Eine Kriminaluntersuchung in zwei Teilen

Am nächsten Morgen herrschte ein ungewöhnlicher Aufruhr im Doktorhause. Als letztes vor dem Schlafengehen hatte der Doktor die Wertsachen in den Schrank im Speisezimmer geschlossen, und siehe da, als er aufstand, was etwa um vier Uhr geschah, waren der Schrank erbrochen und die betreffenden Wertsachen verschwunden. Madame und Jean-Marie wurden aus ihren Zimmern gerufen und erschienen in oberflächlicher Toilette. Sie fanden den Doktor tobend vor. Er rief den Himmel zum Zeugen und zur Rache auf und rannte barfuß im Zimmer auf und ab, wobei die Zipfel seines Nachthemds bei jeder Wendung flatterten.

»Fort!« schrie er, »die Sachen sind fort, das Vermögen ist hin. Wir sind wieder bettelarm geworden. Junge, was weißt du hiervon? Heraus mit der Sprache, heraus damit. Weißt du irgend etwas? Wo sind sie?« Er packte ihn beim Arm und schüttelte ihn wie einen Sack; des Knaben Worte kamen, wenn überhaupt, ruckweise in undeutlichem Gemurmel hervor. In plötzlichem Rückschlag von seiner Heftigkeit ließ der Doktor ihn wieder fahren. Er sah, daß Anastasie in Tränen war. »Anastasie,« meinte er mit gänzlich veränderter Stimme, »beruhige dich, beherrsche deine Gefühle. Ich möchte nicht, daß du dich pöbelgleich dem Affekte überläßt. Dies – dies nebensächliche Ereignis muß überwunden werden. Jean-Marie, bring mir meinen kleineren Medizinkasten. Ein mildes Laxativ ist hier angebracht.«

Und er gab der ganzen Familie ein, wobei er selbst mit einer doppelten Dosis voranging. Die unglückliche Anastasie, die in ihrem ganzen Leben nicht krank gewesen war und alle Medikamente aus tiefster Seele verabscheute, vergoß Ströme von Tränen, während sie nippte, sich ekelte und protestierte, worauf sie tyrannisiert und angeschrien wurde, bis sie abermals nippte. Was Jean-Marie anbetraf, so schluckte er seine Portion stoisch herunter.

»Ich habe ihm ein geringeres Quantum gegeben,« bemerkte der Doktor, »seine Jugend schützt ihn vor Emotionen. Und jetzt, da wir etwaigen krankhaften Folgen vorgebeugt haben, wollen wir uns die Sache überlegen.«

»Mir ist so kalt,« jammerte Anastasie.

»Kalt!« rief der Doktor. »Gott sei Dank, daß ich aus feurigerem Stoffe bin. Ich bitte Sie, Madame, ein Schlag wie dieser müßte selbst einen Frosch schwitzen machen. Ist Ihnen kalt, so können Sie sich ja zurückziehen; nebenbei könntest du mir meine Hosen herunterwerfen. Es ist etwas kühl für die Beine.«

»O nein!« protestierte Anastasie. »Ich bleibe bei dir.«

»Nein, Madame, Sie sollen durch Ihre Treue nicht zu leiden haben,« sagte der Doktor. »Ich werde Ihnen selbst einen Shawl holen.« Und er begab sich nach oben, von wo er vollständig angekleidet und mit einem Arm voll Mäntel für die zähneklappernde Anastasie zurückkehrte. »Und nun,« fuhr er fort, »wollen wir dies Verbrechen untersuchen. Laßt uns auf induktivem Wege vorgehen. Anastasie, weißt du etwas, was uns weiterbringt?« Anastasie wußte nichts. »Du etwa, Jean-Marie?«

»Ich auch nicht,« entgegnete mit Festigkeit der Junge.

»Gut,« erwiderte der Doktor. »Wir wenden unsere Aufmerksamkeit nunmehr den materiellen Beweisen zu. (Ich bin der geborene Detektiv; ich besitze sein Auge und seinen systematischen Geist.) Erstens, man hat hier Gewalt angewendet. Die Tür ist erbrochen worden; nebenbei ist zu bemerken, daß das Schloß unter diesen Umständen recht teuer bezahlt war: ein Hühnchen, das ich noch mit Meister Goguelat zu pflücken habe. Zweitens, hier ist das Instrument, das dabei verwendet wurde, eins unserer eigenen Tafelmesser, eins unserer allerbesten, meine Liebe; was seitens der Bande (falls es eine Bande war) auf keinerlei Vorbereitungen schließen läßt. Drittens bemerke ich, daß bis auf die Franchard’schen Gefäße und die Truhe nichts gestohlen worden ist; unser eigenes Silber hat man aufs genaueste respektiert. Das ist schlau; es beweist Intelligenz, Kenntnis der Gesetze, den Wunsch, gerichtlichen Konsequenzen aus dem Wege zu gehen. Aus dieser Tatsache schließe ich, daß sich unter der Bande auch respektable Personen befinden – von äußerlicher Respektabilität, wohlgemerkt, rein äußerlicher, wie dieser Einbruch beweist. Zweitens folgere ich daraus, daß wir in Franchard selbst belauscht und den ganzen Tag über mit einer Geschicklichkeit und Geduld verfolgt worden sind, die ich als vollendet zu bezeichnen wage. Kein gewöhnlicher Mensch, kein Gelegenheitsverbrecher hätte sich derartiger Kombinationen fähig gezeigt. In unserer Nachbarschaft befindet sich daher höchstwahrscheinlich ein privatisierender Bandit von höchster Intelligenz.«

»Großer Gott,« rief die erschrockene Anastasie, »Henri, wie kannst du nur?«

»Meine Teuerste, ich verfolge hier ein induktives Verfahren,« war die Antwort des Doktors. »Wenn irgend einer meiner Schritte unrichtig ist, so korrigiere mich bitte. Du bist stumm? Dann sei bitte nicht so ungemein unlogisch, vor meinen Schlüssen zurückzuschrecken. Wir sind nunmehr zu einer Vorstellung von der Beschaffenheit der Bande gelangt« – fuhr er fort, »denn ich neige immer noch zu der Annahme, daß es mehr als eine Person war – und verlassen jetzt dies Zimmer, das uns keinerlei weitere Aufschlüsse zu geben vermag, um unsere Aufmerksamkeit dem Hof und dem Garten zuzuwenden. (Jean-Marie, ich hoffe, du folgst meinen einzelnen Schlüssen ganz genau; du kannst hieraus Vortreffliches lernen.) Komm mit mir zur Tür. Keine Fußspuren auf dem Hof; es ist beklagenswert, daß unser Hof gepflastert ist. Von welchen unbedeutenden Einzelheiten mitunter das Schicksal dieser delikaten Untersuchungen abhängt! Hallo! Was haben wir hier? Ich habe euch genau an die richtige Stelle geführt,« sagte er, indem er sich großartig wieder zurückwandte und auf das grüne Tor wies. »Wie ihr selbst sehen könnt, ist hier jemand über den Zaun geklettert.« Wahrhaftig, die grüne Farbe war an verschiedenen Stellen abgeschabt und abgeblättert; und auf einem der Bretter war der Abdruck eines genagelten Schuhs zurückgeblieben. Der Fuß war ausgeglitten, so daß die Größe des Schuhs schwer und die Anordnung der Nägel überhaupt nicht zu erkennen waren.

»Der ganze Raub,« schloß der Doktor, »ist somit Schritt für Schritt rekonstruiert worden. Weiter vermag die induktive Wissenschaft nicht zu gehen.«

»Es ist wunderbar,« meinte seine Frau. »Du hättest wirklich Detektiv werden sollen, Henri. Ich hatte keine Ahnung von deinen Talenten.«

»Meine Liebe,« entgegnete herablassend der Doktor, »ein Mann mit wissenschaftlichem Kombinationsvermögen besitzt auch die unwichtigeren Eigenschaften. Er ist ebensosehr Detektiv wie Publizist oder General; das sind lediglich Lokalproben seines besonderen Talentes. Wollt ihr aber,« fuhr er fort, »daß ich noch weiter gehe? Wollt ihr, daß ich meine Hand auf den Schuldigen lege? Oder vielmehr, denn ganz so viel kann ich euch ja nicht versprechen, soll ich euch sogar das Haus zeigen, wo sie wohnen? Es mag uns eine Genugtuung sein, zum mindesten dürfte es die einzige Genugtuung bleiben, die uns zuteil werden wird, da uns die Hilfe der Gesetze versagt ist. Um den von mir gegebenen Umriß des Verbrechens auszufüllen, brauche ich einen Menschen, der von Haus aus müßig in den Wäldern herumschweift, einen Menschen von Bildung und über die Erwägungen der Moral erhaben. Diese sämtlichen drei Voraussetzungen finden sich in Tentaillons Pensionären vereinigt. Sie sind Maler, folglich treiben sie sich ständig im Walde umher. Sie sind Maler, folglich werden sie wahrscheinlich einen Schimmer von Bildung besitzen. Schließlich sind sie, da sie Maler sind, wahrscheinlich auch unmoralisch. Das kann ich auf zweierlei Art beweisen. Erstens ist die Malerei eine Kunst, die sich lediglich an das Auge wendet; sie setzt in keinerlei Weise den moralischen Sinn in Bewegung. Zweitens läßt die Malerei wie alle anderen Künste auf die gefährliche Eigenschaft der Phantasie schließen. Ein Mann von Phantasie ist niemals moralisch; er setzt sich über die Schranken der Wirklichkeit hinweg und sieht das Leben von so vielen schwankenden Gesichtspunkten an, daß er sich unmöglich mit den gehässigen Unterscheidungen der Gesetze abfinden kann.«

»Aber du hast doch immer gesagt – wenigstens habe ich dich so verstanden – « sagte Madame, »daß diese Burschen auch nicht die geringste Phantasie bezeigten.«

»Meine Liebe, sie haben Phantasie bezeigt, und zwar von sehr phantastischer Art,« entgegnete der Doktor, »als sie ihren bettlerhaften Beruf ergriffen. Außerdem – dieses Argument wird genau auf deinem intellektuellen Niveau stehen – sind viele von ihnen Engländer und Amerikaner. Wo sonst sollten wir denn einen Dieb suchen? Und jetzt siehst du wohl am besten nach deinem Kaffee. Weil uns ein Schatz verloren gegangen ist, brauchen wir noch nicht zu hungern. Ich für meinen Teil werde mein Frühstück mit Weißwein beginnen. Ich fühle mich ganz unerklärlich erhitzt und hungrig. Ich vermag das nur dem Schrecken über die Entdeckung zuzuschreiben. Dennoch müßt ihr mir das Zeugnis ausstellen, daß ich die Aufregung großartig getragen habe.«

Der Doktor hatte sich inzwischen wieder in vorzügliche Laune hineingeredet, und während er so in der Laube saß und langsam eine große Portion Weißwein hinuntergoß und mit nicht sehr stürmischem Appetit an einem kleinen Brocken Brot und Käse knabberte, weilten seine Gedanken, wenn auch zu einem Drittel bei dem verschwundenen Schatz, so doch zu zwei Drittel in angenehmster Weise bei seiner Geschicklichkeit als Detektiv.

Etwa um elf Uhr traf Casimir ein; er hatte einen Frühzug nach Fontainebleau benutzt und war, um Zeit zu sparen, von dort aus mit dem Wagen gefahren. Jetzt war dieser bei Tentaillon untergestellt, und seine Uhr zu Rate ziehend, meinte er, daß er anderthalb Stunden Zeit hätte. Er kehrte in vieler Hinsicht den Geschäftsmann heraus, war kurz und energisch von Rede und liebte es, auf intellektuelle Art die Stirn zu runzeln. Als Anastasies leiblicher Bruder verschwendete er an diese Dame nicht viel Gefühl, sondern gab ihr nach englischer Familienart einen Kuß und verlangte unverzüglich zu essen.

»Ihr könnt mir eure Geschichte beim Essen erzählen,« bemerkte er. »Gibt’s was Gutes heute, Stasie?«

Man versprach ihm was Gutes. Das Trio setzte sich in der Laube zu Tisch. Jean-Marie aß mit und wartete zugleich auf, und der Doktor berichtete im blumigsten Erzählerstil, was ihm zugestoßen war. Casimir hörte unter Lachexplosionen zu.

»Welch fortgesetzter Dusel, mein guter Bruder,« bemerkte er, als der Bericht zu Ende war. »Wärest du nach Paris gezogen, du hättest die ganze Geschichte in drei Monaten durchgebracht. Dein eigenes Vermögen wäre den gleichen Weg gegangen, und du wärst wieder einmal als Bittsteller zu mir gekommen, wie das vorige Mal. Aber ich warne dich – Stasie mag ruhig weinen und Henri seine logischen Beweise ziehen – ein zweites Mal kommt ihr damit nicht durch. Euer nächster Zusammenbruch wird endgültig sein. Ich meinte, dir das schon einmal gesagt zu haben, Stasie? He? Noch immer keine Vernunft?«

Der Doktor war zusammengezuckt und hatte Jean-Marie verstohlen angesehen; aber der Junge schien apathisch.

» Aber was seid ihr auch für Kinder,« brach Casimir von neuem los, »ungezogene Kinder, bei Gott! Wie konntet ihr den Wert von all dem Plunder bestimmen? Vielleicht taugte er überhaupt nichts oder doch nur wenig.«

»Verzeihung,« sagte der Doktor. »Ich sehe, du redest mit deinem üblichen Temperament, aber mit noch weniger Überlegung als gewöhnlich. Ich bin nicht so ganz unbewandert in diesen Angelegenheiten.«

»Nicht so ganz unbewandert in allem, was mir je zu Ohren gekommen ist,« unterbrach ihn Casimir, indem er sich erhob und ihm mit einer Art naseweiser Höflichkeit zuprostete.

»Zum mindesten habe ich mich mit der Sache befaßt,« fuhr der Doktor fort,» – das wirst du mir wohl glauben – meiner Schätzung nach mußte unser Kapital etwa verdoppelt werden.« Und er schilderte ihm die Art des Fundes.

»Bei meinem Wort!« sagte Casimir, »ich glaube dir halb und halb! Doch hängt natürlich viel von der Qualität des Goldes ab.«

»Die Qualität, mein lieber Casimir, war – – «Und der Doktor küßte mangels der Worte seine Fingerspitzen. »Auf dein Wort würde ich mich nicht verlassen, mein lieber Freund,« antwortete der Mann der Geschäfte. »Du bist ein Mensch mit sehr rosigen Ansichten. Aber dieser Raub,« fuhr er fort, »dieser Raub ist eine seltsame Sache. Natürlich übergehe ich deinen Unsinn mit Banden und Landschaftsmalern und so weiter. Mir ist das alles nur ein Traum. Wer war denn gestern hier im Hause?«

»Niemand außer uns,« war die Antwort des Doktors. »Und dieser junge Herr da?« fragte Casimir, mit einem Ruck seines Kopfes in der Richtung von Jean-Marie.

»Er auch« – verbeugte sich der Doktor.

»Nun, und wenn die Frage gestattet ist, wer ist er?« fuhr der Schwager fort.

»Jean-Marie,« erwiderte der Doktor, »vereinigt in sich die Eigenschaften eines Sohnes und eines Stalljungen. Er begann als letzterer, ist jedoch rasch zu dem ehrenvolleren Rang in unserer Neigung gestiegen. Er ist, das kann ich ruhig behaupten, unser größter Trost im Leben.«

»Ha!« sagte Casimir. »Und bevor er einer von euch wurde?«

»Jean-Marie hat ein außerordentliches Leben geführt; seine Erlebnisse waren in der Hauptsache bildend,« entgegnete Doktor Desprez. »Hätte ich für meinen Sohn eine Erziehung zu wählen gehabt, ich hätte ihm die gleiche ausgesucht. Da er mit Gauklern und Dieben anfing und zu der Gesellschaft und Freundschaft von Philosophen überging, kann man von ihm behaupten, daß er das Buch des Lebens im Fluge gelesen hat.«

»Dieben?« wiederholte der Schwager mit nachdenklicher Miene.

Der Doktor hätte sieh die Zunge ausbeißen mögen. Er sah voraus, was kommen mußte, und bereitete sieh im Geist auf eine kräftige Verteidigung vor.

»Hast du jemals selbst gestohlen?« fragte Casimir, indem er sich plötzlich nach Jean-Marie umdrehte und zum erstenmal ein am Halse befestigtes Monokel in Bewegung setzte.

»Ja, Herr,« erwiderte der Junge mit tiefem Erröten. Casimir wandte sich mit aufgeworfenen Lippen wieder den anderen zu und nickte bedeutungsvoll. »He?« sagte er, »was sagt ihr dazu?«

»Jean-Marie gibt der Wahrheit die Ehre,« versetzte der Doktor sich in die Brust werfend.

»Er hat noch niemals gelogen,« fügte Madame hinzu. »Er ist der beste aller Jungen.«

»Noch niemals gelogen, so, so,« bemerkte Casimir. »Sonderbar, höchst sonderbar. Schenk mir mal deine Aufmerksamkeit, mein junger Freund,« fuhr er fort. »Du wußtest von diesem Schatz?«

»Er hat geholfen, ihn nach Haufe zu bringen,« warf der Doktor dazwischen. »Desprez, ich bitte dich um das eine, den Mund zu halten,« versetzte Casimir. »Ich beabsichtige diesen deinen Stalljungen auszufragen; wenn du seiner Unschuld so sicher bist, so kannst du ihn ja alleine antworten lassen. Also, junger Mann,« redete er weiter, sein Einglas geradewegs auf Jean-Marie gerichtet, »du wußtest also, daß er ohne Gefahr einer Strafe gestohlen werden konnte? Du wußtest, daß man dich nicht gerichtlich belangen konnte? Heraus mit der Sprache! Ja oder nein?«

»Ich wußte es,« antwortete Jean-Marie in jämmerlichem Flüsterton.

»Du sagst, du wärest früher ein Dieb gewesen,« fuhr Casimir fort. »Wie soll ich da wissen, daß du jetzt keiner mehr bist? Ich nehme an, du bist imstande, das grüne Tor zu überklettern.«

»Ja,« noch leiser, seitens des Schuldigen.

»Nun, dann bist du es auch gewesen, der diese Sachen gestohlen hat. Du weißt es, du wagst es nicht zu leugnen. Sieh mir ins Gesicht! Sieh mich an mit deinen Schleicheraugen, und antworte!«

Aber an Stelle einer Antwort oder dergleichen brach Jean-Marie in elendigliches Geheul aus und floh aus der Laube. Anastasie fand, ehe sie dem Opfer nachsetzte, um es einzufangen und zu trösten, noch Zeit, einen parthischen Pfeil zu entsenden – »Casimir, du bist ein brutaler Mensch!«

»Mein Bruder,« sagte Desprez mit unübertrefflicher Würde, »du nimmst dir da Freiheiten heraus …«

»Desprez,« unterbrach ihn Casimir, »um Himmels willen, zeige dich mal als Weltmann. Du telegraphierst mir, mein Geschäft im Stich zu lassen und hierher zu kommen, um eins für dich zu erledigen. Ich komme, frage nach dem Geschäft und du sagst: ›Finde mir diesen Dieb!‹ Nun, ich finde ihn; ich sage ›Das ist er!‹ Es mag dir vielleicht nicht behagen, aber du hast kein Recht, darüber beleidigt zu sein.«

»Nun,« entgegnete der Doktor, »ich will dir das zugeben; ich will dir sogar für deinen unangebrachten Eifer danken. Aber deine Hypothese ist so ungeheuerlich…«

»Hör an,« unterbrach ihn Casimir von neuem. »Bist du oder Stasie es gewesen?«

»Ganz entschieden nicht,« war des Doktors Antwort.

»Nun gut, dann war es der Junge. Reden wir nicht weiter davon,« sagte der Schwager und holte seine Zigarrentasche hervor.

»Ich möchte nur noch das eine sagen,« versetzte Desprez; »wenn jener Junge käme und es selbst behauptete, würde ich ihm nicht glauben. Und wenn ich ihm glaubte, so grenzenlos ist mein Vertrauen, ich würde folgern, daß er es zum Guten getan hat.«

»Schön, schön,« meinte Casimir nachsichtig. »Hast du Feuer? Ich muß jetzt gehen. Übrigens wollte ich, ihr erlaubtet mir, eure Türkenrente für euch verkaufen. Ich habe dir ja schon lange gesagt, daß sie eines Tages zum Teufel gehen wird. Ich sage es dir heute noch einmal. Ja, zum Teil bin ich eigens deswegen zu euch gekommen. Du hast meinen Brief nie beantwortet, – eine ganz unverzeihliche Angewohnheit.«

»Mein guter Bruder,« entgegnete liebenswürdigst der Doktor, »ich habe deine Geschäftstüchtigkeit niemals geleugnet, aber ich sehe auch ihre Grenzen.«

»Zum Donnerwetter noch mal, mein Freund, ich gebe dir das Kompliment zurück,« versetzte der Mann der Geschäfte. »Deine Grenze besteht darin, total unvernünftig zu sein.«

»Bemerke bitte unsere relativ verschiedene Haltung,« erwiderte lächelnd der Doktor. »Du glaubst durch dick und dünn nur an eines einzigen Menschen Urteil – das deinige. Ich hege die gleiche Ansieht, aber kritisch, und mit offenen Augen. Welcher ist nun der Vernünftigere? – Die Entscheidung überlasse ich dir.«

»Mein lieber Desprez!« rief Casimir, »bleib bei deinen Türken, bleib bei deinem Stalljungen, geh in allen Dingen auf deine private Manier zum Teufel und bleibe dort. Aber komm mir nicht mit der Logik – ich halte das nicht aus. Und damit gehab dich wohl. Bei dem, was ich ausgerichtet habe, hätte ich genau so gut wegbleiben können. Sag in meinem Namen Stasie Adieu, sag meinetwegen auch dem mürrischen Stalljungen Adieu, wenn du drauf bestehen solltest. Ich mache mich aus dem Staube.«

Und Casimir ging. An jenem Abend analysierte der Doktor vor Anastasie seinen Charakter. »Das eine hat er wenigstens aus seiner langen Bekanntschaft mit deinem Gatten gelernt, meine Schönste,« sagte er, »das Wort Logik. Das glänzt in seinem Vokabularium wie ein Juwel in einem Müllhaufen. Und trotzdem gebraucht er es fortwährend falsch. Denn du wirst bemerkt haben, daß er es gleichsam im Spott anwendet, im Sinne von Zungendrescherei, womit er andeuten will, daß ich quasi zur Sophistik neige. Armer Kerl! Was nun sein Verhalten gegen Jean-Marie anbetrifft, so muß man ihm seine Grausamkeit verzeihen – sie liegt nicht in seiner Natur, sondern in der Natur seines Lebens. Ein Mensch, der mit Geld zu tun hat, ist ein verlorener Mensch, meine Liebe.«

Bei Jean-Marie ging der Versöhnungsprozeß etwas langsamer. Anfänglich war er untröstlich, wollte durchaus fort von der Familie, verfiel aus einem Weinkrampf in den anderen, und erst nachdem Anastasie sich über eine Stunde mit ihm eingeschlossen hatte, kam sie wieder zum Vorschein, suchte den Doktor auf und berichtete ihm mit Tränen in den Augen das Vorgefallene.

»Anfangs, lieber Mann, wollte er von nichts wissen,« sagte sie. »Stell dir nur vor, wenn er uns verlassen hätte! Was wäre daneben der Schatz gewesen! Der abscheuliche Schatz, er ist an allem schuld! Endlich, nachdem er sich das Herz aus dem Leibe geschluchzt hatte, willigte er ein, zu bleiben, unter einer Bedingung, – daß wir nie wieder die Sache vor ihm erwähnen, – diesen schändlichen Verdacht und auch nicht einmal den Diebstahl. Nur unter dieser Bedingung will der arme, grausame Junge einwilligen, bei seinen Freunden zu bleiben.«

»Aber dieses Verbot,« sagte der Doktor, »dieses Embargo – kann, kann sich doch nicht auch auf mich beziehen?«

»Auf uns alle,« versicherte Anastasie.

»Mein Liebling,« protestierte Desprez, »du mußt ihn mißverstanden haben. Es kann sich nicht auch auf mich beziehen. Er würde doch ganz natürlich zu mir kommen.«

»Henri,« sagte sie, »es tut es doch; ich schwöre es dir, daß das der Fall ist.«

»Das ist ein schmerzlicher, ein höchst schmerzlicher Umstand,« sagte der Doktor, ein wenig finster blickend. »Ich kann nicht verhehlen, Anastasie, daß ich mit Recht verletzt bin. Es geht mir nahe, liebe Frau, sehr nahe.«

»Ich wußte, daß es so kommen würde,« sagte sie. »Aber hättest du nur seinen Kummer gesehen! Wir müssen auf ihn Rücksicht nehmen, müssen ihm unsere Gefühle zum Opfer bringen.«

»Ich hoffe, meine Liebe, du hast mich noch niemals einem Opfer abgeneigt gefunden,« meinte der Doktor äußerst steif.

»Du erlaubst mir also, ihm zu sagen, daß du eingewilligt hast? Das sieht deinem edlen Charakter ähnlich,« rief sie.

In der Tat! So war es! Das sah er sofort ein. Gleich stieg seine Laune, sie triumphierte bei dem Gedanken.

»Geh, mein Liebling,« sagte er edelmütig. »Das Thema ist zwischen uns begraben; mehr noch – ich werde mir Mühe geben – meinen Willen habe ich an derartige Anstrengungen gewöhnt – und die Sache ist vergessen.«

Kurz daraus erschien Jean-Marie in tödlicher Verlegenheit und mit geschwollenen Augen, und machte sich ostentativ an seine Arbeit. Von denen, die sich an jenem Abend zu Tische setzten, war er der einzig Unglückliche. Der Doktor strahlte förmlich. Dem Schatze sang er, wie folgt, das Requiem:

»Im großen und ganzen,« sagte er, »ist diese ganze Episode höchst amüsant gewesen. Wir sind um keinen Pfennig ärmer geworden, im Gegenteil, wir haben enorm gewonnen. Unsere Philosophie wurde in Bewegung gesetzt; etwas von der Schildkröte ist auch noch übrig geblieben – von dieser bekömmlichsten aller Delikatessen; ich habe meinen Stock, Anastasie ihr neues Kleid, Jean-Marie ist der glückliche Besitzer eines schicken Käppi. Außerdem gab es gestern abend ein Gläschen Hermitage; sein Feuer durchglüht mich noch immer. Ich fing an, in bezug auf den Hermitage geradezu geizig zu werden, geizig, sage ich. Laßt mich den Wink beherzigen: eine Flasche tranken wir, um das Auftauchen unseres visionären Reichtums zu feiern; die zweite Flasche soll uns über sein Verschwinden trösten. Die dritte dediziere ich hiermit Jean-Marie zu seiner Hochzeit.«