Bei dem sterbenden Gaukler
Kurz vor sechs hatte man nach dem Bourroner Arzt geschickt. Um acht fanden sieh die Dorfbewohner zur Vorstellung ein, und man sagte ihnen, wie es stünde. Daß ein Gaukler ganz wie ein richtiger Mensch zu erkranken wagte, erschien ihnen als Dreistigkeit, und sie gingen murrend wieder fort. Um zehn begann Madame Tentaillon ernstlich besorgt zu werden und schickte die Straße hinunter zu Doktor Desprez. Der Bote traf den Doktor zu Hause in der einen Ecke des kleinen Speisezimmers über seinen Manuskripten, während seine Frau in der anderen Ecke neben dem Feuer ihr Nickerchen machte.
»Sapristi!« sagte der Doktor, »Ihr hättet mich früher rufen sollen. Der Fall scheint eilig.« Und er folgte dem Boten, ohne sich umzuziehen, in Pantoffeln und Hauskäppchen.
Der Gasthof lag keine dreißig Meter entfernt, aber der Bote machte dort nicht halt. Er ging zur einen Tür hinein und zur anderen hinaus in den Hof und schritt voran eine kurze Treppe hinauf, die neben dem Stall auf den Heuboden führte, wo der kranke Gaukler lag. Und wenn Doktor Desprez tausend Jahre alt werden sollte, wird er seinen Eintritt in den Raum nicht vergessen. Die Szene, die sich ihm bot, war nicht nur äußerst malerisch, sondern der Moment sollte ein Markstein in seinem Leben werden. Wir pflegen unser Leben – warum, weiß ich nicht – von unserem ersten kläglichen Auftreten in der menschlichen Gesellschaft, also von unserer ersten Niederlage an, zu datieren, denn mit üblerem Anstande betritt wohl kein Schauspieler die Bühne. Um jedoch nicht zu weit zurückzugreifen und uns überflüssiger Neugierde schuldig zu machen, wollen wir lieber feststellen, daß es in unser aller Leben später noch zahlreiche rührende und einschneidende Ereignisse gibt, die mit ganz dem gleichen Recht wie der Tag der Geburt eine Periode eröffnen. Da war zum Beispiel Doktor Desprez, ein Mann in den Vierzigern, der, wie man es wohl nennt, im Leben gescheitert und überdies noch verheiratet war, und der sich hier vor einem neuen Lebensabschnitt befand im Augenblick, da er die Tür öffnete, die zu dem Heuschober über Tentaillons Stall führte.
Es war ein großer Raum, den nur eine einzige Kerze vom Fußboden her erhellte. Der Gaukler lag aus einer Matratze auf dem Rücken; er war von massigem Körperbau mit einer Nase à la Don Quichotte, die vom Trinken gerötet war. Madame Tentaillon beugte sich über ihn mit einer feuchten, heißen Senfpackung für seine Füße; dicht daneben auf einem Stuhl baumelte ein Bürschchen von elf, zwölf Jahren mit den Beinen. Diese drei waren, die Schatten ausgenommen, die einzigen Bewohner des Schuppens. Allein die Schatten bildeten an sich schon eine ganze Gesellschaft; der große Raum verzerrte sie ins Riesenhafte, und von unten her traf das Licht der Kerze nach oben und schaffte groteske und verunstaltende Verkürzungen. Das Profil des Gauklers war an der Wand zur Karikatur vergrößert, und es war seltsam anzusehen, wie seine Nase im Luftzug der Flamme sich verlängerte und zusammenschrumpfte. Was Madame Tentaillon anbetrifft, so glich ihr Schatten einem einzigen Riesenhöcker, den von Zeit zu Zeit an Stelle eines Kopfes eine Halbkugel krönte. Die Stuhlbeine waren zu spindeldürren Stelzen verlängert, und der Junge hockte über ihnen wie eine Wolke dicht unter der einen Dachecke.
Der Junge vor allem nahm den Doktor gefangen. Er hatte einen großen gewölbten Schädel, Stirn und Hände eines Musikers und ein Paar Augen, die einen nie wieder losließen. Es kam nicht daher, daß sie groß waren, von sanftestem, rötlichem Braun und sehr fest blickten. Daneben war noch etwas an ihnen, das den Doktor bis ins Innerste berührte und ihn fast mit Unruhe erfüllte. Er wußte, daß er diesem Blick schon vorher begegnet war, konnte sich aber des Wie und Wo nicht erinnern. Es war, als hätte dieser Junge, den er noch nie zuvor gesehen hatte, die Augen eines alten Freundes oder vielleicht auch eines Feindes. Und der Junge ließ ihn nicht zur Ruhe kommen; er schien in höchstem Maße gleichgültig gegen alles, was um ihn her vorging, vielmehr durch eine überlegene Ruhe von ihm getrennt. Da saß er mit über dem Schoße gefalteten Händen und baumelte sanft mit den Beinen gegen die Querleisten des Stuhles. Und trotzdem folgten seine Augen dem Doktor auf Schritt und Tritt mit gedankenvoller Beharrlichkeit. Desprez wußte nicht, ob er den Jungen faszinierte oder der Junge ihn. Er machte sich mit dem Kranken zu schaffen, stellte Fragen, fühlte den Puls, scherzte, ereiferte sich ein wenig und fluchte: und dennoch! Wenn er sich umblickte, da waren die braunen Augen und warteten auf ihn mit dem gleichen fragenden, melancholischen Blick.
Endlich ging dem Doktor blitzartig ein Licht auf. Jetzt wußte er, wo er dem Blick begegnet war. Das Kerlchen hatte, wenn auch kerzengrade gewachsen, die Augen eines Buckligen. Es war nicht im geringsten deformiert, trotzdem war es, als blickten einem unter jenen Brauen die Augen eines Krüppels an. Der Doktor holte tief Atem, so erleichtert war er, daß er nun eine Theorie gefunden hatte (er liebte die Theorien), mit deren Hilfe er sein Interesse erklären und auflösen konnte.
Trotzdem besorgte er den Kranken mit ungewöhnlicher Elle und wandte sich, noch mit dem einen Bein auf dem Boden kniend, halb um, um mit Muße den Jungen betrachten zu können. Dieser war nicht im geringsten aus der Fassung gebracht, sondern sah seinerseits den Doktor in ungetrübter Ruhe an.
»Ist das dein Vater?« fragte Desprez.
»Oh nein,« versetzte der Junge, »mein Herr.«
»Hast du ihn gern?« fragte der Doktor weiter.
»Nein, Herr«, sagte der Junge.
Madame Tentaillon und Desprez wechselten ausdrucksvolle Blicke.
»Das ist schlimm, junger Mann«, fuhr letzterer mit einem Anflug von Strenge fort. »Jeder sollte die Sterbenden lieb haben, oder doch wenigstens seine Gefühle verbergen; und dein Herr liegt im Sterben. Wenn ich eine Weile zugesehen habe, wie ein Vogel meine Kirschen stiehlt, fühle ich dennoch eine leise Enttäuschung, wenn er über meinen Gartenzaun fliegt, und ich ihn auf den Wald zusteuern und verschwinden sehe. Wie viel mehr also bei einem Geschöpf wie dieses da, so stark, so klug, so reich begabt! Wenn ich mir vor Augen halte, daß in wenigen Stunden seine Rede zum Schweigen gebracht, sein Atem gestorben, ja sogar der Schatten dort an der Wand verschwunden sein wird, so fühlen selbst ich, der ich ihn nie zuvor gesehen habe, und jene Dame dort, die ihn nur als Gast kennt, uns durch eine Art Liebe bewegt.«
Der Junge schwieg eine Weile, scheinbar in Gedanken versunken.
»Sie kannten ihn nicht«, antwortete er schließlich.
»Er war ein schlechter Mensch.«
»Er ist ein kleiner Heide«, sagte die Wirtin. »In dem Punkt sind sie einer wie der andere, diese Gaukler, Akrobaten, Artisten und dergleichen. Sie haben kein Inneres.«
Der Doktor jedoch musterte den jungen Heiden immer noch mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Brauen.
»Wie heißt du?« fragte er.
»Jean-Marie«, sagte der Junge.
Desprez schoß auf ihn zu in einem ihm eigenen Anfall plötzlicher Aufregung und betastete allseitig vom ethnologischen Standpunkt aus seinen Kopf.
»Keltisch, keltisch!« rief er.
»Keltisch!« wiederholte Madame Tentaillon, die das Wort wohl mit hydrozephalisch verwechselte. »Armer Junge! Ist es gefährlich?«
»Es kommt drauf an«, erwiderte grimmig der Doktor. Dann wandte er sich abermals an den Jungen: »Womit verdienst du dir deinen Lebensunterhalt, Jean-Marie?« erkundigte er sich.
»Ich schlage Purzelbäume«, lautete die Antwort.
»So, so! Purzelbäume?« wiederholte der Doktor.
»Wahrscheinlich sehr gesund. Ich wage zu vermuten, Madame Tentaillon, daß Purzelbäumeschlagen eine gesunde Lebensweise ist. Und hast du jemals etwas anderes getan als Purzelbäumeschlagen?«
»Bevor ich das lernte, habe ich gestohlen«, antwortete Jean-Marie ernsthaft.
»Bei meinem Wort!« rief der Doktor. »Du bist für dein Alter ein nettes Bürschchen. Madame, wenn mein Kollege aus Bourron eintrifft, werden Sie ihm meine wenig günstige Ansicht unterbreiten. Ich überlasse ihm den Fall; sollten natürlich irgendwelche besorgniserregenden Symptome oder gar Zeichen der Besserung sich einstellen, so zögern Sie nicht, mich zu rufen. Ich habe. Gottlob, aufgehört, Arzt zu sein; aber ich bin einmal einer gewesen. Gute Nacht, Madame. Schlafe wohl, Jean-Marie.«