Daher sagte er: »Mister Stopps muß ins Bett und Punsch trinken, viel Punsch.«
Beides tat Mister Stopps gern. Er legte sich daher sehr geschwind in sein Bett und Angela bereitete ihm Punsch, wovon Mister Stopps so viel trank, daß er den Brief ganz vergaß, aber Kasperle vergaß er nicht, denn er sagte zu Bob: »Sperre Kahspärle ein und bring mich das Schlüssel.«
Bob ging und Kasperle hörte ihn kommen. Aber Kasperle riß nicht aus, er ließ sich ganz geduldig einsperren; in seinem Hosensäcklein klapperte ja der Schlüssel zu dem geheimnisvollen Türchen.
Bob wunderte sich sehr. Sonst schrie Kasperle immer, daß es die ganze Nachbarschaft hören konnte und Corelli, Bollini und Vanini, die Nachbarn, sagten dann jedesmal: »Jetzt wird das arme, arme Kasperle vom bösen Mister Stopps eingesperrt.«
Heute war Kasperle mucksstill, einmal nur fragte es: »Stirbst Mister Stopps?«
»Bewahre,« rief Bob lachend. »Wer weiß, was den gestochen hat? Die Schlange sicher nicht.«
Da schoß Kasperle vergnügt einen Purzelbaum in sein Gefängnis hinein.
Weil nämlich Mister Stopps gar so sehr geschrien hatte, war Kasperle der Meinung, das Schlänglein hätte sich am Ende besonnen und wirklich gebissen.
Nun war er froh, und bettelte auch nicht wie sonst: »Bob, bleib bei mir!«
Bob wunderte sich, und noch mehr hätte er sich gewundert, wenn er gesehen hätte, was Kasperle tat, als Bob die Kammer verlassen hatte.
Kasperle kletterte hinauf zu dem vergitterten Fenster und las dort den Brief.
Potztausend war das ein Brief!
Vorwürfe gegen Mister Stopps standen darin, daß er sein Wort nicht gehalten und dem armen Kasperle keine Ferien gegeben hätte.
Und was stand noch drin?
Pardauz – fiel Kasperle von oben herunter und lag auf der Erde und heulte ganz schrecklich. Es war gut, daß Mister Stopps so viel Punsch getrunken hatte, daß er dachte, er träume das Geheule. Bob aber wußte, daß es kein Traum war, sondern daß Kasperle, sein armes Kasperle so sehr heulte.
Er lief zu ihm, Angela und Eino kamen auch herbei, der Nachbar Corelli kam angelaufen und alle umstanden das Kasperle und fragten, was ihm fehle. Aber Kasperle gab keine Antwort, sondern brüllte immer jämmerlicher, und der Doktor, der gerade kam, nach Mister Stopps zu sehen, sagte: »Er hat Leibschmerzen.«
»Nein, er hat Heimweh,« meinte Bob.
Nun sind Heimweh und Leibschmerzen zwei recht verschiedene Dinge, und der Doktor ärgerte sich über Bobs Widerspruch. »Er hat Leibschmerzen, ich weiß das besser,« sagte er und fragte: »Sag‘ Kasperle, was hast du gegessen?«
»Nur ’nen halben Kuchen.«
»Sehen Sie, Herr Bob, er hat Leibschmerzen.«
»Nä,« schrie Kasperle grimmig, »ich hab‘ keine.«
Der Doktor war etwas verdutzt über diese Antwort, dann erklärte er: »Ich bin kein Kasperle-Doktor« und ging davon.
Kasperle hörte auf einmal zu weinen auf, ihm war nämlich beim Anblick des Doktors Mister Stopps eingefallen, am Ende kam der, um nach ihm zu sehen.
Kasperle war so mucksstill, daß Angela sagte: »Nun stirbt er.«
»Nä, ich stirbse nicht, ich schlafe.«
Und – risselrassel – fing Kasperle so mächtig an zu schnarchen wie vorher Mister Stopps. Dabei glitzerten seine Äuglein und Bob sagte: »Kasperle, du bist ein Schelm.«
Das war Kasperle schon, aber kaum waren Bob, Angela und Eino hinausgegangen, da war Kasperle nicht mehr der Schelm, sondern das arme, traurige Kasperle. Er las zum zweitenmal den Brief, las zum zweitenmal, daß in acht Tagen Michele, Rosemarie, Herr Severin, Frau Liebetraut, das feine Marlenchen und das Prinzlein in Genua sein und mit dem Schiff »Miramare« nach Amerika reisen wollten.
Alle miteinander.
Und Mister Stopps sollte mit Kasperle nach Genua kommen, damit alle das Kasperle noch einmal sehen konnten.
Was sie alle in Amerika wollten, stand nicht in dem Brief. Kasperle dachte auch nicht weiter darüber nach. Nur der Gedanke, daß er alle wiedersehen sollte, beschäftigte ihn. Er wußte ganz genau, Mister Stopps würde nicht mit ihm nach Genua reisen, der hatte viel zu große Angst, das Kasperle könnte ihm genommen werden.
Das arme Kasperle mußte sich an diesem Tage wahrlich sehr mit Nachdenken anstrengen. Aber so viel er auch nachdachte, wie er nach Genua kommen könnte, es fiel ihm nichts ein.
Auf einmal ging es draußen – traratrara – die Post fuhr vorbei und diese gelbe Post fuhr bis Genua. Mister Plumpudding, der Freund von Mister Stopps, war vor einigen Wochen von Genua hergereist gekommen. Er wohnte jetzt auch in Lugano und war ein närrischer kleiner Mann, von dem Kasperle manchmal dachte, er wäre eigentlich ein halbes Kasperle.
Wenn nun Kasperle als Mister Plumpudding nach Genua reiste?
Das war ein Gedanke.
Aber zu einer Postfahrt gehört Geld.
Woher das nehmen?
Auf einmal fielen dem Kasperle seine goldenen Sparpfennige ein, mit denen er manchmal spielte. Mister Stopps hatte sie ihm geschenkt und dazugesagt: »Verlier‘ sie nicht, das ist viel Geld!«
Was viel Geld war, wußte Kasperle nicht. Aber Bob hatte einmal erzählt, eine Postfahrt koste viel Geld, also würden seine Goldstücke wohl reichen. Und wenn Kasperle Bobs guten Anzug anzog und die Hosen kurz umkrempelte und Bobs neuen Hut aufsetzte, konnte man ihn schon für Mister Plumpudding halten.
So dachte wenigstens das Kasperle. Es kroch nun ganz zusammen vor lauter Nachdenken, wie er es machen sollte, um unbemerkt zu entkommen. Als Bob nach einem Weilchen nachzusehen kam, lag das Kasperle wie ein Bündlein zusammengerollt und schlief. Und nach einer Stunde, als Bob ihm das Vesperbrot brachte, schlief er immer noch. Ja, lieber Himmel, was konnte Kasperle zusammenschlafen! Er erwachte auch nicht, als Bob ihn rief. »Er will nicht, der Eigensinn,« dachte Bob, »aber den Kuchen wird er schon essen.«
Er ließ alles stehen und ging wieder hinaus. Saß dann ein Weilchen bei Mister Stopps, bis der auf einmal sagte: »Da draußen sein Kahspärle gelaufen.«
Bob schüttelte den Kopf, er hatte nichts gesehen und Kasperle war doch eingesperrt. Mister Stopps hatte auch soviel Punsch getrunken. Bob ging wieder, um nach Kasperle zu schauen, aber Kasperle lag noch immer da und schlief. Bob kam und meldete dies seinem Herrn.
Doch Mister Stopps wollte das nicht glauben. Er behauptete: »Ich sah, uie Kahspärle laufte.«
»Sehen Sie selbst nach,« bat Bob.
Da stand Mister Stopps auf und sah nach und da lag das Kasperle und schlief. Es regte und rührte sich nicht. Ganz fest schlief es. Mister Stopps konnte rufen, so viel er wollte, kein Kasperle gab Antwort.
»Es sein eigensinnig,« sagte Mister Stopps, »es kriegen nichts zu essen.«
Das sagte er nur, weil er dachte, nun wird Kasperle aufspringen und sein Essen verlangen.
Das war doch sonderbar. Kasperle sprang nicht auf.
»Kahspärle, steh auf!«
Kein Kasperle stand auf.
Da erhob sich draußen ein lautes Wehgeschrei. Angela klagte: »Das hat Eino getan!«
»Was ist da draußen?« fragte Mister Stopps und lief geschwinde aus der Kammer, denn neugierig war er ziemlich. Draußen stand Angela und rang die Hände: »Mein gutes Tuch ist weg, mein allerbestes, das mit den Rosen! Eino hat es genommen.«
»Das ist nicht wahr!« rief Eino empört.
»Doch, es ist wahr!«
»Nein, Kasperle wird es genommen haben.«
»Kasperle ist eingesperrt.«
»Ich sah es vorhin im Garten.«
»Das kann nicht sein!«
»Doch, es war Kasperle, es trug ein großes Bündel.«
»Kahspärle, oh mein Kahspärle, es schlafen,« rief Mister Stopps.
Das glaubte Eino nicht und Bob mußte ihm erst das schlafende Kasperle zeigen. Da sagte Eino: »Ich werde ihm einen Rippenstoß geben, dann wird es munter.«
Bob sagte: »Laß das!« aber Eino tat es doch.
Pardauz – rollte das Kasperle ein Stück weg, es war aber kein Kasperle, es war Kasperles Kittel und Angelas Tuch.
Kasperle war nicht da!
Kasperle war ausgerissen!
Mister Stopps kam wehklagend herbei. »Kahspärle ist ausgereißt,« jammerte er. Angela kam und jammerte auch, und dabei dachte sie, vielleicht sitzt Kasperle in der Speisekammer.
Aber da saß er auch nicht.
Er saß nirgends, soviel auch alle suchten. Kasperle war verschwunden, von den Nachbarn hatte ihn auch niemand gesehen, und Mister Stopps war ganz verzweifelt. Er versprach dem viel Geld, der Kasperle zurückbringen würde, aber niemand fand Kasperle. Sogar zur Post ging Bob, ob Kasperle weggefahren wäre.
Nein, kein Kasperle war weggefahren.
Es war überhaupt kein Gast in Lugano in die Post gestiegen.
Wo war Kasperle? –