Mr. Mackellars Reise mit dem Junker

Der Wagen kam in stark nässendem Nebel zur Tür. Wir nahmen schweigend Abschied, das Haus Durrisdeer stand geschlossen da mit tropfenden Läden und Fenstern wie ein Ort, der der Trauer geweiht ist. Ich sah, wie der Junker seinen Kopf herausstreckte und zu den nassen Wänden und schimmernden Dächern zurückblickte, bis sie plötzlich vom Nebel aufgesogen wurden. Ich glaube, daß eine natürliche Traurigkeit diesen Menschen bei der Abreise überfiel – oder war es eine Vorahnung des Endes? Als wir schließlich den langen Abhang von Durrisdeer aus hinanstiegen und Seite an Seite auf der feuchten Erde gingen, begann er zuerst zu pfeifen und dann das traurigste aller Volkslieder zu singen, die »Irrfahrten Willies«, ein Lied, bei dem die Leute in den Wirtschaften weinen. Die Worte, die er benutzte, habe ich sonst nie gehört. Ich habe auch keine Abschrift davon erhalten können, aber einige, die zu unserer Abreise sehr gut paßten, haften in meinem Gedächtnis. Ein Vers begann:

»Ach, damals war Heimat noch Heimat, Liebster,
Und freundliche Gesichter ringsum.
Damals war Heimat noch Heimat, Liebster,
Und Glück für unser Kind.«

Und er endete ungefähr so:

»Wenn jetzt der Tag graut über dem braunen Moor,
Steht das Haus einsam und der Herd kalt.
Laß es stehen, denn die Freunde sind fort,
Die guten Herzen, die treuen Herzen, deren Liebe uns galt.«

Ich kann die Güte dieser Verse nicht beurteilen, sie wurden aufgesogen von der Melancholie der Luft und mir von einem Meistersinger im geeigneten Augenblick vorgesungen oder vielmehr vorgesummt. Er blickte mir ins Gesicht, als er geendet hatte, und sah, daß meine Augen feucht waren.

»Ach, Mackellar«, sagte er, »denken Sie, daß ich nie Reue empfinde?«

»Ich glaube nicht, daß Sie ein so schlechter Mensch sein könnten«, sagte ich, »wenn Sie nicht alle Anlagen dazu hätten, ein guter zu sein.«

»Nein, nicht alle«, antwortete er, »nicht alle. Sie befinden sich in einem Irrtum. Die Krankheit des Nichtwollens, mein Evangelist!«

Aber mir schien, daß er seufzte, als er wieder in den Wagen stieg.

Den ganzen Tag fuhren wir in demselben Wetter, der Nebel drang von allen Seiten auf uns ein, der Himmel weinte unaufhörlich auf mein Haupt. Der Weg führte über Moorhügel, wo kein Laut zu hören war als das Schreien der Birkhühner in der feuchten Heide und das Rauschen der angeschwollenen Bäche. Manchmal versank ich in Schlummer, aber verfiel sofort in widerliche und schreckliche Träume, aus denen ich angstverstört erwachte. Manchmal, wenn der Pfad steil war und die Räder sich langsam drehten, konnte ich die Stimmen im Wageninnern hören, die in jenem tropischen Dialekt redeten, der mir ebenso unverständlich war wie das Geschrei der Vögel. Bisweilen, bei größeren Hügeln, stieg der Junker aus und ging neben mir, meistens ohne zu sprechen. Und während der ganzen Zeit hatte ich schlafend oder wachend die gleiche finstere Vorahnung kommenden Unglücks. Dieselben Bilder stiegen wieder vor mir auf, nur daß sie jetzt in den Nebel der Hügellandschaft gemalt waren. Das eine stand, wie ich mich erinnere, vor mir in den Farben echter Illusion. Es zeigte mir den Lord, wie er in einem kleinen Zimmer am Tisch saß, er hob langsam seinen Kopf, den er vorher in die Hände vergraben hatte, und wandte mir ein Gesicht zu, aus dem alle Hoffnung entflohen war. Ich sah dies Bild zuerst auf den schwarzen Fensterscheiben während meiner letzten Nacht auf Durrisdeer, und es verfolgte mich und kehrte immer wieder zurück während der ersten Hälfte der Reise. Es war jedoch nicht die Vision eines Irrsinnigen, denn ich habe ein hohes Alter erreicht, ohne an Verstand einzubüßen; auch war es nicht, wie ich damals versucht war zu vermuten, eine himmlische Warnung vor der Zukunft. Alle Arten von Unglück fließen uns zu, aber nicht dies, und ich sah manchen tieftraurigen Anblick, aber diesen nicht.

Es wurde beschlossen, die ganze Nacht durchzureisen, und es war sonderbar, daß meine Stimmung sich etwas hob, als die Dämmerung hereingebrochen war. Die hellen Lampen, die in den Nebel eindrangen zu den dampfenden Pferden und dem zügelführenden Postkutscher, boten mir vielleicht einen Anblick, der im Grunde freundlicher war als das, was der Tag gezeigt hatte. Vielleicht war mein Geist auch der Melancholie überdrüssig. Jedenfalls verbrachte ich einige wache Stunden, nicht ohne Befriedigung meiner Gedanken, wenn mein Körper auch feucht und niedergedrückt war, und schließlich verfiel ich in einen natürlichen und traumlosen Schlummer. Aber auch im tiefsten Schlaf muß ich an der Arbeit gewesen sein, und diese Arbeit muß immerhin einigermaßen vernünftig gewesen sein. Denn plötzlich war ich ganz wach und überraschte mich bei dem Ruf:

»Damals war Heimat noch Heimat, Liebster,
Und Glück für unser Kind!«

Und ich war überrascht, die Strophe unserer Lage angemessen zu finden und bezeichnend für die furchtbaren Pläne, die der Junker mit seiner augenblicklichen Reise verfolgte.

Wir waren damals dicht bei der Stadt Glasgow, wo wir bald zusammen in einem Wirtshaus frühstückten, und wo wir, wie der Teufel es wollte, ein Schiff vorfanden, das gerade absegeln sollte. Wir nahmen Kabinenplätze und trugen unser Gepäck zwei Tage später an Bord. Der Name des Schiffes war »Unvergleichliche«, es war sehr alt und sehr glücklich benannt. Wie wir von allen Seiten hörten, sollte es seine letzte Reise machen, die Leute am Kai schüttelten den Kopf, und viele fremde Menschen auf der Straße warnten mich wiederholt, es sei faul wie ein Käse und außerdem zu schwer beladen, es müsse unbedingt kentern, wenn wir in einen Sturm gerieten. Daher waren wir die einzigen Passagiere, der Kapitän namens McMurtrie war ein schweigsamer, verschlossener Mann, die Mannschaft bestand aus unwissenden, rauhen Seeleuten, aus allen Windrichtungen herbeigeholt, und der Junker und ich waren deshalb nur aufeinander angewiesen.

Die »Unvergleichliche« hatte auf dem Clyde günstigen Wind, und ungefähr eine Woche erfreuten wir uns herrlichen Wetters und guten Fortschritts. Ich selbst war zu meinem Erstaunen ein geborener Seemann, wenigstens insofern, als ich nie seekrank war, doch empfand ich nicht die sonstige Frische meiner Gesundheit. War es nun die Bewegung des Schiffes zwischen den Wellen, die Unterbringung, das Salzfleisch oder alles zusammen: ich litt unter starker Niedergeschlagenheit und qualvoller Mutlosigkeit. Vielleicht trug auch meine Aufgabe dazu bei, aber ich glaube, daß die Krankheit, wie sie auch immer heißen mochte, in der Hauptsache durch meine Umgebung verursacht wurde, und wenn das Schiff nicht die Schuld trug, dann bestimmt der Junker. Haß und Furcht sind schlimme Genossen, aber, zu meiner Schande sei es gestanden, auch an anderen Orten habe ich sie erlebt, bin mit ihnen schlafen gegangen und mit ihnen aufgestanden, habe mit ihnen gegessen und getrunken, und doch war ich nie zuvor oder hernach so durch und durch seelisch und körperlich vergiftet wie an Bord der »Unvergleichlichen«. Ich muß offen bekennen, daß mein Feind mir ein gutes Beispiel gab durch sein Benehmen; selbst an den schlimmsten Tagen entfaltete er eine höchst duldsame Liebenswürdigkeit, unterhielt sich mit mir, solange ich wollte, und wenn ich seine Höflichkeiten zurückwies, streckte er sich auf Deck aus, um zu lesen. Das Buch, das er an Bord mit sich führte, war die berühmte »Clarissa« von Richardson, und neben anderen Gefälligkeiten las er mir laut Stellen daraus vor. Kein berufsmäßiger Sprecher hätte die pathetischen Abschnitte des Werkes mit größerer Wirksamkeit wiedergeben können. Ich meinerseits antwortete mit Stellen aus der Bibel, die meine ganze Bibliothek darstellte, und zwar erst neuerdings, da ich meine religiösen Pflichten, wie ich bedauerlicherweise zugeben muß, immer und bis auf diesen Tag höchlichst vernachlässigte. Er empfand die Bedeutung des Buches als Feinschmecker, der er war, und manchmal nahm er es mir aus der Hand, wandte die Seiten um wie einer, der genau Bescheid weiß, und las mir mit seiner Betonung weit schönere Stellen vor als die von mir zitierten. Aber es war sonderbar, wie wenig er das Gelesene auf sich selbst anwandte. Alles zog über seinem Haupte hin wie ein Sommergewitter: Lovelace und Clarissa, die Berichte von Davids Edelmut, seine Bußpsalmen, die großen Fragen des Buches Hiob, die großartige Poesie Jesaias‘ – alles das war für ihn nur eine Quelle der Unterhaltung, wie etwa das Kratzen auf einer Geige in einer Dorfkneipe. Diese äußerliche Empfindsamkeit und innere Unberührtheit brachte mich gegen ihn auf, sie schien übereinzustimmen mit der groben Unverschämtheit, die, wie ich wußte, unter der Glätte seiner feinen Manieren verborgen war, und manchmal mußte ich meinen Ekel hinunterwürgen, als ob er mißgestaltet wäre, und ich zog mich von ihm zurück, als ob er teilweise durchsichtig wäre. Ich erlebte Augenblicke, wo ich dachte, er sei aus Pappe, und wenn man die Hülle der guten Haltung zerrisse, fände man nur Leerheit inwendig. Dieser Abscheu, der nicht nur, wie ich glaube, auf Phantasie beruhte, vergrößerte meine Abneigung gegen seine Gesellschaft, ich fühlte ein Erschauern in mir, wenn er sich näherte, manchmal hatte ich Lust, laut aufzuschreien, und an manchen Tagen hätte ich ihn schlagen mögen, wie ich vermute. Diese Gemütsverfassung wurde zweifellos verstärkt durch das Gefühl der Scham, weil ich während der letzten Tage auf Durrisdeer eine gewisse Zuneigung zu dem Manne gefaßt hatte, und wenn mir damals jemand eingeredet hätte, diese Neigung werde zurückkehren, hätte ich ihm ins Gesicht gelacht. Es ist möglich, daß er von diesem Fieber meiner Abneigung nichts merkte, aber ich glaube, er war doch zu schlau, und er hatte sich wahrscheinlich in seinem langen nichtstuerischen Leben an Gesellschaft so sehr gewöhnt, daß er nun gezwungen war, meinen unversteckten Widerwillen hinzunehmen und zu ertragen. Schließlich liebte er sicher auch den Klang seiner eigenen Stimme, wie er alle seine körperlichen und geistigen Eigenschaften liebte, eine Torheit, die fast notwendigerweise mit der Verderbtheit verknüpft ist. Ich beobachtete, wie er sich zu langen Gesprächen mit dem Kapitän verstand, wenn ich schweigsam blieb, obgleich der Schiffer offen seine Langeweile kund tat, mißmutig mit Händen und Füßen strampelte und nur mit einem Grunzen antwortete.

Nach der ersten Woche auf offener See gerieten wir in widrige Winde und schweres Wetter. Die See ging hoch. Die »Unvergleichliche« rollte unglaublich, da sie altmodisch und schlecht geladen war, so daß der Kapitän für seine Masten und ich für mein Leben zitterte. Wir machten keine Fortschritte, unerträgliche Übellaunigkeit herrschte auf dem Schiff, Mannschaft, Steuerleute und Kapitän fluchten gegeneinander den ganzen Tag. Ein freches Wort von einer Seite und ein Schlag von der anderen war ein tägliches Ereignis. Es gab Augenblicke, wo die gesamte Besatzung den Dienst verweigerte, und wir vom Hinterschiff wurden zweimal bewaffnet aus Furcht vor Meuterei. Es war das erstemal in meinem Leben, daß ich Waffen trug.

Inmitten dieser bösen Stimmung kam ein Orkan auf, so daß alle fürchteten, das Schiff müsse untergehen. Ich wurde in die Kabine eingeschlossen vom Mittag des einen Tages bis zum Abend des nächsten, der Junker wurde auf Deck festgebunden; Secundra hatte irgendein Rauschmittel verschluckt und lag bewußtlos da, so daß ich diese Stunden in ununterbrochener Einsamkeit zubrachte. Zunächst war ich vor Schrecken bewegungslos und fast unfähig nachzudenken, mein Geist war wie eingefroren. Dann erlebte ich einen Strahl der Hoffnung. Wenn die »Unvergleichliche« kenterte, würde sie jenes Geschöpf mit sich in die Tiefe des Meeres hinabreißen, das wir alle fürchteten und haßten. Der Junker von Ballantrae wäre nicht mehr, die Fische würden zwischen seinen Rippen spielen, seine Pläne würden zunichte, seine harmlosen Feinde Frieden haben. Es war zuerst, wie ich sagte, nur ein Strahl der Hoffnung, aber bald wurde heller Sonnenschein daraus. Der Gedanke an den Tod dieses Menschen, an seinen Abschied von dieser Welt, die er für so viele verbitterte, nahm Besitz von meiner Seele. Ich umarmte diesen Gedanken, ich fand ihn süß von Geschmack. Ich stellte mir das letzte Niedertauchen des Schiffes vor, die See brach von allen Seiten in die Kabine, ein kurzer Todeskampf in der Einsamkeit, eingeschlossen wie ich war, ich zählte mir alle Schrecken auf, ich hätte beinahe gesagt mit Genugtuung, ich fühlte, daß ich alles das und noch mehr ertragen könne, wenn die »Unvergleichliche« den Feind des Hauses meines armen Herrn mit sich hinunterrisse und in demselben Abgrund begrübe.

Gegen Mittag des zweiten Tages wurde das Heulen des Sturmes schwächer, das Schiff lag nicht mehr so gefährlich schief, und es wurde mir klar, daß wir den Höhepunkt des Orkans hinter uns hatten. Möge Gott mir verzeihen, aber ich war äußerst enttäuscht. In der Selbstsucht des verderblichen und alles übertrumpfenden Haßgefühls vergaß ich ganz die unschuldige Besatzung und dachte nur an mich und meinen Feind. Was mich betraf, so war ich schon alt; ich war niemals jung gewesen, die Freuden der Welt sagten mir nicht zu, ich besaß wenig Liebhabereien, es kam nicht darauf an, ob ich jetzt hier im Atlantischen Ozean ertrank oder in ein paar Jahren vielleicht nicht weniger schrecklich in einem verlassenen Krankenbett langsam verschied. Ich fiel auf meine Knie nieder, hielt mich an dem Schrank fest, um nicht quer durch die Kabine geschleudert zu werden, erhob inmitten des Getöses des langsam abnehmenden Unwetters meine Stimme und betete gotteslästerlich um meinen eigenen Tod. »O Gott!« rief ich aus. »Es wäre männlicher, wenn ich aufstünde und dies Geschöpf niederschlüge, aber Du hast mich zu einem Feigling gemacht vom Schoß meiner Mutter an. O Herr, Du schufest mich so, Du kennst meine Schwäche, Du weißt, daß das Antlitz des Todes mich erzittern macht. Aber siehe hier Deinen Diener bereit, aller menschlichen Schwäche ledig. Laß mich mein Leben für dieses Geschöpf opfern, nimm uns beide, Herr, nimm uns beide und erbarme Dich der Unschuldigen!«

In solchen Worten, aber noch unehrerbietiger und mit noch heißeren Beschwörungen, fuhr ich fort meine Seele auszuströmen. Gott erhörte mich nicht, ich muß annehmen aus Barmherzigkeit, und ich war noch in der Todesangst meines Flehens befangen, als jemand die Luke abdeckte und das Licht des Sonnenunterganges in die Kabine fließen ließ. Ich sprang beschämt auf die Füße und war so überrascht, daß ich taumelte und Schmerzen empfand, als ob ich auf der Folterbank gelegen hätte. Secundra Daß, der sich von der Wirkung des Betäubungsmittels erholt hatte, stand nicht weit von mir in einer Ecke und starrte mich mit wilden Augen an, und von oben her dankte mir der Kapitän durch die Luke für mein Gebet:

»Sie haben das Schiff gerettet, Mr. Mackellar«, sagte er, »keine Seemannskunst hätte es durch den Sturm führen können, wir mögen wohl sagen: wenn der Herr die Stadt nicht behütet, wachen die Wächter umsonst!«

Ich war beschämt über den Irrtum des Kapitäns und beschämt auch durch die Überraschung und Furcht, mit der der Inder mich zunächst betrachtete, um mich dann mit heuchlerischen Gefälligkeiten zu überschütten. Ich weiß heute, daß er alles gehört und die besondere Natur meiner Gebete verstanden haben muß. Selbstverständlich machte er seinem Herrn sofort Mitteilung davon, und wenn ich heute mit genauer Kenntnis der Tatsachen zurückblicke, kann ich verstehen, warum mich das sonderbare und gewissermaßen zustimmende Lächeln des Junkers so sehr überraschte. Auch begreife ich nun ein Wort, das er in jener Nacht während unserer Unterhaltung gebrauchte, wie ich mich erinnere. Er streckte die Hand aus, lächelte und sagte: »Ach, Mackellar, nicht jeder ist ein so großer Feigling, wie er glaubt, und auch nicht ein so guter Christ.« Er wußte nicht, wie wahr er redete! Denn in der Tat, die Gedanken, die mir bei der Heftigkeit des Sturmes gekommen waren, hielten meine Sinne gefangen, und die Worte, die mir in der Inbrunst des Gebetes ungewollt über die Lippen gekommen waren, dröhnten in meinen Ohren nach, und ich muß ehrlich erzählen, welch schändliche Folgen sie hatten, denn ich könnte die Heuchelei nicht ertragen, wenn ich die Sünden der anderen beschriebe und meine eigenen verschwiege.

Der Wind flaute ab, aber die See wurde noch schwerer. Die ganze Nacht rollte die »Unvergleichliche« äußerst heftig, und auch der nächste Tag und der übernächste brach an, ohne Änderung zu bringen. Es war kaum möglich, die Kabine zu durchqueren, alterfahrene Seeleute wurden auf Deck niedergerissen, und einer verletzte sich grausam durch den Anprall. Alle Planken des alten Schiffes kreischten laut, und die große Glocke an der Ankerwinde ertönte unaufhörlich und klagend. Eines Tages saßen der Junker und ich allein auf der Kante des Achterdecks. Rund um das Achterdeck waren hohe Holzverschalungen, die das Schiff seeuntüchtig machten. Wo sie sich dem Abschluß dieses Decks näherten, verliefen sie in eine feine, altmodische, geschnitzte Leiste, um sich später der Schutzwehr des Mittelschiffes zu nähern. Durch diese Anordnung, die mehr dem Zierat als praktischen Zwecken diente, entstand eine Lücke im Schutz gegen die See, und zwar gerade am Rande des erhöhten Achterdecks, wo dieser Schutz in manchen Augenblicken am notwendigsten gewesen wäre. Dort nun saßen wir, unsere Füße hingen herunter, der Junker hockte zwischen mir und dem Schiffsrand, und ich hielt mich mit beiden Händen am Rahmen des Kajütenfensters fest. Es war mir klar, daß wir in einer gefährlichen Lage waren, um so mehr, als ich ständig einen Gradmesser für die Schwingungen des Schiffes in der Person des Junkers vor mir hatte, dessen Gestalt in der Lücke der Schutzwehr gegen die Sonne aufragte. Bald war sein Kopf hoch oben, während sein Schatten jenseits des Schiffes nach draußen fiel, bald versank er anscheinend bis unter meine Füße, und der Meeresspiegel stand hoch über ihm wie die Decke eines Zimmers. Ich betrachtete alles das wie verzaubert. Man sagt, daß Vögel so Schlangen anstarren. Außerdem war mein Geist durch die erstaunliche Mannigfaltigkeit der Geräusche verwirrt, denn wir hatten jetzt alle Segel aufgezogen in der vergeblichen Hoffnung, das Schiff vor die Wellen zu bringen, und es erdröhnte in allen Fugen wie eine Fabrik. Wir unterhielten uns zunächst über die Meuterei, von der wir bedroht gewesen waren, und dann sprachen wir über das Problem des Mordes, das den Junker so stark fesselte, daß er nicht widerstehen konnte: er mußte mir eine Geschichte erzählen und gleichzeitig beweisen, wie klug und wie schlecht er sei. Er tat das stets mit großer Pose und schauspielerischen Bewegungen und gewöhnlich mit gutem Erfolg. Aber diese Geschichte, mit lauter Stimme inmitten eines so gewaltigen Aufruhrs vorgetragen durch einen Erzähler, der bald vom Himmel herunter auf mich niederblickte, bald unter die Sohlen meiner Füße versank – diese ganz besondere Erzählung packte mich in außergewöhnlicher Weise.

»Mein Freund der Graf«, so begann er seine Geschichte, »hatte einen gewissen deutschen Baron, der fremd war in Rom, zum Feinde. Ganz gleich, welches der Grund für die Feindseligkeit des Grafen war, auf alle Fälle hatte er den festen Entschluß gefaßt, sich zu rächen, und zwar ohne Gefahr für sich selbst, so daß er seine Feindseligkeit sogar vor dem Baron verbarg. Das ist in der Tat der vornehmste Grundsatz der Rache, denn verratener Haß ist machtloser Haß. Der Graf war neugierig und wissensdurstig, er hatte etwas von einem Künstler; wenn er etwas unternahm, mußte es stets mit größter Genauigkeit berechnet werden, nicht nur auf den Erfolg hin, sondern auch in allen Einzelheiten und Möglichkeiten, sonst hielt er es für verfehlt. Eines Tages ritt er zufällig spazieren in den äußeren Vororten, als er zu einem wenig benutzten Wege kam, der in das Moor führt, das sich um Rom herum ausbreitet. Auf der einen Seite lag ein altes römisches Grabmal, auf der anderen Seite ein verlassenes Haus in einem Garten mit immergrünen Bäumen. Der Weg führte ihn bald zu einem Ruinenfeld, in dessen Mitte er an einem Hügelabhang eine offene Tür sah, und nicht weit davon entfernt eine verkümmerte Pinie, nicht größer als eine Johannisbeerstaude.

Der Ort war einsam und sehr abgelegen, eine Stimme im Herzen sagte dem Grafen, daß hier günstige Gelegenheiten für ihn wären. Er band sein Pferd an den Pinienstamm, nahm Zunder und Stahl in die Hand, um Licht machen zu können, und drang in den Felsen ein. Die Tür führte in einen Gang aus altem römischem Mauerwerk, der sich bald verzweigte. Der Graf ging nach rechts und verfolgte den Gang, indem er im Dunkeln vorwärts tastete, bis er durch eine Art Gitter aufgehalten wurde, das ihm ungefähr bis zum Ellbogen reichte und quer über den Gang verlief. Er tastete mit dem Fuß nach vorn und spürte eine Kante von glatten Steinen, und dahinter einen leeren Raum. Seine Neugier erwachte, er sammelte einige trockene Zweige, die auf dem Boden lagen, und machte Feuer. Vor ihm lag ein tiefer Brunnen, den ein Bauer in der Nachbarschaft ohne Zweifel einst für die Bewässerung seiner Felder benutzt und der auch das Gitter errichtet hatte. Lange Zeit stand der Graf an das Gitter gelehnt und schaute in den Abgrund. Es war ein römischer Bau und wie alles, was diese Nation anfaßte, gleichsam für die Ewigkeit bestimmt. Die Seitenwände waren steil und die Fugen ausgefüllt, so daß für einen Menschen, der hineinstürzte, keine Rettung möglich war. Der Graf dachte nach: eine starke Verlockung, sagte er sich, führte mich an diesen Platz. Wozu? Was habe ich dadurch gewonnen? Warum sollte ich in diesen Brunnen schauen? Plötzlich gab das Gitter unter seinem Gewicht nach, und um Haaresbreite wäre er in den Abgrund gestürzt. Er sprang zurück, um sich zu retten, und trat dabei den letzten Rest des Feuers aus, so daß er kein Licht mehr hatte, sondern nur in quälendem Rauch eingehüllt stand. Wurde ich hierhergesandt, um zu sterben? fragte er sich und zitterte vom Kopf bis zu den Füßen. Aber dann durchzuckte ihn ein Gedanke. Er kroch auf Händen und Knien zum Rande des Abgrundes zurück und tastete über sich in die Luft. Das Gitter war an zwei Pfeilern befestigt gewesen und nur von dem einen losgebrochen, so daß es noch an dem zweiten hing. Der Graf setzte es in seine alte Lage zurück, so daß der Platz Verderben bedeutete für den ersten Menschen, der hierher kam. Dann taumelte er wie ein kranker Mensch aus dem unterirdischen Gang heraus. Als er am nächsten Tage mit dem Baron auf dem Korso ritt, spielte er absichtlich starke Benommenheit. Der Baron fragte nach der Ursache, und der Graf, der das gewollt hatte, gab nach einigem Zögern zu, daß ihm seine Laune durch einen ungewöhnlichen Traum verdorben worden sei. Er hatte berechnet, daß eine solche Erzählung auf den Baron wirken würde, der ein abergläubischer Mensch war und tat, als ob er den Aberglauben verachte. Einiges Hin und Her folgte, und dann warnte der Graf seinen Freund, als ob er plötzlich von den Tatsachen übermannt wäre, und sagte, er habe von ihm geträumt. Sie wissen genug von der menschlichen Natur, mein herrlicher Mackellar, um eins zu begreifen: der Baron ruhte nicht, bis er den Traum erfahren hatte. Der Graf, der seiner Sache sicher war und wußte, daß der andere nicht ablassen werde, hielt ihn hin, bis seine Neugier in hellen Flammen stand, und ließ sich schließlich nach scheinbarem Zögern überreden, alles zu erzählen. Ich warne Sie, sprach er, es wird Übles daraus entstehen, etwas in mir sagt mir das. Da es aber für Sie und auch für mich keine Ruhe gibt, bevor ich alles gesagt habe, so komme alle Schuld auf Ihr Haupt! Dies ist der Traum: Ich sah Sie reiten, ich weiß nicht wo, aber ich glaube, es war in der Nähe von Rom, denn auf der einen Seite von Ihnen war ein altes Grabmal und auf der anderen ein Garten mit immergrünen Bäumen. Ich glaube, daß ich Ihnen immer wieder in wahrer Todesangst des Schreckens zurief, zurückzukommen. Ob Sie mich hörten, weiß ich nicht, jedenfalls ritten Sie hartnäckig vorwärts. Der Weg führte Sie zu einem einsamen Ort zwischen Ruinen, wo eine Tür in einem Hügelabhang war, und dicht bei der Tür stand eine verkrüppelte Pinie. Hier stiegen Sie ab, ich rief Ihnen wieder zu, sich vorzusehen, Sie banden Ihr Pferd an den Pinienstamm und traten entschlossen durch die Tür ein. Drinnen war es dunkel, aber in meinem Traum konnte ich Sie immer noch sehen und beschwor Sie, stehenzubleiben. Sie tasteten sich mit der rechten Hand an der Wand entlang, bogen in einen Seitengang zur Rechten und gelangten zu einer kleinen Erweiterung, wo ein Brunnen mit einem Gitter war. Jetzt – ich weiß nicht warum – wuchs meine Angst um Sie tausendfältig an, ich schrie, es sei noch Zeit, und flehte Sie an, den Raum sofort zu verlassen. Das waren die Worte, die ich im Traum ausstieß, und es schien mir damals, sie hätten eine ganz bestimmte Bedeutung, aber heute im wachen Zustand gebe ich zu, daß ich nicht weiß, was sie besagten. Sie gaben auf alle meine Warnungen nichts, sondern lehnten sich an das Gitter und blickten starr in das Wasser hinab. Und dann erhielten Sie eine Offenbarung, aber ich glaube, ich verstand nicht, um was es sich handelte, doch das Entsetzen darüber riß mich aus dem Schlaf, und ich erwachte zitternd und weinend. Und nun, fuhr der Graf fort, danke ich Ihnen von Herzen für Ihre Hartnäckigkeit. Der Traum lag wie eine Last auf mir, aber jetzt, da ich ihn in einfachen Worten und bei Tageslicht erzählt habe, scheint er mir keine große Bedeutung zu besitzen. – Ich weiß es nicht, antwortete der Baron, in manchen Einzelheiten ist er sonderbar. Eine Offenbarung, sagten Sie? Ach, es ist ein alberner Traum, eine Geschichte, die unsere Freunde erheitern wird. – Ich bin nicht ganz so sicher, ich fühle einige Beklemmung. Wir wollen ihn lieber vergessen. – Nun gut, sagte der Baron. Und tatsächlich sprach man nicht weiter von dem Traum. Einige Tage später schlug der Graf einen Ritt in die Felder vor, dem der Baron, da sie täglich bessere Freunde geworden waren, sehr rasch zustimmte. Auf dem Rückwege nach Rom bog der Graf unmerkbar in einen besonderen Weg ein. Plötzlich hielt er sein Pferd an, schlug die Hände vor die Augen und schrie laut auf. Dann zeigte er sein Gesicht wieder, das nun ganz weiß war, denn er war ein vollendeter Schauspieler, und starrte den Baron an. Was quält Sie? rief der Baron aus, was fehlt Ihnen? – Nichts, antwortete der Graf, es ist nichts, ein Anfall, ich weiß nicht was. Lassen Sie uns nach Rom zurückeilen. – Aber inzwischen hatte der Baron sich umgeblickt und sah an der linken Seite des Weges, als sie sich Rom zuwandten, einen staubigen Seitenpfad mit einem Grabmal auf der einen Seite und einem Garten von immergrünen Bäumen auf der anderen. – Ja, sagte er mit veränderter Stimme, wir wollen so rasch wie möglich nach Rom zurückeilen, ich fürchte, Ihre Gesundheit ist nicht in Ordnung. – Ja, um Gottes willen! rief der Graf schaudernd, zurück nach Rom, und lassen Sie mich zu Bett gehen. – Auf dem Rückwege sprachen sie kaum ein Wort, und der Graf, der eigentlich in eine Gesellschaft gehen mußte, legte sich zu Bett und ließ sagen, er habe einen Anfall von Fieber. Am nächsten Tage fand man das Pferd des Barons an die Pinie angebunden, von ihm selbst aber hörte man nichts mehr von dieser Stunde an. – Und nun, war das Mord?« fragte der Junker und brach scharf ab.

»Sind Sie sicher, daß er ein Graf war?« fragte ich.

»Ich bin des Titels nicht ganz sicher«, sagte er, »aber er war ein Edelmann von Familie, und der Herr behüte Sie, Mackellar, vor einem so verschlagenen Feinde.«

Diese letzten Worte sprach er zu mir hinunter, lächelnd, von hoch oben, bei den nächsten war er unter meinen Füßen. Ich fuhr fort, seine Bewegungen mit kindischer Hartnäckigkeit zu verfolgen, sie machten mich schwindlig und wie von Sinnen, und ich sprach wie im Traum.

»Er haßte den Baron mit einem großen Haß?« fragte ich.

»Sein Magen drehte sich um, wenn der Mann sich ihm näherte«, antwortete der Junker.

»Ich habe gleiches empfunden«, sagte ich.

»Wirklich?« rief der Junker aus. »Das ist eine Überraschung! Ich möchte wissen – schmeichle ich mir nur, oder bin ich wirklich die Ursache dieser Magenrevolten?«

Er war durchaus imstande, eine anmutige Haltung einzunehmen, auch wenn niemand ihn sah außer mir, und besonders, wenn Gefahr drohte. Er saß jetzt mit übereinandergeschlagenen Knien, die Arme auf der Brust gekreuzt, und machte die Schwingungen des Schiffes mit ausgezeichneter Balance mit, obgleich das Gewicht einer Feder ihn hätte über Bord stürzen können. In diesem Augenblick hatte ich plötzlich die Vision von meinem Lord, der an einem Tisch saß und den Kopf in die Hände legte, nur waren seine Züge, als er sie mir zeigte, voll von schweren Vorwürfen. Die Worte meines eigenen Gebetes – es wäre männlicher, wenn ich dies Geschöpf niederschlüge – schossen mir gleichzeitig durchs Gehirn. Ich sammelte meine ganze Energie, und als das Schiff sich niedersenkte gegen meinen Feind, stieß ich schnell mit dem Fuß nach ihm. Es stand geschrieben, daß ich die Schuld dieses Anschlages tragen sollte, ohne Vorteil davon zu haben. Ob durch meine Unsicherheit oder durch seine unglaubliche Gewandtheit: er wich dem Stoß aus, sprang auf die Füße und hielt sich sofort an einem Balken fest.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit verstrich: ich lag, wo ich war, auf dem Deck, überwältigt von Entsetzen, Gewissensbissen und Schande, er stand, seine Hand am Balken, angelehnt gegen die Schutzwehr und blickte mich mit eigenartig gemischtem Gesichtsausdruck an. Schließlich redete er.

»Mackellar«, sagte er, »ich mache Ihnen keine Vorwürfe, sondern biete Ihnen einen Pakt an. Ich denke, daß Sie Ihrerseits nicht den Wunsch haben, diese Tat in die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Ich meinerseits gestehe frei, daß ich keine Lust habe, in ständiger Furcht vor der Ermordung durch einen Mann zu leben, mit dem ich zusammen esse. Versprechen Sie mir – aber nein«, unterbrach er sich, »Sie sind noch nicht im ruhigen Besitz Ihrer Vernunft, Sie könnten glauben, ich hätte das Versprechen in der Verwirrung aus Ihnen herausgepreßt und möchte nicht, daß eine Hintertür offen bleibt für nachträgliche Bedenken – jene Unehrlichkeit eines ganz Gewissenhaften. Nehmen Sie sich Zeit zum Überlegen.«

Damit lief er wie ein Wiesel über das glatte Deck und verschwand in der Kabine. Ungefähr eine halbe Stunde später kehrte er zurück, während ich noch so dalag, wie er mich verlassen hatte.

»Nun«, sagte er, »wollen Sie mir jetzt als Christ und treuer Diener meines Bruders Ihr Wort geben, daß ich Ihre Anschläge nicht mehr zu fürchten habe?«

»Ich gebe es Ihnen«, antwortete ich.

»Ich verlange Ihre Hand darauf«, sagte er.

»Sie haben das Recht, Bedingungen zu stellen«, erwiderte ich, und wir schüttelten uns die Hände.

Er setzte sich sofort wieder auf denselben Platz und nahm dieselbe gefährliche Haltung wieder ein.

»Lassen Sie das!« rief ich und verdeckte meine Augen, »ich kann es nicht ertragen, Sie in dieser Haltung zu sehen. Die geringste Unregelmäßigkeit des Seeganges könnte Sie über Bord spülen.«

»Sie sind höchst widerspruchsvoll«, antwortete er lächelnd, aber er tat, um was ich ihn bat. »Alles in allem, Mackellar, möchte ich Sie wissen lassen, daß Sie vierzig Fuß in meiner Achtung gestiegen sind. Sie glauben, daß ich keinen Preis aussetzen kann für Treue? Warum denn, glauben Sie, schleppe ich Secundra Daß mit mir rund um die Welt? Weil er morgen für mich sterben oder morden würde, und ich liebe ihn deshalb. Sie mögen mich für verrückt halten, aber ich schätze Sie höher seit Ihrer Tat heute nachmittag. Ich glaubte, Sie seien im Zauberbann der Zehn Gebote, aber nein – Gott verdamme meine Seele!« rief er, »die alte Jungfer hat doch Blut in den Adern! Was an der Tatsache nichts ändert«, fuhr er lächelnd fort, »daß Sie gut taten, mir Ihr Versprechen zu geben, denn ich glaube nicht, daß Sie sich in Ihrem neuen Beruf auszeichnen würden.«

»Ich glaube«, sagte ich, »ich sollte Sie und Gott um Verzeihung bitten für meine Sünde. Auf alle Fälle habe ich mein Wort gegeben und werde es getreulich halten. Aber wenn ich an diejenigen denke, die Sie verfolgen –«, ich hielt inne.

»Leben ist ein sonderbares Ding«, sagte er, »und die Menschheit ein sonderbares Volk. Sie glauben, daß Sie meinen Bruder lieben. Ich versichere Sie, es ist nur Gewohnheit. Prüfen Sie Ihr Gedächtnis: als Sie zuerst nach Durrisdeer kamen, hielten Sie ihn, wie Sie feststellen werden, für einen langweiligen, gewöhnlichen jungen Mann. Auch heute ist er noch langweilig und gewöhnlich, wenn auch nicht mehr jung. Wären Sie mir statt ihm begegnet, würden Sie heute ebenso bewußt auf meiner Seite stehen.«

»Ich würde Sie nie gewöhnlich nennen, Mr. Bally«, entgegnete ich, »aber jetzt beweisen Sie, daß Sie langweilig sind. Sie haben soeben bewiesen, daß Sie meinem Wort vertrauen. Das ist ein anderer Ausdruck für Gewissen – und dasselbe Gewissen treibt mich instinktiv von Ihnen fort, wie das Auge zurückschreckt vor grellem Licht.«

»Aha!« sagte er, »aber ich meine das anders. Ich meine, wenn Sie mich in früher Jugend getroffen hätten. Sie müssen bedenken, daß ich nicht immer so war wie heute, und daß ich nie so geworden wäre, wenn ich einen Freund Ihrer Art gefunden hätte.«

»Halt, Mr. Bally«, erwiderte ich, »Sie hätten meiner nur gespottet, Sie hätten nie zehn höfliche Worte verschwendet an einen solchen Plattfuß.«

Aber er war nun so recht im Zuge sich zu rechtfertigen und langweilte mich damit während der ganzen übrigen Reise. Ohne Zweifel hatte es ihm früher Vergnügen bereitet, sich selbst so schwarz wie möglich zu malen, er hatte sich mit seiner Schlechtigkeit gebrüstet und sie wie ein Wappenschild vor sich hergetragen. Auch jetzt war er nicht so unlogisch, irgend etwas aus seinen früheren Bekenntnissen abzustreiten. »Aber nun, da ich weiß, daß Sie ein menschliches Wesen sind«, pflegte er zu sagen, »darf ich mich bemühen, mich Ihnen verständlich zu machen. Ich versichere Sie, auch ich bin Mensch und habe Tugenden wie meine Mitmenschen.« Ich sage, er langweilte mich, denn ich wußte ihm nur immer das eine Wort zu antworten und mag wohl zwanzigmal gesagt haben: »Geben Sie Ihren jetzigen Plan auf und kehren Sie mit mir nach Durrisdeer zurück, dann will ich Ihnen glauben.«

Daraufhin pflegte er sein Haupt zu schütteln. »Ach, Mackellar, Sie könnten tausend Jahre leben, ohne meine Natur zu begreifen«, pflegte er zu entgegnen. »Diese Schlacht hat nun einmal begonnen, die Stunde des Überlegens ist ein für allemal vorbei, die Stunde der Barmherzigkeit noch nicht gekommen. Es fing an zwischen uns, als wir die Münze hochwarfen in der Halle von Durrisdeer, vor nunmehr zwanzig Jahren. Wir hatten unsere Erfolge und Mißerfolge, aber keiner von uns träumte je davon nachzugeben, und was mich betrifft, so gilt es Leben und Ehre, wenn ich den Handschuh hingeworfen habe.«

»Einen Pfifferling für Ihre Ehre!« war meine Antwort. »Und verzeihen Sie, diese kriegerischen Vergleiche sind etwas zu überschwenglich für die ganze Angelegenheit. Sie streben nach etwas schmutzigem Geld, das ist die Wurzel Ihrer Begierden. Und welches sind Ihre Mittel? Sie stürzen eine Familie in Sorge und Kummer, die Ihnen nie etwas zuleide tat, Sie wollen, wenn Sie können, Ihren eigenen Neffen verderben und das Herz Ihres eigenen Bruders zerreißen! Ein Wegelagerer, der ein altes Mütterchen in wollenem Umschlagetuch mit einem dreckigen Knüppel tötet, und zwar für ein Schillingstück und eine Prise Schnupftabak – das ist der Krieger, von dem Sie sprechen.«

Wenn ich ihn auf diese oder ähnliche Art angriff, lächelte er und seufzte wie ein mißverstandener Mensch. Einst, so erinnere ich mich, verteidigte er sich etwas weitläufiger und brachte einige sonderbare Sophistereien vor, die wert sind wiederholt zu werden, weil sie seinen Charakter beleuchten.

»Sie gleichen ganz einem Zivilisten, der da glaubt, Krieg bestehe aus Trommeln und Fahnen«, sagte er. »Krieg, wie die Alten sehr weise sagten, ist die ultima ratio. Wenn wir unseren Vorteil rücksichtslos verfolgen, dann führen wir Krieg. Ach, Mackellar, Sie müssen ein Teufel von Soldat sein im Verwaltungszimmer von Durrisdeer, wenn die Pächter Ihnen nicht elend Unrecht tun sollen!«

»Mir liegt nichts daran, was Krieg ist oder nicht ist«, entgegnete ich, »aber Sie langweilen mich durch Ihre Versuche, meine Hochachtung zu gewinnen. Ihr Bruder ist ein guter Mensch, und Sie sind ein schlechter – nichts mehr und nichts weniger.«

»Wäre ich Alexander gewesen –«, begann er.

»So betrügen wir uns alle selbst«, rief ich aus. »Wäre ich der heilige Paulus gewesen, so hätte sich nichts geändert, ich hätte mein Leben genau so verpfuscht wie das gegenwärtige.«

»Ich sage Ihnen«, schrie er, ohne auf meine Unterbrechung zu achten, »wäre ich der elendeste kleine Häuptling im schottischen Hochland, wäre ich der geringste König nackter Neger afrikanischer Wüsten, meine Leute hätten mich angebetet. Ich ein schlechter Mensch? Ach, ich war zu einem Tyrannen bestimmt! Fragen Sie Secundra Daß, er wird Ihnen erzählen, daß ich ihn wie einen Sohn behandle. Verknüpfen Sie Ihr Schicksal morgen mit mir, werden Sie mein Sklave, mein Anhängsel, eine Sache, der ich befehlen kann, wie ich der Kraft meiner eigenen Glieder und meinem Geist befehle – dann werden Sie die Schattenseiten nicht mehr sehen, die ich in meinem Zorn der Welt zukehre. Ich muß alles haben oder nichts. Aber wenn mir alles gegeben wird, reiche ich es mit Wucherzinsen zurück. Ich habe eine königliche Natur, das ist mein Verderben!«

»Bisher war es nur das Verderben der anderen«, bemerkte ich, »was mit Königlichkeit wenig zu tun hat.«

»Geschwätz!« rief er aus. »Auch jetzt noch, sage ich Ihnen, würde ich jene Familie schonen, für die Sie sich so sehr einsetzen. Ja, auch jetzt noch, morgen, würde ich sie ihrem kleinlichen Glück überlassen und in jene Wälder von Halsabschneidern und Taschenspielern verschwinden, die wir die Welt nennen. Morgen würde ich es tun!« sagte er. »Nur – nur –«

»Nur was?« fragte ich.

»Nur müßten sie mich mit gebeugten Knien anflehen. Ich glaube, in aller Öffentlichkeit sogar!« fügte er lächelnd hinzu. »Wirklich, Mackellar, vielleicht gibt es keine Halle, die groß genug wäre, um meiner Absicht zu genügen, Vergeltung zu erlangen.«

»Eitelkeit der Eitelkeiten!« moralisierte ich. »Wenn man bedenkt, daß dieser große Wille zum Bösen durch ein Gefühl beschwichtigt werden könnte, das dem eines kleinen Mädchens gleicht, das sich vor dem Spiegel schmückt!«

»Oh, es gibt zweierlei Worte für dieselbe Sache: ein Wort, das übertreibt, ein anderes Wort, das bespöttelt. Sie können mich nicht mit Worten bekämpfen!« entgegnete er. »Sie sagten neulich, daß ich mich auf Ihr Gewissen verlasse. Wenn ich spotten wollte, könnte ich sagen, daß ich auf Ihre Eitelkeit baue. Sie erheben Anspruch darauf, ein homme de parole zu sein, ich, keine Niederlage einzugestehen. Nennen Sie es Eitelkeit, nennen Sie es Seelengröße – was bedeutet der Ausdruck? Aber erkennen Sie in jedem von uns ein gemeinsames Streben: wir beide leben für eine Idee!«

Aus so vielen vertraulichen Gesprächen und so großer Nachsicht auf beiden Seiten kann man ersehen, daß wir jetzt ausgezeichnet zusammen lebten. Das war nun wieder eine Tatsache, und diesmal viel ernster als zuvor. Abgesehen von den Debatten, wie ich sie wiederzugeben versuchte, herrschte zwischen uns nicht nur Höflichkeit, sondern sogar Liebenswürdigkeit, wie ich versucht bin zu sagen. Als ich krank wurde, wie es kurz nach dem großen Sturm geschah, saß er an meinem Lager und unterhielt mich mit seinen Gesprächen. Er reichte mir ausgezeichnete Hilfsmittel, die ich vertrauensvoll annahm.

Er selbst sprach sich über diesen Umstand aus. »Sehen Sie«, sagte er, »Sie beginnen, mich besser zu verstehen. Noch kurze Zeit vorher würden Sie auf diesem einsamen Schiff, wo keiner außer mir auch nur eine oberflächliche Kenntnis der Wissenschaften besitzt – würden Sie bestimmt geglaubt haben, ich wolle Ihnen ans Leben. Und bedenken Sie: erst seit Sie dem meinen nachgestellt haben, bringe ich Ihnen Achtung entgegen. Und nun sagen Sie mir, das sei Engherzigkeit.« Ich fand wenig zu erwidern. Was mich selbst betraf, so hielt ich ihn für wohlwollend mir gegenüber. Vielleicht ließ ich mich von Heuchelei täuschen, aber ich glaubte, und glaube es noch, daß er mir mit wirklicher Freundlichkeit gegenüberstand. Eine eigenartige und traurige Tatsache: sobald dieser Wechsel eintrat, nahm mein Widerwille ab, und die furchtbaren Visionen von meinem Herrn verschwanden völlig. Vielleicht lag Wahrheit in dem letzten prahlerischen Wort, das er mir gegenüber am 2. Juni äußerte, als unsere lange Reise endlich beinahe beendet war und wir in einer Windstille vor der Einfahrt des großen Hafens von New York lagen, in atemraubender Hitze, die bald darauf und überraschend von einem Wolkenbruch abgelöst wurde. Ich stand auf dem Achterdeck und blickte hinüber zu den nahen grünen Küsten, wo ab und zu dünner Rauch aufstieg aus der kleinen Stadt, unserem Ziel. Obgleich ich auch damals noch überlegte, wie ich dem Feind der Familie, die ich liebte, einen Vorsprung abgewinnen könnte, spürte ich doch eine gewisse Beklemmung, als er sich mir näherte und die Hand ausstreckte.

»Ich muß Ihnen jetzt Lebewohl sagen,« begann er, »und zwar für immer. Denn jetzt gehen Sie zu meinen Feinden, wo alle Ihre früheren Vorurteile wieder aufleben werden. Es mißlang mir nie, jemand zu fesseln, wenn ich wollte. Und selbst Sie, guter Freund – um Sie noch einmal so zu nennen –, selbst Sie haben jetzt ein ganz anderes Bild von mir in Ihrer Vorstellung, das Sie nie völlig vergessen werden. Die Reise hat nicht lange genug gedauert, sonst hätte ich es Ihnen noch tiefer eingeprägt. Aber jetzt ist alles zu Ende, und wir sind wieder im Kriege. Beurteilen Sie nach diesem kleinen Zwischenspiel, wie gefährlich ich bin, und sagen Sie jenen Narren« – er wies mit dem Finger auf die Stadt–, »sie sollen es sich zwei- und dreimal überlegen, bevor sie mich zum Äußersten treiben.«