Ich verstoße gegen mein Ehrenwort

Mein Weg mündete auf den »Lang Dykes«, einer ländlichen Straße, die sich längs der Höhen an der Nordseite der Stadt hinzieht. Von dort konnte ich die ganze düstere Häusermasse überblicken: die Burg auf dem steilen Felsen mit dem See zu ihren Füßen, und die weit auslaufende, sanft abfallende Linie der Türme, Giebel und rauchenden Schornsteine. Bei diesem Anblick schwoll mir das Herz in der Brust. Wie gesagt, trotz meiner Jugend war ich an Gefahr gewöhnt, jedoch Gefahren, wie sie mir heute morgen in der angeblich so sicheren Stadt gedroht hatten, erschütterten mich in ungeahnter Weise. Gefahren der Sklaverei, Gefahren des Schiffbruchs, Gefahren durch Pulver und Schwert: allen hatte ich in Ehren getrotzt; aber die Gefahr, die in der scharfen Stimme und dem feisten Gesicht Simons, des eigentlichen Herrn von Lovat, lag, brachte mich völlig außer Fassung. Ich ließ mich am Ufer des Sees an einer Stelle nieder, an der das Schilf weit in das Wasser ragte, tauchte meine Hände in das Naß und badete meine Schläfen. Hätte ich fliehen können, ohne auch den letzten Rest meiner Selbstachtung zu verlieren, ich wäre vor meinem tollkühnen Unternehmen davongelaufen. Aber (war es nun Mut oder Feigheit oder vielleicht etwas von beiden) ich entschied: die Sache ist zu weit gediehen, um einen Rückzug zu gestatten. Bisher hatte ich mich beiden Männern gegenüber behauptet; ich würde mich auch weiter behaupten, und, komme was da wolle, an meinem Wort festhalten.

Das Bewußtsein meiner eigenen Standhaftigkeit tröstete mich ein wenig, aber nicht viel. Trotz allem und allem konnte ich ein eisiges Gefühl im Herzen nicht loswerden, und das ganze Leben schien mir ein finsteres, gefährliches Geschäft. Für zwei Seelen insbesondere floß ich vor Mitleid über. Die eine war ich selbst in meiner freundlosen, bedrohlichen Lage. Die andere war das Mädchen, die Tochter James Mores. Ich kannte sie kaum, aber ich hatte sie gesehen, und mein Urteil stand fest. Ich hielt sie für ein Mädchen von reinstem Ehrgefühl, empfindlich in diesen Dingen wie ein Mann; Schande, dachte ich, würde sie töten; und im nämlichen Augenblick glaubte ich von ihrem Vater, daß er am Werke sei, sein eigenes, entehrtes Leben gegen das meinige einzuhandeln. Das schaffte eine Art Gedankenverbindung zwischen dem Mädchen und mir. Bisher war sie nur wie ein Wanderer am Wege neben mir aufgetaucht, eine flüchtige Erscheinung, die mich jedoch seltsam fesselte; jetzt entdeckte ich plötzlich nahe Bande zwischen mir und ihr als Tochter meines Blutsfeindes, ja Mörders, wie ich ihn mit Recht bezeichnen konnte. Ich überlegte, daß es doch ein recht hartes Schicksal sei, mein Lebtag um anderer Leute willen gejagt und verfolgt zu werden, ohne ein bißchen eigene Freude am Leben. Zwar hatte ich satt zu essen und ein Bett zum Schlafen, wenn meine Angelegenheiten es mir gestatteten; allein darüber hinaus wollte mein Reichtum mir nichts nützen. Sollte ich gehenkt werden, so waren meine Tage gezählt; kam es nicht dazu, und entrann ich mit heiler Haut allen diesen Gefahren, so würde ich das Leben vielleicht noch satt bekommen, ehe ich mit ihm fertig war. Plötzlich tauchte Catrionas Gesicht vor mir auf, mit leise geöffneten Lippen, wie ich es das erstemal erblickt hatte; gleichzeitig spürte ich eine Schwäche in meinem Herzen und Kraft in meinen Beinen und machte mich entschlossen auf den Weg nach Dean. Sollte ich morgen gehenkt werden – und die Möglichkeit, daß ich bereits heute nacht im Gefängnis schlafen müßte, lag auf der Hand – so wollte ich vorher wenigstens noch einmal Catriona sehen und sprechen.

Die körperliche Bewegung und der Gedanke an mein Ziel gaben mir frischen Mut, so daß ich fast heiter wurde. Im Dorfe Dean, das im Grunde eines Tales neben dem Flusse lag, erkundigte ich mich bei einem Müllerknecht nach dem Wege, und er wies mich auf einen breiten Pfad, der mich am jenseitigen Ufer bergauf nach einem sauberen Häuschen führte in einem Garten mit Apfelbäumen und weiten Rasenflächen. Mein Herz schlug heftig, als ich die Öffnung in der Gartenhecke durchschritt und fiel mir gleich darauf in die Hosen, denn plötzlich stand ich einer grimmigen, finster blickenden alten Dame gegenüber, die dort spazierenging, und die als Kopfbedeckung eine weiße Haube trug, über die ein Männerhut geschnallt war.

»Was sucht Ihr hier?« herrschte sie mich an.

Ich sagte, ich wünsche Miß Drummond zu sprechen.

»Und was habt Ihr mit Miß Drummond zu schaffen?« forschte sie. Ich erklärte, ich hätte sie vergangenen Samstag getroffen und wäre so glücklich gewesen, ihr einen kleinen Dienst zu erweisen und sei heute auf der jungen Dame persönliche Einladung hier. »Aha, der Musjö Sixpence!« rief sie mit schärfstem Hohn. »Ein schönes Geschenk, ein feiner Gentleman! Habt Ihr noch einen anderen Namen oder Titel, oder wurdet Ihr Sixpence getauft?«

Ich nannte ihr meinen Namen.

»Gott im Himmel!« rief sie. »Hat Ebenezer einen Sohn gezeugt?« »Nein, gnädige Frau«, entgegnete ich. »Ich bin der Sohn von Alexander und der Erbherr von Shaw.« »Wenn Ihr das durchfechten wollt, habt Ihr Euch ein saures Stück Arbeit vorgenommen«, bemerkte sie. »Ich sehe, Ihr kennt meinen Onkel,« entgegnete ich, »Ihr werdet Euch daher vielleicht freuen zu hören, daß die Angelegenheit bereits geregelt ist.« »Und was wollt Ihr von Miß Drummond?« fuhr sie fort. »Ich bin wegen meines halben Shillings gekommen, Madame,« sagte ich. »Ihr dürft Euch nicht wundern, wenn ich als meines Onkels Neffe ein wenig haushälterisch bin.« »So, so, Ihr habt also einen Funken von Witz«, bemerkte die alte Dame mit einigem Wohlwollen. »Ich dachte, Ihr wäret nur so ein windiger Junge – Ihr mit Eurem Sixpence und Eurem ›Glückstag‹ und Eurem ›Balwhidder zuliebe‹« – (Ich erkannte mit Befriedigung, daß Catriona sich wenigstens eines Teiles unseres Gespräches erinnert hatte.) »Aber so kommen wir nicht weiter«, fuhr sie fort. »Habe ich zu verstehen, daß Ihr auf Freiersfüßen geht?« »Die Frage ist bestimmt etwas verfrüht«, sagte ich. »Das Fräulein ist noch sehr jung, und ich leider auch. Ich habe sie erst einmal gesehen. Ich leugne nicht,« fügte ich in der Absicht hinzu, es einmal mit vollkommener Offenheit zu versuchen, »ich leugne nicht, daß sie mir, seit ich sie kennenlernte, ziemlich viel im Kopfe herumgeht. Das ist eine Sache für sich, aber es ist eine ganz andere Sache, sich festzulegen, und ich glaube, ich wäre ein Narr, wenn ich’s täte.« »Na, Ihr nehmt, wie ich sehe, kein Blatt vor den Mund«, entgegnete die alte Dame. »Das tue ich, gottlob, auch nicht! Ich war dumm genug, dieses Gauners Tochter unter meinen Schutz zu nehmen; eine schöne Sache habe ich mir da aufgehalst, aber geschehen ist geschehen, und durchführen werd ich sie, wie’s mir gefällt. Wollt Ihr mir weismachen, Mr. Balfour von Shaw, Ihr wäret bereit, James Mores Tochter zu heiraten, selbst wenn er gehenkt wird? Na also, und wo aus dem Heiraten nichts wird, wird auch nichts aus dem Hofieren und Karessieren, könnt Euch drauf verlassen. Mädchen sind schwache Geschöpfe«, setzte sie mit einem Kopfnicken hinzu, »und wenn Ihr’s mir mit meinen Runzeln auch nicht anseht, war ich selbst doch auch mal ein Mädchen, und ein hübsches obendrein.«

»Lady Allardyce«, entgegnete ich, – »ich nehme an, das ist Euer Name – Ihr scheint mir hier für beide Teile das Reden zu besorgen, und das ist kaum die rechte Art, zu einer Verständigung zu gelangen. Ihr habt da eine ziemlich empfindliche Stelle getroffen, als Ihr mich fragtet, ob ich vom Fuße des Galgens weg eine junge Dame heiraten möchte, die ich ein einziges Mal gesehen habe. Ich sagte Euch bereits, ich würde niemals so unvorsichtig sein, mich zu binden. Und doch will ich Euch gegenüber ziemlich weit gehen. Wenn ich das Mädchen weiterhin so gerne habe, wie ich es eigentlich erwarte, wird es stärkeren Mächten als ihrem Vater und dem Galgen nicht gelingen, uns auseinander zu halten. Und was meine Familie anbetrifft, so habe ich sie quasi auf der Landstraße aufgelesen, wie einen verlorenen Kupfergroschen. Ich schulde meinem Onkel weniger als nichts, und sollte ich jemals heiraten, so geschieht’s einem einzigen Menschen zu Gefallen: mir selbst.« »Dergleichen Reden habe ich gehört, noch ehe Ihr auf der Welt waret«, versetzte Mrs. Ogilvy, »und das ist vielleicht der Grund, weswegen ich so wenig davon halte. Es gibt da viele Bedenken. Dieser James More ist ein Verwandter von mir, zu meiner Schande sei’s gesagt. Aber – je besser die Familie, um so zahlreicher die Gehenkten – so war es ja von jeher in unserem armen Schottland. Und wenn es mit dem Hängen abgetan wäre! Ich für meinen Teil wäre ganz zufrieden, den James am Galgen zu sehen, dann wären wir ihn endlich los. Die Katrin ist ein recht braves Mädchen und gutherzig obendrein, die sich den lieben langen Tag von so einem abgetakelten alten Frauenzimmer wie mir die Ohren vollposaunen läßt. Aber jetzt kommt der wunde Punkt. Sie ist reinweg vernarrt in den langbeinigen, falschen, gleisnerischen Lumpen, ihren Vater, und dreidoppelt vernarrt in alles, was Gregara heißt und geächtet ist und was mit König James und derartigen Windbeuteleien zu tun hat. Und wenn Ihr glaubt, sie würde sich von Euch leiten lassen, so seid Ihr gründlich auf dem Holzwege. Ihr habt sie nur einmal gesehen –« »Einmal gesprochen, wäre richtiger«, unterbrach ich sie. »Ich sah sie heute morgen aus Prestongranges Fenster.« Ich erwähnte das so nebenbei, vermutlich, weil ich glaubte, damit Eindruck zu machen, und wurde sogleich für meine Eitelkeit bestraft. »Was soll das heißen?« rief die alte Dame mit einer plötzlichen Grimasse. »Ich glaube, des Lord Staatsanwalts Tür war der Ort, an dem Ihr einander kennenlerntet?« Ich mußte das bestätigen. »Hm«, sagte sie, und fuhr dann plötzlich scheltend fort, »ich muß Euch ja auf Euer bloßes Wort glauben, wer und was Ihr seid. Ihr behauptet, Ihr wäret Balfour von Shaw; aber was weiß ich, ob Ihr nicht des Teufels Handlanger seid. Vielleicht seid Ihr wirklich aus den angegebenen Gründen hierher gekommen, aber es ist ebenso gut möglich, daß Ihr Gott weiß was bezweckt. Ich bin Whig genug, um mich hübsch still zu verhalten und zu sorgen, daß meinen Mannsleuten nicht der Kopf auf den Schultern wackelt. Aber ich bin kein so guter Whig, daß ich mich an der Nase herumführen lasse. Und ich sage Euch deshalb rund heraus, mir ist zuviel von des Staatsanwalts Tür und von des Staatsanwalts Fenster die Rede, als daß es mir an einem Manne, der einer MacGregor nachrennt, gefallen möchte. Das könnt Ihr dem Herrn Staatsanwalt, der Euch hierherschickt, ausrichten, und meine zärtlichsten Grüße obendrein. Und ein Kußhändchen für Euch selbst, Mr. Balfour«, schloß sie und paßte die Handlung ihren Worten an; »recht gute Reise dorthin, woher Ihr kommt.« »Wenn Ihr mich für einen Spion haltet – «, begehrte ich auf, aber die Worte blieben mir im Hälse stecken. Da stand ich und blickte Mord und Tod auf die alte Dame; dann machte ich ihr eine Verbeugung und wollte mich entfernen. »Heda! Sachte! Das Bürschchen hat den Verstand verloren!« rief sie. »Euch für einen Spion halten? Für was sonst soll ich Euch denn halten – ich kenne Euch ja gar nicht. Aber ich sehe, ich habe mich geirrt, und da ich mich nicht schlagen kann, muß ich mich schon entschuldigen. Eine feine Figur würd ich mit ’nem Pallasch abgeben! Ja, ja,« fuhr sie fort, »Ihr seid in Eurer Art ein recht guter Junge und habt, scheint’s, einige ganz sympathische Laster. Aber mein teurer David Balfour, Ihr seid verdammt tölpelhaft. Das müßt Ihr noch überwinden, mein Junge; Ihr müßt ein wenig Geschmeidigkeit annehmen und lernen, etwas weniger an Euer eigenes liebes Ich zu denken. Und allmählich müßt Ihr auch dahinterkommen, daß wir Weibsleute keine Grenadiere sind. Aber so weit werdet Ihr’s niemals bringen. Ihr werdet noch auf Eurem Sterbebett so wenig von den Frauenzimmern wissen, wie ich vom Sauschneiden.« Derartige Ausdrücke war ich an einer Dame durchaus nicht gewöhnt; die einzigen beiden Damen, die ich gekannt hatte, waren Mrs. Campbell und meine Mutter gewesen, beide höchst fromme und gesittete Frauen; und mein Entsetzen muß sich wohl deutlich in meinem Gesicht gespiegelt haben, denn Mrs. Ogilvy brach plötzlich in Lachen aus. »O Gott, o Gott!« schrie sie und versuchte vergeblich, ihre Heiterkeit zu meistern, »das Schafsgesicht, das Schafsgesicht, das Ihr macht! Und Ihr wollt die Tochter eines Hochlandsräubers heiraten? Davie, mein Herzchen, ich glaube, wir müssen Euch doch verkuppeln – und wär’s nur, um die Bälger zu sehen, die dabei herauskommen. Aber es hat keinen Zweck, daß Ihr noch weiter hier herumlungert,« fuhr sie fort, »denn das junge Frauenzimmer ist nicht zu Hause und das alte Frauenzimmer dürfte für Eures Vaters Sohn nicht die passende Gesellschaft sein; abgesehen davon, daß ich außer mir selbst niemanden habe, um meinen Ruf zu hüten und mich vor den Reizen eines verführerischen Jünglings zu schützen. Kommt also ein andermal wieder, um Euren Sixpence zu holen!« rief sie mir nach, als ich schon im Gehen war. Mein Scharmützel mit dieser überraschenden und etwas erschütternden Dame hatte meinen Gedanken eine bisher fremde und gewagte Richtung gegeben. Zwei Tage lang hatte Catriona sich in all mein Denken eingedrängt; ja, sie war gleichsam dessen Hintergrund gewesen, so daß ich kaum mit mir allein zu sein vermochte, ohne in irgendeinem Winkel meines Gehirns ihr Bild zu erspähen. Jetzt jedoch war sie mir mit einem Schlage ganz nahe gerückt: ich schien sie zu berühren, sie, deren Hand ich nur ein einziges Mal berührt hatte, und mein ganzes Sein strömte ihr in einer Art glückseliger Schwäche entgegen. Wenn ich im Geiste Zukunft und Vergangenheit überblickte, erschien das Leben mir wie eine häßliche Wüste, in die die Menschen hineinmarschieren, wie Soldaten zu ihrer Pflicht; Catriona allein vermochte mir Freude zubieten. Ich wunderte mich über mich selbst, daß es mir möglich wäre, in dieser Zeit der drohenden Gefahr und Schande bei derartigen Gedanken zu verweilen, und als mir meine Jugend einfiel, schämte ich mich geradezu. Ich mußte erst meine Studien vollenden, ich mußte irgendeinen nützlichen Beruf ergreifen, ich mußte in dieser Welt, wo jeder dienen und arbeiten muß, erst meine Arbeit verrichten, ich mußte vor allem ein Mann werden und mich als Mann fühlen und erproben. Zum Glück hatte ich noch so viel Vernunft, über die Versuchung zu erröten, die jene späteren und heiligeren Pflichten für mich bedeuteten. Meine ganze Erziehung fiel hier schwer ins Gewicht; man hatte mich nicht mit Zuckerbrot gefüttert, sondern mit dem harten Brot der Wahrheit. Ich wußte, wer nicht gleichzeitig die Pflichten des Vaters erfüllen kann, taugt auch zum Gatten nicht, und für einen Jungen wie mich den Vater spielen zu wollen, war rein lächerlich.

Als ich, völlig in diese Gedanken vertieft, etwa die Hälfte des Weges zur Stadt zurückgelegt hatte, sah ich eine Gestalt auf mich zukommen, bei deren Anblick sich meine Herzensnöte noch verschärften. Mir war, als hätte ich ihr eine Welt zu sagen, ohne jedoch den Anfang finden zu können, und bei dem Gedanken an meine Verlegenheit heute morgen im Hause des Staatsanwalts, war ich überzeugt, ich würde kein Wort über die Lippen bringen. Aber in dem Moment, da sie mich erreichte, flohen auch alle meine Befürchtungen; selbst das Bewußtsein meiner geheimen Gedanken brachte mich nicht im geringsten außer Fassung, und ich fand, daß ich mich so leicht und vernünftig mit ihr unterhalten konnte wie mit Alan selbst. »O,« rief sie, »Ihr wolltet Euren Sixpence holen, habt Ihr ihn bekommen?« Ich sagte ihr, nein, aber mein Spaziergang wäre nun, da ich sie getroffen hätte, nicht umsonst gewesen. »Obwohl ich Euch heute schon einmal gesehen habe«, fügte ich hinzu und erzählte ihr, wo und wie. »Ich habe Euch nicht bemerkt«, antwortete sie. »Ich habe zwar große Augen, aber was Sehen anbelangt, gibt es deren bessere. Ich hörte nur jemanden im Hause singen.« »Das war Miß Grant,« sagte ich, »die älteste und schönste von den Töchtern.« »Sie sollen alle wunderschön sein«, meinte sie.

»Das gleiche denken sie von Euch, Miß Drummond,« entgegnete ich, »und alle stürzten ans Fenster, Euch zu sehen.«

»Wie schade, daß ich so kurzsichtig bin,« bemerkte sie, »sonst hätte ich sie auch sehen können. Und Ihr wart im Hause selber? Ihr müßt Euch bei der schönen Musik und den hübschen Damen gut unterhalten haben.« »Da irrt Ihr Euch gründlich«, erwiderte ich; »ich war so unbeholfen wie ein Seefisch auf der Berghalde. In Wahrheit tauge ich besser dazu, mit rauhen Männern als mit hübschen Damen umzugehen.« »Ich glaube wirklich, ja!« sagte sie, und wir mußten beide lachen. »Es ist doch eine seltsame Sache«, hub ich von neuem an. »Vor Euch habe ich nicht die geringste Angst, und doch wäre ich vor den Miß Grants am liebsten davongelaufen. Vor Eurer Base habe ich mich auch gefürchtet.« »O, ich glaube, vor der hat jeder Mann Angst«, rief sie. »Selbst mein Vater fürchtet sich vor ihr.« Der Name ihres Vaters ließ mich innehalten. Ich sah sie an, wie sie da an meiner Seite ging; ich stellte mir den Mann vor und das wenige, was ich von ihm wußte, sowie all das, was ich vermutete; dann verglich ich die beiden und kam mir bei meinem Schweigen wie ein Verräter vor. »Übrigens habe ich Euren Vater erst heute morgen getroffen«, sagte ich. »Wirklich?« rief sie mit so freudiger Stimme, daß sie meiner zu spotten schien. »Ihr sahet James More? Ihr habt doch nicht etwa mit ihm gesprochen?« »Auch das«, antwortete ich.

Und nun, glaube ich, nahmen die Dinge den denkbar schlechtesten Verlauf für mich – sie schenkte mir einen Blick voll tiefster Dankbarkeit. »Ich danke Euch«, sagte sie. »Ihr habt mir sehr wenig zu danken«, entgegnete ich und verstummte von neuem. Aber es schien, daß ich mich wenigstens von einem Teil der Last, die mich drückte, befreien müßte. »Ich habe sehr häßlich zu ihm gesprochen,« sagte ich, »ich konnte ihn nicht recht leiden; ich war nicht freundlich zu ihm, und er war böse auf mich.« »Ich meine, dazu hattet Ihr sehr wenig Recht, und noch viel weniger Recht, es seiner Tochter zu erzählen!« rief sie laut. »Aber wer ihn nicht liebt und ehrt, den will auch ich nicht kennen.« »Ich möchte Euch noch ein Wort sagen«, fuhr ich zitternd fort. »Vielleicht sind weder Euer Vater noch ich in der besten Laune, wenn wir uns bei Prestongrange befinden. Ich nehme an, wir haben beide gefährliche Dinge dort zu erledigen, denn es ist ein gefährliches Haus. Er tat mir außerdem leid, und ich war der erste, mich in ein Gespräch einzulassen, und ich hätte Gescheiteres tun können. Im übrigen bin ich der Ansicht, daß seine Aussichten sich bald bessern werden; Ihr sollt sehen!«

»Durch Eure Freundschaft jedenfalls nicht, das sehe ich«, entgegnete sie. »Und für Euer Mitleid läßt er Euch herzlich danken.« »Miß Drummond,« rief ich, »ich stehe ganz allein auf der Welt …« »Das wundert mich nicht«, sagte sie.

»O laßt mich reden«, flehte ich. »Ich will nur dies eine Mal reden und Euch dann, wenn Ihr’s wünscht, auf immer verlassen. Ich bin heute in der Hoffnung auf ein gutes Wort zu Euch gekommen; ich brauche es so nötig. Ich weiß, das, was ich sagte, muß Euch verletzen; ich wußte es, als ich es aussprach. Es wäre so leicht gewesen, zu heucheln und Euch zu belügen; könnt Ihr Euch nicht denken, wie groß die Versuchung war? Könnt Ihr nicht in meinem Herzen die Wahrheit leuchten sehen?« »Ich glaube, Mr. Balfour, hier ist viel Lärm um nichts«, entgegnete sie. »Ich meine, wir wollen es mit dieser Begegnung bewenden lassen und wie gesittete Menschen auseinandergehen.« »O, macht, daß wenigstens ein Mensch an mich glaubt,« bettelte ich, »ich kann es sonst nicht ertragen. Die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen. Wie soll ich sonst mein furchtbares Los ertragen? Wenn gar keiner an mich glaubt, kann ich es nicht tun. Dann muß der Mann eben sterben, dann kann ich es nicht.« Sie hatte bisher hocherhobenen Hauptes vor sich hingestarrt; bei meinen Worten und dem Ton meiner Stimme jedoch blieb sie unvermittelt stehen. »Was sagt Ihr da?« fragte sie. »Wovon redet Ihr?« »Mein Zeugnis kann einen Unschuldigen retten,« fuhr ich aufgeregt fort, »und sie wollen nicht dulden, daß ich es ablege. Was würdet Ihr an meiner Stelle tun? Ihr, deren Vater in Gefahr schwebt, könnt Euch in meine Lage versetzen. Würdet Ihr die arme Seele im Stich lassen? Sie haben alle Mittel an mir versucht. Sie haben mich bestechen wollen; sie haben mir Geld und Güter angeboten. Und heute erst hat der Bluthund mir klar gemacht, wo ich in Wahrheit stehe, und was er alles tun würde, um mich zu morden und mit Schande zu überhäufen. Man will mich als des Mordes mitschuldig bezichtigen; ich soll Glenure gegen Geld und alte Kleider in ein Gespräch gelockt haben. Ich soll getötet und entehrt werden. Soll ich auf diese Weise umkommen, ich, der ich kaum noch ein Mann bin – soll es wirklich dazu kommen, daß ganz Schottland dies von mir glaubt – solltet auch Ihr das von mir glauben und mein Name nur als ewiger Fluch weiterleben – Catriona, wie kann ich es dann durchführen! Das ist unmöglich, das geht über Menschenkraft!« – Meine Worte brachen in wilder Erregung aus mir hervor, einander überstürzend; als ich innehielt, sah ich, daß sie mich erschrocken anblickte. »Glenure? Es ist der Appiner Mord!« sagte sie leise, aber auf das höchste erstaunt. Ich war vorhin umgekehrt, um sie zu begleiten, und wir befanden uns jetzt dicht vor der Höhe über dem Dorfe Dean. Bei diesen Worten versperrte ich ihr plötzlich mit der Miene eines Mannes, der den Verstand verloren hat, den Weg. »Um Gottes willen!« schrie ich, »um Gottes willen, was habe ich getan! Ich muß behext sein, so zu reden!« »Gott im Himmel, was fehlt Euch jetzt?« rief sie.

»Ich habe mein Ehrenwort gegeben«, stöhnte ich. »Ich habe mein Ehrenwort gegeben, und jetzt habe ich es gebrochen! O Catriona!« »Ich frage Euch, worum es sich handelt«, sagte sie. »Waren das die Dinge, von denen Ihr nicht sprechen durftet? Und glaubt Ihr etwa, ich hätte kein Ehrgefühl? Oder daß ich ein Mensch sei, der einen Freund verrät? Hier hebe ich meine rechte Hand hoch und schwöre Euch –«

»O, ich wußte, daß ich mich auf Euch verlassen konnte«, rief ich. »Ich dagegen – seht Ihr, das ist’s! Ich, der ich erst heute morgen ihnen trotzte und lieber einen schimpflichen Tod am Galgen erleiden wollte als Unrecht tun – ich werfe wenige Stunden später in einem ganz gewöhnlichen Gespräch auf der Landstraße meine Ehre weg! ›Das eine geht klar aus unserer Unterredung hervor,‹ sagte er, ›ich kann mich auf Euer Wort verlassen.‹ Und wo ist mein Wort jetzt? Wer würde mir jetzt noch glauben? Ihr könnt mir doch nicht mehr trauen. Ich bin ganz tief gesunken; das beste wäre, ich stürbe!« Das alles sagte ich mit weinender Stimme, doch blieben mir Tränen versagt.

»Mir tut das Herz weh um Euretwillen,« entgegnete sie, »aber Ihr seid zu gewissenhaft, glaubt mir. Ihr meint, ich könnte Euch nicht mehr trauen? Es gibt nichts auf der Welt, in welchem ich mich nicht auf Euch verlassen würde. Und diese Männer? Ich würde mir ihretwegen nicht das Herz schwer machen! Männer, die nur auf Mittel und Wege sinnen, um Euch Fallen zu stellen und Euch zu verderben! Pfui, jetzt ist nicht die Zeit, sich selbst zu erniedrigen. Blickt auf! Wißt Ihr denn nicht, daß ich Euch bewundere, wie die großen Helden aus alter Zeit? Und nur weil Ihr ein Wort zuviel einem Freunde gegenüber habt fallen lassen, macht Ihr davon so viel Aufhebens! Wir müssen es beide vergessen!«

»Catriona«, sagte ich, und blickte sie beschämt und zerknirscht an, »ist das wirklich wahr? Habt Ihr immer noch zu mir Vertrauen?«

»Wollt Ihr selbst meinen Tränen nicht glauben?« rief sie. »Ich halte mehr als die ganze Welt von Euch, David Balfour. Mögen sie Euch hängen, ich werde Euch niemals vergessen; ich will alt werden und Eurer gedenken. Ich finde es groß, so zu sterben; ich werde Euch um Euren Galgen beneiden.«

»Dabei bin ich vielleicht nur ein dummes Kind, das sich vor Gespenstern fürchtet!« sagte ich. »Vielleicht führen sie mich doch nur an der Nase herum.«

»Das muß ich jetzt erfahren«, sagte sie. »Ich muß alles hören. Der Schaden ist nun schon geschehen, und ich muß das Ganze hören.«

Ich hatte mich am Wegrand niedergelassen, und sie setzte sich jetzt neben mich. Dann erzählte ich ihr alles, was ich hier geschrieben habe, und ließ lediglich meine Gedanken über ihres Vaters Verhalten aus.

»Nun,« meinte sie, als ich geendet hatte, »Ihr seid ein Held, das ist klar; ich hätte es niemals von Euch gedacht! Und ich glaube auch, daß Ihr Euch in Gefahr befindet. Oh, Simon Fraser! Was für ein Mensch! Sich um seines Lebens willen und für schmutziges Geld in einen derartigen Handel einzulassen.« Dann gebrauchte sie eine merkwürdige Redensart, die sie liebte und die wohl ihrer Muttersprache entstammte: »Du meine Qual! Seht nur die Sonne!«

Tatsächlich ging die Sonne bereits hinter den Bergen unter.

Sie forderte mich auf, bald wiederzukommen, reichte mir die Hand und ließ mich in einem Wirbel froher Gedanken zurück. Ich zögerte noch, mich in meine Wohnung zu begeben, denn ich hatte große Angst, sofort verhaftet zu werden. Daher aß ich in einem Wirtshause zu Abend und wanderte den größeren Teil der Nacht in den Gerstenfeldern umher und fühlte mich Catriona ganz nahe, fast als trüge ich sie auf den Armen.