Makaria

Jetzt entstand ein solches Wehklagen nicht nur unter den Herakliden, sondern auch unter den Bürgern Athens, daß das laute Jammergeschrei empordrang bis zur Königsburg. Dort waren bald nach dem Einzuge der Flüchtlinge die greise Mutter des Herakles, Alkmene, von Alter und Leid gebeugt, und seine blühende Tochter Makaria, die ihm Deïanira geboren hatte, vor den Blicken der Neugierigen von Demophoon geborgen worden und lebten in stiller Erwartung dessen, das da kommen sollte. Alkmene, hochbejahrt und in sich gekehrt, vernahm von dem, was draußen vorging, nichts. Ihre Enkelin aber horchte auf die Jammerlaute, die aus der Tiefe emporstiegen. Es ergriff sie eine Angst um das Schicksal ihrer Brüder, und sie eilte, nicht bedenkend, daß sie allein und eine in tiefer Zurückgezogenheit aufgewachsene Jungfrau sei, in das Gewühl des Marktes hinunter. Die versammelten Bürger mit ihrem Könige und nicht weniger Iolaos mit seinen Schützlingen erstaunten, als sie die Jungfrau in ihre Mitte treten sahen. Diese hatte sich eine Weile unter dem Haufen verborgen gehalten und auf diese Weise erlauscht, in welcher Not sich Athen und die Herakliden befänden und welch ein verhängnisvoller Orakelspruch einem glücklichen Erfolge jeden Ausweg zu versperren schiene. Mit festen Schritten trat sie daher vor den König Demophoon und sprach: »Ihr suchet ein Opfer, das euch den glücklichen Ausgang des Krieges verbürge und durch dessen Tod meine armen Brüder vor der Wut des Tyrannen geschützt werden mögen; eine reine Jungfrau aus edlem Stamme sollt ihr töten. Habt ihr denn gar nicht daran gedacht, daß die jungfräuliche Tochter des adligsten Sterblichen, des Herakles, in eurer Mitte weilt? Ja, ich selbst biete mich als Opfer an, das den Göttern um so willkommener sein muß, da es freiwillig ist. Wenn diese Stadt edelmütig genug für Herakles‘ Nachkommen einen gefahrvollen Krieg unternimmt und ihre Söhne zu Hunderten opfern wird, wie sollte sich unter seiner Nachkommenschaft nicht auch ein Leben finden, das bereit ist, so trefflichen Männern durch seine Opferung den Sieg zu sichern? Wir wären nicht wert, beschirmt und gerettet zu werden, wenn keines unter uns so dächte! Darum führet mich immerhin an den Ort, wo mein Leib geopfert werden soll, bekränzet mich, wie man ein Opfertier bekränzt, zücket den Stahl; meine Seele wird willig entfliehen!« – Iolaos und alle Umstehenden schwiegen lange, nachdem das heldenmütige Mädchen ihre feurige Anrede längst geendet hatte. Endlich sprach der Führer der Herakliden: »Jungfrau, du hast deines Vaters würdig gesprochen; ich schäme mich deiner Worte nicht, obwohl ich dein Geschick beweine. Mir aber deuchte billig, daß alle Töchter deines Stammes zusammenkämen und das Los entschiede, welche für ihre Brüder sterben soll!« »Ich möchte nicht durch das Los sterben«, antwortete Makaria freudig; »aber zögert nicht lange, daß nicht der Feind euch überfalle und der Orakelspruch vergebens euch verliehen sei. Heißet die Frauen des Landes mit mir gehen, daß ich nicht vor Männeraugen sterbe.«

So ging die hochgesinnte Jungfrau, von den edelsten Frauen Athens begleitet, freiwilligem Tode entgegen.