Der Haupthafen
Der Hafen – der Markt, die bürgerliche und religiöse Hauptstadt dieser wilden Insulaner – heißt Tai-o-hae und erstreckt sich längs der Küste einer steil abfallenden grünen Bucht von Nuka-hiva. Wir kamen mitten im Winter an, das Wetter war schwül, stürmisch und unbeständig. Bald blies der Wind böig vom Lande her durch Spalten zersplitterter Schluchten, bald kam er zwischen den der Reede vorgelagerten Inselchen von der See her. Schwere und dunkle Wolken hingen über den Berggipfeln, der Regen brauste nieder und hörte wieder auf, die Gebirgsbäche schäumten, und am nächsten Tage sahen wir die steilen Wände ringsum von Wasserfällen dicht berieselt. Den Strand entlang zieht sich eine schmale Häuserzeile der Stadt, meist weiß und eingebettet in das Laubwerk einer Allee von grünen Puraos. Ein Pier ermöglicht den Zuweg vom Meere aus über die Brandung hinweg; im Osten steht auf einem vorspringenden bebuschten Hügel das alte Fort, das jetzt Kalabuß oder Gefängnis ist; noch östlicher weht auf der Wohnung des Residenten die Fahne Frankreichs. Dicht vor dem Gefängnishügel schaukelt der kleine Regierungsschoner fast immer vor Anker, morgens um acht Glas – so ungefähr – entfaltet er die Flagge, und den Sonnenuntergang begrüßt er mit einem Musketenschuß.
Hier wohnen und teilen den Komfort eines Klubs (Billard, Absynth, eine Weltkarte in Mercators Projektion und eine der herrlichsten Veranden der Tropen) ein paar Weiße verschiedener Nationalität, meistens französische Beamte, deutsche und schottische kaufmännische Angestellte und die Agenten des Opiummonopols. Außerdem leben dort drei Gastwirte, der verschlagene Schotte, dem die Baumwollspinnerei gehört, zwei weiße Damen und eine Schar Leute » on the beach«, ein Südseeausdruck, der sich nicht genau wiedergeben läßt. Es ist eine liebenswürdige und gastfreundliche Gesellschaft. Aber ein Mann, den man oft auf den Pflöcken am Pierende sitzen sah, verdient wegen der Einzigartigkeit seines Schicksals und seiner Erscheinung ein besonderes Wort. Vor langer Zeit hatte er sich scheinbar in eine eingeborene Dame verliebt, einen weiblichen Oberhäuptling auf Ua-pu. Als er sich ihr näherte, erklärte sie, sie könne keinen nichttätowierten Mann heiraten, er sehe so nackt aus, worauf unser Held sich mit einer gewissen Seelengröße den Händen der Tahukus auslieferte und energisch ausharrte, bis der Prozeß erledigt war. Er hatte ohne Zweifel große Auslagen, denn ein Tahuku arbeitet nicht umsonst, und erduldete sicher furchtbare Qualen. Kooamua war als Oberhäuptling der alten Schule nur teilweise tätowiert, er konnte, wie er uns lebhaft gestikulierend erzählte, die Tortur nicht bis zu Ende ertragen, unser verliebter Landsmann besaß stärkere Willenskraft, er wurde vom Kopf bis zu den Füßen nach der allerbesten Methode tätowiert und stellte sich schließlich seiner Herzensdame als neuer Mensch vor. Die wankelmütige Schöne konnte ihn von diesem Tage an nur noch mit leisem Gelächter betrachten. Ich aber sah den Mann nicht ohne Bewunderung an, von ihm, wenn überhaupt von jemand, durfte man behaupten, daß er nicht aus Berechnung, sondern blindlings geliebt hatte.
Das Haus des Residenten steht allein, der Gefängnishügel trennt es vom Saume der Stadt an der vorderen Bucht. Es ist bequem und hat große Veranden, den ganzen Tag steht es hinten und vorn offen, und der Passatwind bläst frei über die kahlen Fußböden. An Wochentagen bietet der Garten ein Bild gänzlich untropischer Belebtheit, ein halbes Dutzend Sträflinge arbeiten heiter mit Spaten und Schiebkarren, ziehen den Hut und lächeln den Besucher wie altvertraute Diener der Familie an. Sonntags sind sie verschwunden, und man sieht nur Hunde aller Rassen und Größen friedlich auf schattigen Plätzen schlummern, denn die Hunde von Tai-o-hae sind sehr höfisch veranlagt und machen den Regierungssitz zum Schauplatz ihrer Spaziergänge und Mittagsruhe. Vor und hinter dem Hause verliert sich ein grüner Rasenstreifen in einen niedrigen Wald von Akazien vieler Spielarten, und tief im Walde umschließt eine verfallene Mauer den Friedhof der Europäer. Engländer und Schotten schlafen dort, Skandinavier, französische Soldaten und Handwerker, fremdem Staube vermischt. Tief in den Wäldern singt die Drossel oder, wie man sie hier nennt, die Inselnachtigall heimatliche Lieder, und das ewige Requiem der Brandung tönt herüber. Ich habe niemals einen ruhigeren Friedhof gesehen, aber die Gedanken wanderten weithin zu den Plätzen, von denen die Schläfer gekommen, und zu den vielen Heimatländern, von denen sie aufgebrochen waren, um schließlich hier beieinander zu ruhen.
Auf der Höhe des Vorgebirges steht das Gefängnis, den ganzen Tag sind Türen und Fensterläden dem Passatwind geöffnet. Bei meinem ersten Besuch war ein Hund der einzige sichtbare Wächter. Er erhob sich allerdings so drohend, daß ich froh war, einen alten Faßreifen ergreifen zu können, und ich vermute, die Waffe war ihm schon bekannt, denn der Held zog sich sofort zurück, und als ich um den Hof herum und durch das Gebäude wanderte, sah ich ihn mit einer Anzahl Genossen demütig um die Ecken nachschleichen. Der Schlafraum der Gefangenen war ein weiter, luftiger Raum, ohne alle Möbel, die weiß getünchten Wände bedeckt mit marquesanischen Inschriften und unbeholfenen Zeichnungen: eine vom Pier, nicht schlecht gemacht, eine stellte einen Mord dar, mehrere andere französische Soldaten in Uniform. Eine französische Inschrift lautete: » Je n’est (sic!) pas le sou.« Aus dieser Mittagsstille darf man nicht schließen, daß das Gefängnis unbewohnt war, der Kalabuß von Tai-o-hae ist gut besetzt. Aber einige Insassen verrichteten Gartenarbeit beim Residenten, und der Rest war wahrscheinlich beim Straßenkehren, genau so frei, wie unsere Straßenfeger, wenn auch nicht so fleißig. Beim Hereinbrechen der Dunkelheit rief man sie wie Kinder vom Spielen, und der Hafenmeister – auch ein Zuchthäusler – schloß sie der Form wegen bis sechs Uhr morgens ein. Hatte ein Gefangener irgendeine Verabredung in der Stadt, geschäftlich oder zum Vergnügen, so brauchte er nur die Fensterläden auszuhängen und bei der Rückkehr sorgsam wieder einzusetzen, vor dem Morgenappell. Traf er dabei den Hafenmeister auf der Straße, so gab es keine Beschwerde und noch weniger Strafe. Aber das ist noch nicht alles. Der liebenswürdige französische Resident, M. Delaruelle, führte mich eines Tages gelegentlich eines amtlichen Besuches in das Gefängnis. Auf dem grünen Innenhof begrüßte uns lächelnd ein recht zerlumpter Gentleman; seine Beine waren von der Inselelephantiasis entstellt. »Einer unserer politischen Gefangenen – ein Aufständischer von Raiatea,« sagte der Resident, und dann zum Aufseher gewandt: »Ich dachte, ich hätte ihm eine neue Hose bestellt.« Inzwischen ließ sich kein anderer Gefangener blicken. »Nun,« fragte der Resident, »wo sind deine Sträflinge?« – »Herr Resident,« erwiderte der Aufseher und grüßte militärisch, »da Freitag ist, habe ich sie auf die Jagd gehen lassen.« Sie waren alle in den Bergen auf Ziegenjagd! Bald darauf kamen wir zu der Frauenabteilung, die ebenfalls verwaist war. »Wo sind unsere guten Frauen?« fragte der Resident, und der Aufseher antwortete heiter: »Ich glaube, Herr Resident, sie machen irgendwo einen Besuch.« M. Delaruelle, der die kleinen Reize seines engen Reiches liebt, hatte die Absicht, mir irgend etwas Komisches zu zeigen, aber selbst er hatte es in solcher Vollendung nicht erwartet. Um das Bild des Gefangenenlebens in Tai-o-hae zu vervollständigen, muß noch hinzugefügt werden, daß diese Verbrecher genau wie der Präsident der Republik einen regelmäßigen Gehalt beziehen. Zehn Sous täglich sind ihr Lohn. Sie haben also Geld, Nahrung, Obdach, Kleidung, und ich hätte fast geschrieben: ihre Freiheit. Die Franzosen sind sicher ein gutmütiges Volk und sanfte Herren, sie sind außerdem geneigt, die Marquesaner mit humorvoller Nachsicht zu behandeln. »Sie sterben aus, die armen Teufel!« sagte M. Delaruelle, »die Hauptsache ist, sie in Frieden sterben zu lassen.« Das war nicht nur gut gesagt, sondern auch die allgemeine Ansicht, wie ich glaube. Aber ein anderer Gesichtspunkt darf nicht vergessen werden: diese Gefangenen sind für die französische Verwaltung nicht nur nützlich, sondern wesentlich. Bei einem Volk, das unheilbar faul ist, entnervt durch Zustände, die sich nur als eingewurzelte Seuchen bezeichnen lassen, von Haß entflammt gegen die neuen Herren, sind Verbrechen und Zuchthausarbeit für die Regierung Gottesgaben.
Diebstahl ist tatsächlich das einzige Verbrechen. Früher Gelegenheitsbetrüger, beginnen die Leute von Tai-o-hae jetzt damit, Schlösser zu öffnen und Geldschränke zu knacken. Hunderte von Dollars sind manchmal geraubt worden, obgleich der marquesanische Einbrecher in seiner gewinnenden Mäßigung, die allen polynesischen Dieben eigen ist, immer nur etwas nimmt und das andere liegen läßt, um mit dem Besitzer gewissermaßen zu teilen. Erbeutet er chilenisches Hartgeld – die Inselwährung –, so erwischt man ihn nicht; nimmt er aber Gold, französisches Silber oder Banknoten, so wartet die Polizei, bis das Gold in Umlauf kommt, und macht ihren Mann bald dingfest. Und nun folgt eine Schändlichkeit. Offen gesagt wird der Gefangene so lange gepeinigt, bis er bekennt und, wenn es möglich ist, das Geld zurückgibt. Den Marquesaner Tag und Nacht in stockfinsterer Höhle in Einzelhaft zu halten, bedeutet für ihn unaussprechliche Qual. Selbst seine Räubereien führt er bei hellem Tageslicht aus, unter blauem Himmel, gereizt vom Außergewöhnlichen, stets mit einem Komplizen. Die Furcht vor der Finsternis ist immer noch unüberwindlich. Man begreift also, was er in seinem einsamen Loch erduldet, daß er sich sehnt, ein Bekenntnis abzulegen, ein vollgültiger Sträfling zu werden und neben den Kameraden zu schlafen. Während wir in Tai-o-hae weilten, befand sich ein Dieb in Untersuchungshaft. Er war gegen acht Uhr morgens in ein Haus eingedrungen, hatte den Geldschrank erbrochen und elfhundert Franken gestohlen, und nun, unter dem Schrecken der Finsternis, der Einsamkeit und einer mit Teufeln angefüllten Kannibalenphantasie, bekannte er zögernd und gab seine Beute preis. In einem Versteck, das er bereits angegeben hatte, waren dreihundert Franken gefunden worden, und man hoffte, er werde den Rest bald herausrücken. Das wäre schon häßlich genug, wenn es alles wäre, aber ich bin verpflichtet zu sagen, daß mir fortwährend Schlimmeres angedeutet wurde – Dinge, die die französische Regierung beseitigen sollte. Ich hörte, daß ein Mann sechs Tage hindurch festgehalten wurde, die Arme rückwärts an eine Tonne gebunden, und allgemein wird berichtet, daß jeder Gendarm in der Südsee eine Art Daumenschraube mit sich führt. Ich besaß nie den Mut, einen dieser Gendarmen – liebenswürdige, kluge und höfliche Menschen –, mit denen ich befreundet war, und deren Gastfreundschaft ich genoß, zu befragen; und vielleicht beruht die Erzählung, wie ich hoffe, auf einer Verwechslung mit der vorzüglichen Fessel, durch die der französische Polizeiagent die Gefangenen so leicht beherrscht, aber Torturen, körperliche oder geistige, werden bestimmt angewandt, und barbarische Ungerechtigkeit macht den Anklagezustand, in den auch ein Unschuldiger geraten kann, tatsächlich zur Qual, während der Strafvollzug, der ja nur Schuldige treffen soll, verhältnismäßig milde und tatsächlich angenehm ist. Was vielleicht noch schlimmer ist: nicht nur der Angeklagte, sondern manchmal auch seine Frau, seine Geliebte oder sein Freund werden denselben Qualen ausgesetzt. Ich bewunderte im Tabusystem die Schlauheit eingeborener Kriminalistik –, an der französischen Methode ist nicht viel zu bewundern. Ein furchtsames Kind in einen finstern Raum einzusperren und, wenn es hartnäckig leugnet, die Schwester in den nächsten, ist weder erfinderisch noch human.
Die Hauptveranlassung zu diesen Diebereien ist das neue Laster des Opiumessens. »Hier arbeitet niemand, und alle essen Opium«, sagte ein Gendarm, und Ah Fu kannte eine Frau, die täglich für einen Dollar verzehrte. Der erfolgreiche Dieb schenkt jedem seiner Freunde eine Handvoll Geld, seinem Weibe ein Kleid, verbringt einen Abend in einer Kneipe von Tai-o-hae, wo er alle Gäste freihält, verschafft sich ein großes Stück Opium und verschwindet im Busch, um es aufzuessen und den Rausch auszuschlafen. Ein Händler, der kein Opium führte, gestand mir, daß er sich nicht mehr zu helfen wisse. »Ich verkaufe nichts, aber die andern tun es,« sagte er, »die Eingeborenen arbeiten nur, um Opium zu kaufen; wenn sie zu mir kommen, um ihre Baumwolle zu verkaufen, müssen sie zu einem andern gehen, um es mit meinem Gelde einzuhandeln. Warum also sich die Mühe zweier Wege machen?« »Man kann sagen, was man will,« fügte er hinzu, »Opium ist das Zahlungsmittel hierzulande.«
Der Mann, der sich damals in Tai-o-hae in Untersuchungshaft befand, verlor die Geduld, als der chinesische Opiumhändler in seiner Gegenwart verhört wurde. »Selbstverständlich hat er mir Opium verkauft!« schrie er, »alle Chinesen hier verkaufen Opium; nur um Opium zu kaufen, habe ich gestohlen, nur um Opium zu kaufen, stiehlt überhaupt jemand. Sie sollten kein Opium hierherkommen lassen und keinen Chinesen!« Eben das führt die Eingeborenenregierung von Samoa durch, aber die Franzosen haben sich selbst die Hände gebunden und für vierzigtausend Franken ihre farbigen Untertanen dem Verbrechen und dem Tode ausgeliefert. Dieser entsetzliche Handel ist gewissermaßen durch Zufall entstanden. Hauptmann Hart hatte das Unglück, unbewußt der Anstifter zu sein, denn als seine Pflanzungen auf den Marquesas in Blüte standen, hatte er Schwierigkeiten, die chinesischen Kulis zu halten. Heute sind die Pflanzungen fast verödet, die Chinesen sind fort, aber inzwischen haben die Eingeborenen das Laster erlernt, die Handelserlaubnis bringt eine runde Summe ein, und die geldbedürftige Regierung in Papeete schließt die Augen und öffnet die Taschen. Allerdings hat der Händler nur die Erlaubnis an Chinesen zu verkaufen, aber anderseits kann natürlich niemand vierzigtausend Franken zahlen für das Privileg, eine Handvoll zerstreut lebender Chinesen zu versorgen, und jeder kennt die Wahrheit und schämt sich ihrer. Französische Beamte schütteln den Kopf, wenn man den Namen Opium erwähnt, und die Agenten der Farmer erröten über ihre Mittlertätigkeit. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen; als Untertan der britischen Krone bin ich unfreiwilliger Teilhaber am größten Opiumgeschäft unter dem Himmel. Aber der britische Fall liegt sehr schwierig, es handelt sich um den Lebensunterhalt von Millionen, und Reformen müssen mit Klugheit vorgenommen werden, wenn es überhaupt möglich ist, sie durchzuführen. Dies französische Geschäft aber ist eine Bagatelle und nichts als ein Auswuchs. Man wollte keine einheimische Industrie beleben, sondern das Gift wurde feierlich eingeführt. Keine Eingeborenensitte war zu berücksichtigen, sondern das Laster wurde willkürlich hierher verpflanzt. Kein Mensch hat einen Vorteil, außer der Negierung in Papeete, den wenig beneidenswerten Gentlemen, die ihr das Geld geben, und den chinesischen Schurken, die das schmutzige Geschäft betreiben.