Der Lohn des Philosophie

Am nächsten Morgen wurde der Doktor, nur noch ein Schatten seines alten Ichs, unter Casimirs Obhut zurückgebracht. Sie fanden Anastasie und den Jungen zusammen am Feuer sitzend. Desprez, der seine Toilette gegen eine billige, fertig gekaufte Ausrüstung eingetauscht hatte, winkte ihnen beim Eintritt mit der Hand zu und sank dann, der Rede nicht mächtig, in den nächsten Stuhl. Madame wandte sich direkt an Casimir.

»Was ist geschehen?« rief sie.

»Ja,« sagte Casimir, »was habe ich euch die ganze Zeit über gepredigt? Es ist jetzt eingetroffen. Diesmal ist radikal Schluß. Also ist’s am gescheitesten, ihr nehmt euch zusammen und tragt es, so gut ihr könnt. Das Haus gleichfalls futsch, was? Pech, das muß ich sagen.«

»Sind – sind – wir ruiniert?« stammelte sie.

Der Doktor streckte ihr die Arme entgegen. »Ruiniert,« entgegnete er, »ruiniert durch deinen unglückseligen Gatten.«

Casimir beobachtete die darauf folgende Umarmung durch das Einglas und wandte sich dann an Jean-Marie. »Hörst du?« sagte er. »Sie sind ruiniert; keine einträglichen Geschäftchen mehr, kein Haus, keine fetten Koteletts. Es scheint mir, mein Freund, daß du jetzt am besten dein Bündel schnürst; die gegenwärtige Spekulation hat sich so ziemlich erschöpft.« Und er nickte ihm vielsagend zu.

»Niemals!« rief Desprez, aufspringend. »Jean-Marie, wenn du es vorziehst, mich jetzt, wo ich arm bin, zu verlassen, kannst du gehen. Du wirst deine hundert Francs erhalten, falls mir so viel noch bleibt. Wenn du aber bei uns bleiben willst,« der Doktor vergoß ein paar Tränen – »Casimir bietet mir eine Stellung an – als Buchhalter«, fuhr er fort. »Das Gehalt ist zwar kärglich, aber es reicht für drei. Es ist schon zuviel, mein ganzes Vermögen verloren zu haben; muß ich auch noch meinen Sohn verlieren?«

Jean-Marie schluchzte bitterlich, ohne indes eine Silbe von sich zu geben.

»Ich kann Jungen, die ewig weinen, nicht leiden«, bemerkte Casimir. »Dieser hier weint ununterbrochen. Hör mal, du da, verdufte jetzt auf ein Weilchen; ich habe mit deinem Herrn und deiner Herrin Geschäftliches zu besprechen, und diese Familiengefühle können, wenn ich fort bin, ihre Erledigung finden. Marsch!« und er hielt ihm die Tür auf.

Jean-Marie schlich davon, wie ein überführter Dieb. Um zwölf saßen, mit Ausnahme von Jean-Marie, alle bei Tisch.

»He!« sagte Casimir. »Fort, wie du siehst. Hat sich sofort den Wink gemerkt.«

»Ich gestehe,« sagte Desprez, »ich gestehe, daß ich seine Abwesenheit nicht zu entschuldigen suche. Sie bezeugt einen Mangel an Herz, der mich schwer enttäuscht.«

»Mangel an Manieren«, verbesserte Casimir. »Herz hat er niemals gehabt. Wirklich, Desprez, für einen klugen Menschen bist du so leicht hereinzulegen wie kein anderer auf der Welt. Dein Unverständnis der menschlichen Natur und menschlicher Geschäfte übersteigt alle Begriffe. Erst wirst du von heidnischen Türken beschwindelt, dann von vagabundierenden Kindern, beschwindelt von oben bis unten, von rechts nach links. Ich glaube, deine Phantasie ist schuld. Dem Himmel sei Dank, daß ich keine habe.«

»Verzeihung,« erwiderte Desprez demütig, aber dennoch mit einigem Temperament, da es hier einen Unterschied zu ziehen galt, »Verzeihung, Casimir. Du besitzt in hohem Maße geschäftliche Phantasie, während der Mangel daran – es scheint, das ist mein schwacher Punkt – mir alle diese Schläge verursacht hat. Dank der geschäftlichen Phantasie sieht der Financier das Schicksal seiner Investierungen voraus, erkennt er das Fallissement – .«

»Donnerwetter,« unterbrach ihn Casimir; »unser Freund, der Stalljunge, scheint seinen Teil davon abbekommen zu haben.«

Der Doktor verstummte, und das Mahl wurde begleitet in der Hauptsache von dem nicht gerade sehr trostreichen Gespräch des Schwagers. Die beiden jungen englischen Maler ignorierte er vollständig, indem er allen ihren Grüßen ein vollständig blindes Einglas entgegenkehrte, und setzte seine Bemerkungen fort, als befände er sich allein im Schoße der Familie. Mit jedem zweiten Wort versetzte er dem Ballon der Eitelkeit seines Schwagers einen neuen Riß. Als der Kaffee zu Ende war, war der arme Desprez so schlaff wie eine Serviette.

»Nun wollen wir gehn und die Ruinen besichtigen«, sagte Casimir.

Sie schlenderten zusammen auf die Straße. Der Sturz des Hauses hatte, ähnlich wie eine Zahnlücke einem menschlichen Antlitz, dem Dorfe ein gänzlich verändertes Aussehen gegeben. Durch den so entstandenen Spalt gewann man einen weiten Blick über eine große Strecke freien, schneebedeckten Landes, und der Ort selbst schien durch den Vergleich zusammenzuschrumpfen. Er glich einem Raum mit einer offenen Tür. Die Schildwache stand neben dem grünen Tor und sah sehr rot und verfroren aus, hatte aber ein freundliches Wort für den Doktor und seinen reichen Verwandten.

Casimir blickte auf den Trümmerhaufen und prüfte die Qualität des Öltuches. »Hm,« sagte er, »hoffentlich hat das Kellergewölbe standgehalten. Ist das der Fall, mein guter Bruder, so bin ich bereit, dir für deine Weine einen anständigen Preis zu zahlen.«

»Wir werden morgen zu graben anfangen«, sagte die Schildwache. »Schneegefahr ist ja nicht mehr vorhanden.«

»Lieber Freund,« entgegnete Casimir bedeutungsvoll, »warten Sie lieber, bis Sie Ihr Geld bekommen haben.« Der Doktor zuckte zusammen und begann, seinen unmöglichen Schwager zu Tentaillons zurückzuschleppen. Im Hause würde es weniger Lauscher geben, außerdem waren sie ja bereits in das Geheimnis seines Falls eingeweiht.

»Hallo!« rief Casimir, »da geht der Stalljunge mitsamt seinem Gepäck. Nein, bei Gott, er bringt es ins Wirtshaus zurück.«

Wahrhaftig, Jean-Marie überquerte gerade den schneeigen Fahrdamm und ging, unter einem großen Korbe fast zusammenbrechend, zu Tentaillons hinein. Der Doktor hielt, von einer plötzlichen, wilden Hoffnung gepackt, inne.

»Was kann er da nur haben?« fragte er. »Wir wollen gehn und nachsehn.« Und er hastete weiter.

»Sein Gepäck, natürlich«, spottete Casimir. »Er befindet sich auf der Wanderschaft, dank seiner geschäftlichen Phantasie.«

»Ich habe den Korb dort seit – seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen«, bemerkte der Doktor.

»Und du wirst ihn auch in Ewigkeiten nicht wiedersehen«, lachte Casimir höhnisch; »das heißt, wenn wir uns nicht einmischen. Übrigens bestehe ich auf einer Untersuchung.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte der Doktor, tatsächlich schluchzend, und einen feuchten, triumphierenden Blick auf Casimir werfend, hub er zu laufen an. »Was zum Teufel ist in ihn hineingefahren?« überlegte sich Casimir; und als seine Neugierde siegte, folgte er dem Beispiele des Doktors und setzte sich in Trab. Der Korb war so schwer und groß und Jean-Marie selbst so klein und müde, daß er eine lange Zeit gebraucht hatte, um ihn die Treppe hinauf in Desprez‘ Privatzimmer zu befördern. Eben hatte er ihn vor Anastasie niedergesetzt, als der Doktor, dicht gefolgt von dem Mann der Geschäfte, erschien. Knabe und Korb waren beide in einem traurigen Zustand, denn der eine hatte vier Monate unter der Erde in einer gewissen Höhle in der Richtung von Achères zugebracht, und der andere war etwa fünf Meilen gelaufen, so schnell seine Beine ihn nur tragen konnten, die Hälfte der Strecke dazu unter einer erdrückenden Last.

»Jean-Marie,« rief der Doktor mit einer Stimme, die allzu seraphisch war, um hysterisch zu sein, »ist das –? Er ist es!« schrie er. »Oh, mein Sohn, mein Sohn!« Und er setzte sich auf den Korb und weinte wie ein kleines Kind.

»Jetzt werden Sie doch nicht nach Paris ziehen«, sagte Jean-Marie halb zuversichtlich, halb fragend.

»Casimir,« sagte Desprez, sein nasses Gesicht erhebend, »siehst du den Jungen da, jenen Engel von einem Jungen? Er ist der Dieb; er nahm den Schatz einem Manne fort, dem man seinen Gebrauch nicht anvertrauen konnte. Er bringt ihn mir zurück, nachdem ich ernüchtert und gedemütigt worden bin. Dies, Casimir, sind die Früchte meiner Lehren und dieser Augenblick der Lohn meines Lebens.«

»Tiens«, sagte Casimir.