I.

10. März 1896.

Mein lieber Robbie!

Laß an den Rechtsanwalt Holman sofort einen Brief schreiben des Inhalts: da meine Frau versprochen habe, mir ein Drittel auszusetzen, falls sie vor mir sterben sollte, wünsche ich, daß man ihrem Vorhaben, mir eine Lebensrente zu kaufen, keinerlei Widerstand leiste. Ich bin mir bewußt, solches Unglück über sie und solches Verderben über meine Kinder gebracht zu haben, daß ich kein Recht habe, ihren Wünschen irgendwie zuwider zu handeln. Sie war hier freundlich und gut gegen mich, als sie mich besuchte. Ich habe volles Vertraun zu ihr. Bitte erledige das sofort und danke meinen Freunden für ihre Gefälligkeit. Ich fühle, daß ich recht handle, indem ich dies meiner Frau überlasse.

Schreibe bitte an Stuart Merrill 169 in Paris oder an Robert Sherard, 170 welche freudige Genugtuung mir die Aufführung meines Stückes bereitet habe, und laß Lugné-Poë meinen Dank überbringen: es ist etwas, daß ich trotz Schimpf und Schande noch als Künstler gelte. Ich wünschte, ich könnte mich mehr freun, aber ich bin offenbar für alle Empfindungen abgestorben, außer für Gram und Verzweiflung. Einerlei, teile bitte Lugné-Poë 171 mit, daß ich die Ehre zu schätzen wisse, die er mir angetan. Er ist selbst ein Dichter. Ich fürchte, Du wirst dies nur schwer lesen können, aber da man mir nicht den Gebrauch von Schreibzeug erlaubt, scheint es, als hätte ich das Schreiben verlernt – Du mußt mich entschuldigen. Danke More, 172 daß er sich um Bücher bemüht hat; unglücklicherweise leide ich an Kopfschmerz, sobald ich meine griechischen und römischen Dichter lese – sie haben mir daher noch nicht viel geholfen –, aber es war sehr freundlich von ihm, mir die Auswahl zu besorgen. Laß ihn der Dame, die in Wimbledon wohnt, 173 meinen Dank ausdrücken. Antworte mir bitte hierauf schriftlich und erzähle mir von literarischen Dingen, was für neue Bücher usw. – auch von Jones‘ Stück 174 und Forbes-Robertsons 175 Theaterleitung – von irgendwelchen neuen Tendenzen im Pariser oder Londoner Bühnenleben. Versuche auch zu Gesicht zu bekommen, was Lemaître, Bauer und Sarcey 176 über »Salome« gesagt haben, und gib mir ein kurzes Resumé. Bitte schreibe Henri Bauer, ich sei gerührt über seinen freundlichen Aufsatz; Robert Sherard kennt ihn. Es war lieb von Dir, daß Du mich besucht hast. Du mußt das nächste Mal wieder kommen. Hier umgibt mich das Graun des Todes, samt dem noch größeren, zu leben, und schweigend und elend . . . . . . . . . . . . 177

Ich denke stets mit tiefer Zuneigung an Dich.

Ich wünschte, Ernest 178 würde meinen Handkoffer, meinen Pelz, meine Kleider und die von mir verfaßten Bücher, die ich meiner lieben Mutter geschenkt habe, in Oakley Street abholen – frage Leverson, auf wessen Namen die Grabstätte meiner Mutter genommen worden ist.

Immer Dein Freund
              Oscar Wilde.

II.

Undatiert; November 1896. 179

… Auf diese rein geschäftlichen Angelegenheiten wird vielleicht More Adey die Güte haben zu erwidern. Wenn sein Brief nur von Geschälten handelt, darf ich ihn empfangen. Ich meine, er wird Deinem literarischen Bericht nicht ins Gehege kommen; was diesen anlangt, so hat mir der Direktor eben Deine freundliche Meldung vorgelesen.

Persönlich, mein lieber Robbie, hab ich wenig zu sagen, was Dich erfreun kann. Die Ablehnung meines Begnadigungsgesuches war wie ein Streich von einem bleiernen Schwerte. Ein dumpfes Schmerzgefühl betäubt mich. Ich hatte mich von Hoffnung genährt, und jetzt nährt sich die Qual in ihrem Heißhunger von mir, 180 als wäre sie an ihrer eignen Gier verschmachtet. Gütigere Elemente 181 jedoch sind in dieser schlimmen Gefängnisluft als früher: man hat es nicht an Sympathie für mich fehlen lassen, und ich fühle mich nicht mehr völlig von menschenfreundlichen Einflüssen ausgeschlossen, was mir bisher Schrecken und Ungemach verursacht hat. Und ich lese Dante 182 und mache Exzerpte und Anmerkungen aus Freude, daß ich Feder und Tinte gebrauchen darf. Es scheint, als ginge es mir in vieler Beziehung besser, und ich will auch wieder das Studium des Deutschen aufnehmen. 183 Wahrhaftig, dafür scheint das Gefängnis der geeignete Platz. Allein noch schneidet mir ein Pfahl ins Fleisch – so spitzig wie der des Apostels Paulus, 184 wenn er auch ganz andrer Art ist – den ich in diesem Briefe herausziehn muß. Seine Ursache ist die Nachricht, die Du mir auf ein Stück Papier geschrieben hast. Würde ich sie geheim halten, dann würde sie in meinem Kopf anwachsen (wie Giftiges im Dunkeln wächst) und sich andern schrecklichen Gedanken gesellen, die an mir nagen… Das Denken ist für die, die allein, stumm und in Fesseln dasitzen, kein ›geflügeltes lebendiges Wesen‹, wie Plato es sich vorstellte, sondern ein totes, das Grauenvolles ausbrütet, wie ein Morast, der dem Mond Ungetüme zeigt.

Ich meine natürlich Deine Bemerkung darüber, daß mir das Mitgefühl andrer entfremdet werde, oder daß Gefahr dazu vorhanden sei durch die tiefe Bitterkeit meiner Empfindungen; und ich glaube, mein Brief wurde andern geliehn und gezeigt… Ich wünsche aber nicht, daß man meine Briefe als Kuriositäten herumzeige; es ist mir höchst zuwider. Ich schreibe an Dich offen wie an einen der liebsten Freunde, die ich habe oder je gehabt habe; mit ein paar Ausnahmen berührt mich das Mitgefühl andrer, wenn es mir verloren geht, sehr wenig. Ein Mensch meines Ranges kann nicht in den Kot des Lebens fallen, ohne daß ihm von Leuten, die unter ihm stehn, in reichem Maße Mitleid gezollt würde; und ich weiß, daß die Zuschauer, wenn Stücke zu lange dauern, müde werden. Meine Tragödie hat viel zu lange gedauert; ihr Höhepunkt ist vorüber; ihr Ende gemein. Und ich bin mir der Tatsache wohl bewußt, daß ich, wenn das Ende wirklich kommt, als ungebetner Gast zurückkehren werde in eine Welt, die mich nicht haben will; als Revenant, wie die Franzosen sagen, als einer, dessen Gesicht durch die lange Haft grau und schmerzverzerrt geworden ist. So entsetzlich die Toten sind, wenn sie aus ihren Gräbern auferstehn: die Lebenden, die aus dem Grabe kommen, sind noch entsetzlicher. All das weiß ich nur zu gut. Ist man erst achtzehn schreckliche Monate in einer Gefängniszelle gewesen, dann sieht man Dinge und Menschen, wie sie wirklich sind. Der Anblick versteinert einen. Glaube nicht, daß ich irgendwem an meinen Lastern Schuld gebe. Meine Freunde hatten damit ebensowenig zu tun, wie ich mit ihren Lastern. Die Natur war uns allen hierin eine Stiefmutter. Ich mache ihnen daraus einen Vorwurf, daß sie den Mann, den sie zugrunde gerichtet haben, nicht zu würdigen wußten. Solange meine Tafel rot war von Wein und Rosen, was kam es ihnen darauf an? Mein Genie, mein Leben als Künstler, meine Arbeiten und die Ruhe, deren ich dazu bedurfte, galten ihnen nichts. Ich gebe zu, ich verlor den Kopf. Ich war verwirrt, hatte keine Urteilskraft mehr. Ich tat den einen verhängnisvollen Schritt. Und jetzt sitze ich hier auf einer Bank in einer Zuchthauszelle. In allen Tragödien liegt ein groteskes Element. Du kennst das Groteske in meiner Tragödie. 185 Denke nicht, daß ich mir keine Vorwürfe mache. Ich verfluche mich bei Nacht und am Tage, weil ich so töricht war, einem Etwas die Herrschaft über mein Leben einzuräumen. Gäb‘ es ein Echo in diesen Mauern, unaufhörlich würde es ›Narr!‹ rufen. Ich schäme mich meiner Freundschaften aufs äußerste… Denn nach ihren Freundschaften lassen sich die Menschen beurteilen. Es ist für jeden ein Prüfstein. Und ich empfinde stechende Erniedrigung aus Scham über meine Freundschaften …, von denen Du eine ausführliche Darstellung in meinem Prozeßbericht lesen kannst.

Täglich ist das für mich eine Quelle geistiger Demütigung. An einige von ihnen denke ich nie. Sie behelligen mich nicht, Sie sind belanglos … In der Tat, meine ganze Tragödie scheint mir grotesk – sonst nichts. Denn infolge davon, daß ich mich … in eine Falle locken ließ, sitze ich im tiefsten Schlamm von Malebolge 186 zwischen Gilles de Retz und dem Marquis de Sade. An gewissen Plätzen ist es niemand, mit Ausnahme der wirklich Verrückten, gestattet, zu lachen; und selbst in ihrem Fall verstößt es gegen das Reglement: sonst würde ich wohl darüber lachen … Im übrigen braucht keiner zu denken, daß ich andern unwürdige Beweggründe auf ihr Konto schreibe. Sie hatten wahrhaftig überhaupt keine Motive im Leben. Motive sind etwas Intellektuelles. Sie hatten lediglich Leidenschaften, und solche Leidenschaften sind falsche Götter, die um jeden Preis Opfer haben wollen und im vorliegenden Fall ein mit dem Lorbeerkranz geschmücktes fanden. Nun habe ich den Pfahl herausgerissen – die kurze, von Deiner Hand hingekritzelte Zeile eiterte fürchterlich. Jetzt denke ich nur noch daran, daß Du wieder ganz gesund wirst und endlich die wundervolle Geschichte niederschreibst von …

Bitte empfiehl mich mit dem Ausdruck meines Dankes Deiner lieben Mutter und auch Aleck. 187 Die »Vergoldete Sphinx« 188 ist wahrscheinlich noch immer prachtvoll. Und sende alles, was in meinen Gedanken und Gefühlen gut ist, und so viele Grüße und Huldigungen sie von mir annehmen will, der Dame in Wimbledon, deren Seele ein Heiligtum ist für die Verwundeten und eine Zufluchtsstätte für die Leidenden. Zeige diesen Brief andern nicht – komme auch in Deiner Antwort nicht darauf zurück. Erzähle mir von der Welt der Schatten, die ich so geliebt habe. Auch vom Leben und der Seele. Ich wüßte gar zu gern etwas von den Dingern, die mich gestochen haben; und mein Schmerz kennt noch Erbarmen.

Dein
Oscar.

III.

1. April 1897.

Mein lieber Robbie!

Ich schicke Dir getrennt hiervon ein Manuskript, das hoffentlich sicher ankommt. Sobald Du es gelesen hast und natürlich auch More Adey, den ich immer mit einbegreife, laß mir eine sorgfältige Abschrift herstellen. Aus verschiedenen Gründen wünsche ich es. Einer genügt. Ich möchte Dich für den Fall meines Todes zu meinem literarischen Testamentsvollstrecker ernennen; Du sollst vollständiges Verfügungsrecht über meine Dramen, Bücher und Aufsätze haben. Sobald ich finde, daß ich ein gesetzliches Recht habe, ein Testament zu machen, will ich es tun. Meine Frau versteht meine Kunst nicht, auch kann man von ihr nicht erwarten, daß sie sich dafür interessiere, und Cyril 189 ist noch ein Kind. Ich wende mich daher natürlich an Dich, wie ich es ja mit allem tue, und möchte Dir gern meine sämtlichen Werke schenken. Das Defizit aus dem Erlös mag Cyril und Vivian 190 gutgeschrieben werden. Bist Du also mein literarischer Testamentsvollstrecker, so mußt Du im Besitze des einzigen Dokuments sein, das über mein außergewöhnliches Verhalten Aufschluß gibt … Wenn Du den Brief gelesen hast, wirst Du die psychologische Erklärung für ein Betragen finden, das dem Außenstehenden eine Verbindung von absolutem Blödsinn und vulgärer Renommisterei scheint. Eines Tages muß die Wahrheit bekannt werden – es braucht ja nicht bei meinen Lebzeiten zu sein… Aber ich habe keine Lust, für alle Zeit an dem lächerlichen Pranger zu stehn, an den man mich gestellt hat; aus dem einfachen Grunde, weil ich von meinem Vater und meiner Mutter einen in der Literatur und der Kunst hochgeehrten Namen geerbt habe, 191 und ich kann nicht in alle Ewigkeit dulden, daß dieser Name geschändet sein soll. Ich verteidige meine Handlungsweise nicht. Ich erkläre sie. In meinem Briefe finden sich auch etliche Stellen, die von meiner geistigen Entwicklung im Zuchthaus handeln und der unausbleiblichen Wandlung meines Charakters und meiner intellektuellen Stellung zum Leben, die sich vollzogen hat. Du und andre, die noch fest zu mir stehn und mich gern haben, sollen genau erfahren, in welcher Stimmung und Haltung ich der Welt entgegenzutreten hoffe. Freilich, von einem Gesichtspunkt aus weiß ich, daß ich am Tage meiner Entlassung lediglich von einem Gefängnis ins andre gehe, und zu Zeiten scheint mir die ganze Welt nicht größer als meine Zelle und ebenso voller Schrecken für mich. Immerhin glaube ich, daß im Anfang Gott für jeden Menschen gesondert eine Welt erschaffen hat, und in dieser Welt, die in uns liegt, sollen wir zu leben suchen. Auf alle Fälle wirst Du diese Teile meines Briefs mit weniger Schmerz lesen als die andern. Ich brauche Dich sicher nicht daran zu erinnern, was für ein flüssiger Körper das Denken bei mir ist – bei uns allen –, und aus wie flüchtigem Stoffe unsre Empfindungen bestehn. Gleichwohl sehe ich ein mögliches Ziel vor Augen, dem ich durch die Kunst vielleicht nahe kommen kann. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Du mir hierbei helfen wirst.

Was nun die Art der Abschrift betrifft, so ist das Manuskript für einen Sekretär natürlich zu lang; und Deine eigne Handschrift, lieber Robbie, in Deinem letzten Brief sollte mich offenbar besonders daran mahnen, daß ich Dich nicht mit der Aufgabe betraun darf. Meiner Ansicht nach können wir nichts andres tun, als ganz modern sein und die Schreibmaschine nehmen. Selbstverständlich darfst Du das Manuskript nicht aus der Hand geben, aber könntest Du nicht Mrs. Marshall 192 veranlassen, eine von ihren jungen Damen – Frauen sind am verläßlichsten, weil sie kein Gedächtnis für das Wichtige haben – nach Hornton Street oder Phillimore Gardens 193 kommen zu lassen, damit sie es unter Deiner Aufsicht mache? Die Schreibmaschine ist, wenn sie mit Ausdruck gespielt wird, auf mein Wort nicht unangenehmer, als wenn eine Schwester oder eine nahe Anverwandte Klavier spielt. Ja, viele, die für ein inniges Familienleben schwärmen, ziehn sie sogar vor. Die Kopie soll nicht auf Seidenpapier angefertigt werden, sondern auf gutem Papier, wie man es für Theaterstücke verwendet, mit einem breiten, rot abgeteilten Rand für Verbesserungen … Wenn eine Abschrift hergestellt und nach dem Manuskript durchgeprüft ist, soll das Original an … abgeschickt und dann eine zweite Kopie von der Maschinistin angefertigt werden, 194 damit Du ein Exemplar erhältst, ebenso wie ich. Zwei Abschriften sollen ferner von Seite 4 des neunten Bogens bis zur letzten Seite des vierzehnten Bogens gemacht werden: von »und das Ende von alledem« bis »aber nicht zwischen der Kunst und mir« (ich zitiere aus dem Gedächtnis); desgleichen von Seite 3 des achtzehnten Bogens von »ich werde, wenn alles gut geht, frei kommen« bis »zu bittern Kräutern …« auf Seite 4. Schweiße das mit andern Stellen zusammen, die Du nach Belieben auswählen kannst, sofern es gut und die Absicht edel ist, wie z. B. der ersten Seite des fünfzehnten Bogens, und schicke das eine Exemplar der Dame in Wimbledon, von der ich gesprochen habe, ohne ihren Namen zu erwähnen, das andre an Miss Frances Forbes-Robertson. 195 Ich weiß, diese beiden liebreizenden Damen werden mit Interesse hören, wie es meiner Seele geht – nicht im theologischen Sinne, sondern einzig und allein im Sinne jenes geistigen Bewußtseins, das von den wirklichen Beschäftigungen des Leibes getrennt ist. Es ist eine Art Botschaft oder Brief, was sie von mir erhalten – das einzige, was ich ihnen zu schicken wage. Wenn es Miss Forbes-Robertson ihrem Bruder zeigen will, den ich immer gern hatte, so mag sie es tun; aber vor der Welt soll es natürlich strenges Geheimnis bleiben. Das gebe man auch der Dame in Wimbledon zu verstehn.

Wird die Abschrift in Hornton Street hergestellt, so läßt man die Schreibdame vielleicht durch einen Schieber in der Tür füttern, wie die Kardinäle, wenn sie zur Papstwahl schreiten, bis sie auf den Balkon hinaustritt und der Welt verkünden kann: »Habet Mundus Epistolam«; denn tatsächlich ist es eine Enzyklika, und wie die Bullen des Heiligen Vaters nach den einleitenden Worten heißen, mag man von ihr als der »Epistola: in Carcere et Vinculis« sprechen … braucht nicht zu erfahren, daß eine Kopie angefertigt worden ist.

Wahrhaftig, Robbie, das Leben im Gefängnis läßt einen Dinge und Menschen sehn, wie sie wirklich sind. Deshalb verwandelt es einen in Stein. Die Menschen draußen in der Welt, die lassen sich von den Trugbildern eines Lebens täuschen, das ständig in Bewegung ist. Sie drehn sich mit dem Leben um und tragen zu seiner Unwirklichkeit bei. Wir, die wir regungslos sind, sehn und wissen. Ob der Brief engherzigen Naturen und hektischen Hirnen zuträglich sein wird oder nicht: bei mir hat er Gutes gewirkt. Ich habe »die volle Brust des argen Stoffs entladen«, um bei dem Dichter eine Anleihe zu machen, den Du und ich einmal den Philistern zu entreißen gedachten. 196 Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß Darstellen für den Künstler die höchste und einzige Lebensform ist. Wir leben, indem wir uns offenbaren. Für viel, für sehr viel habe ich dem Direktor zu danken, doch für nichts mehr als dafür, daß er mir erlaubt hat, so ausführlich zu schreiben, wie ich nur wünsche.

Nahezu zwei Jahre habe ich die immer schwerer werdende Bürde der Verbitterung in mir getragen; viel davon habe ich jetzt abgeschüttelt. Auf der andern Seite der Gefängnismauer stehn einige armselige, schwarze, rußbeschmierte Bäume, die gerade jetzt Knospen treiben von einem fast schrillen Grün. Ich weiß recht wohl, was sich bei ihnen vollzieht: sie bringen sich zum Ausdruck.

Stets Dein
            Oscar.

IV.

6. April 1897.

… Überlege Dir jetzt, lieber Robbie, meinen Vorschlag. Meine Frau, die in Geldsachen sehr vornehm und hochherzig ist, wird wohl die für meinen Teil gezahlten 75 Pfund zurückerstatten. Daran zweifle ich nicht. Aber ich meine, das Anerbieten müßte von mir ausgehn, und ich sollte von ihr nichts als Einkommen annehmen; ich kann annehmen, was man mir aus Liebe und herzlicher Zuneigung gibt, aber nicht, was man widerwillig oder unter Bedingungen herausrückt. Sonst gäbe ich lieber meine Frau ganz frei. 197 Dann mag sie sich wieder verheiraten. Auf alle Fälle glaube ich, daß sie mir, wäre sie frei, gestatten würde, meine Kinder von Zeit zu Zeit zu sehn. Das will ich ja gerade. Doch erst muß ich sie freigeben, und es wäre besser, ich täte es, wie es einem Ehrenmann ansteht, indem ich den Kopf senke und mich allem füge. Du mußt die ganze Sache reiflich überlegen, da sie Dir und Deiner unbesonnenen Handlungsweise zuzuschreiben ist. Teile mir dann mit, was Du und andre davon denken. Selbstverständlich hast Du nur das Beste gewollt; aber Deine Auffassung war falsch. Ich darf offen und ehrlich sagen: allmählich gelange ich in einen geistigen Zustand, daß ich glaube, alles, was geschieht, ist zu unserm Besten. Vielleicht ist das Philosophie oder ein gebrochnes Herz oder Religion oder die stumpfe Gleichgültigkeit der Verzweiflung. Einerlei, welchen Ursprung das Gefühl hat: es ist stark in mir. Meine Frau gegen ihren Willen an mich fesseln wäre verkehrt. Sie hat ein volles Recht auf ihre Freiheit. Und es wäre mir eine Freude, wenn ich nicht von ihr unterstützt würde. Es ist eine schimpfliche Lage, von ihr unterhalten zu werden. Besprich das mit More Adey. Laß Dir von ihm den Brief zeigen, den ich ihm geschrieben habe. Bitte auch Deinen Bruder Aleck, mir seinen Rat zu erteilen. Er hat glänzenden Geschäftsverstand.

Nun zu andern Dingen.

Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, Dir für die Bücher zu danken. Sie waren mir sehr willkommen. Daß mir die Zeitschriften verboten wurden, war ein schwerer Schlag; aber der Roman von Meredith 198 hat mich entzückt. Was für ein gesundes Künstlernaturell! Er hat durchaus recht, wenn er das Gesunde als die Hauptsache im Roman verficht. Immerhin, bis jetzt hat nur das Abnorme im Leben und in der Literatur Ausdruck gefunden. Rossettis 199 Briefe sind schrecklich; offenbar Fälschungen seines Bruders. Trotzdem habe ich mit Interesse daraus ersehn, daß meines Großonkels 200 »Melmoth« und meiner Mutter »Sidonia« 201 unter den Büchern gewesen sind, die ihn in der Jugend bezaubert haben. 202 Was die Verschwörung gegen ihn in spätem Jahren betrifft, so glaube ich, daß sie wirklich bestanden hat und daß die Mittel dazu aus Hakes Bank kamen. 203 Das Verhalten einer Drossel in Cheyne Walk 204 scheint höchst verdächtig, wenn William Rossetti auch sagt: »Ich konnte in dem Singen der Drossel gar nichts Ungewöhnliches entdecken«. Stevensons Briefe 205 sind ebenfalls eine herbe Enttäuschung – ich sehe, daß für einen Romanschriftsteller ein romantisches Milieu das denkbar schlechteste ist. In Gower Street 206 hätte Stevenson ein neues Buch à la »Drei Musketiere« schreiben können. Auf Samoa schrieb er Briefe über die Deutschen an die Times. Ich sehe auch Spuren davon, welchen furchtbaren Kampf es kostet, ein natürliches Leben zu führen. Wer zu eignem Vorteil oder zum Nutzen andrer Holz hackt, sollte nicht imstande sein, den Vorgang zu beschreiben. Tatsächlich ist das natürliche Leben ein unbewußtes. Stevenson erweiterte lediglich den Bezirk des Künstlichen, indem er sich aufs Graben verlegte. Ich habe etwas aus dem unerquicklichen Buche gelernt: wenn ich mein künftiges Leben damit verbringe, Baudelaire in einem Cafe zu lesen, so werde ich ein natürlicheres Leben führen, als wenn ich die Arbeit eines Heckenausbesserers verrichte oder in schlammigem Moor Kakao pflanze. »En Route« wird sehr überschätzt. 207 Es ist bloßer Journalismus. Man hört nie eine Note von der Musik, die im Buch beschrieben wird. Das Thema ist entzückend, aber der Stil ganz gewiß wertlos, ausgetreten, schlaff. Es ist noch schlechteres Französisch als bei Ohnet. 208 Ohnet versucht, abgedroschen zu sein, und es gelingt ihm; Huysmans versucht, es nicht zu sein, und ist es. Hardys Roman 209 ist erfreulich, der Stil vollendet; und der von Harold Frederic 210 stofflich sehr interessant. Später gedenke ich, da in der Gefängnisbibliothek so gut wie keine Romane für meine armen Mitgefangnen sind, der Bibliothek etwa ein Dutzend guter Romane zum Geschenk zu machen: Stevenson (nichts vorhanden außer »The Black Arrow«), 211 einige von Thackeray (nichts vorhanden), von Jane Austen 212 (nichts vorhanden) und ein paar gute Bücher vom Schlage des älteren Dumas, von Stanley Weyman 213 z. B. und modernen jungen Leuten. Du sprachst von einem Protegé Henleys? 214 215 Auch von einem Anthony Hope-Jünger. 216 Nach Ostern könntest Du eine Liste von etwa vierzehn aufstellen und darum nachsuchen, daß ich sie bekomme. Den wenigen, die sich aus Goncourts Tagebuch 217 nichts machen, würden sie gefallen. Vergiß nicht, daß ich selbst dafür zahlen möchte. Ich habe ein Grauen davor, in die Welt hinauszutreten, ohne ein einziges Buch mein eigen zu nennen. Ob mir wohl einige meiner Freunde, wie Cosmo Lennox, 218 Reggie Turner, 219 Gilbert Burgess, 220 Max; 221 und andre, ein paar Bücher schenken würden? Du weißt, welche Art Bücher ich haben möchte: Flaubert, Stevenson, Baudelaire, Maeterlinck, Dumas père, Keats, Marlowe, Chatterton, Coleridge, Anatole France, Gautier, Dante und die ganze Literatur über Dante, Goethe und Goethe-Literatur usw. Ich würde es als eine große Artigkeit betrachten, wenn Bücher für mich bereit wären – und vielleicht habe ich noch Freunde, die mir gern gefällig sein möchten. Man ist wahrhaftig sehr dankbar, wenn es auch leider oft den Anschein hat, als wäre ich’s nicht. Aber Du mußt mir zugute halten, daß ich außer dem Leben im Gefängnis noch beständig Scherereien gehabt habe.

Als Antwort hierauf kannst Du mir einen langen Brief senden nur über Theaterstücke und Bücher. Deine Schrift im letzten Brief war so gräßlich, daß es den Eindruck machte, als schriebest Du einen dreibändigen Roman über die beängstigende Verbreitung kommunistischer Ideen unter den Reichen oder richtetest auf irgendeine andre Art Deine Jugend zugrunde, die immer verheißungsvoll gewesen ist und es stets bleiben wird. Tu‘ ich Dir damit unrecht, daß ich einen solchen Grund anführe, so mußt Du es der krankhaften Reizbarkeit zuschreiben, die eine Folge der langen Kerkerhaft ist. Aber schreibe bitte deutlich. Sonst sieht es aus, als ob Du etwas zu verheimlichen hättest.

In diesem Brief steht wohl manches Abscheuliche, Aber ich mußte Dich vor Dir selbst tadeln, nicht vor andern. Gib meinen Brief More zu lesen. Harris 222 wird mich hoffentlich Sonnabend besuchen. Grüße mir Arthur Clifton und Frau – ich finde, sie hat so viel Ähnlichkeit mit Rossettis Frau: das gleiche herrliche Haar, aber natürlich ein süßeres Wesen, obwohl Miß Siddal 223 bezaubernd ist und ihr Gedicht Ia.

Stets Dein
Oscar.

  1. Stuart Merrill, amerikanischer Journalist, der damals schon in Paris lebte, jetzt völlig zur französischen Literatur zählend. Seine Gedichtsammlungen – »Les Quatre Saisons«, »Poèmes« u. a. – bezeugen seine Zugehörigkeit zur Gruppe der Parnassiens.
  2. Robert Sherard, s. Anm., S. 176.
  3. Lugné-Poë (eigentlich: Aurélien-Marie Lugné, geb. 1869), Begründer der Theatergesellschaft »L’Oeuvre«, führte als erster im Jahre 1896 »Salome« am Théâtre Libre auf; er selbst spielte den Herodes, Lina Muntz die Titelrolle. Wilde hat André Gide (L’Ermitage, p. 424) erzählt, wie ihm diese Aufführung zustatten gekommen ist.
  4. More Adey, s. Anm., S. 176.
  5. Die Dame in Wimbledon ist Miss Adela Schuster; s. Anm., S. 162.
  6. Das Stück von Henry Arthur Jones (geb. 1851), auf das hier angespielt wird, ist »Michael and his Lost Angel«, dessen erste Aufführung im Lyceum am 15. Januar 1896 stattfand.
  7. Johnston Forbes-Robertson (geb. 1853), hervorragender englischer Schauspieler, bis dahin bei Bancroft und John Hare engagiert, wurde im Jahre 1896 Theaterdirektor. Da Wilde mit ihm befreundet war (vgl. S. 141), interessierte er sich natürlich ganz besonders für seinen Erfolg als Manager.
  8. Jules Lemaître, Henri Bauer, Francisque Sarcey: einflußreiche Pariser Theaterkritiker. Ross hatte Wilde in seinem letzten Briefe mitgeteilt, er habe gehört, daß sich Henri Bauer freundlich über »Salome« geäußert hätte, ohne indes seine Rezension schon gelesen zu haben.
  9. »Schweigend und elend« . . . danach größere Lücke. Wilde hatte vermutlich von Grausamkeiten und schlechter Behandlung im Gefängnis berichtet, was den Direktor, Major Isacson, veranlaßte, diesen Teil des Briefes einfach wegzuschneiden. Auch sonst hatten die Gefangnen sehr unter diesem Streber zu leiden.
  10. Ernest Leverson, der Mann Ada Leversons, s. S. 183.
  11. Die Datierung der Briefe lag früher im Argen (vgl. Widmungsepistel, p. IX). Ross setzt diesen Brief jetzt »später als September 1896« an, ohne sich an Wildes eigne Angabe (S. 132) zu halten, daß er schon »achtzehn schreckliche Monate« in einer Gefängniszelle gewesen, und begründet es damit, sein Freund habe zeitlebens nicht rechnen können. Ich glaube, wir dürfen ihm hier getrost folgen: da Wilde am 25. Mai 1895 verurteilt wurde, ist dieser Brief im November 1896 geschrieben. Jedenfalls sprechen die Zeitangaben der »Epistola: in Carcere et Vinculis« nicht dagegen.
  12. Anspielung auf Hamlets Worte im Monolog I, 2:

    »Why, she would hang on him
    As if increase of appetite had grown
    By what it fed on«.

  13. Die ›gütigeren Elemente‹, die in Reading Einzug gehalten, sind Major Nelson zu danken (s. Anm. S. 172).
  14. Über seine Lektüre Dantes hat Wilde André Gide erzählt (L’Ermitage, p. 425): »Et tout d’un coup j’ai pense à Dante … oh! Dante! … J’ai lu le Dante tous les jours; en italien; je l’ai lu tout entier; mais ni le Purgatoire, ni le Paradis ne me semblaient écrits pour moi. C’est son Inferno surtout que j’ai lu; comment ne l’aurais-je pas aimé? Comprenezvous? L’Enfer, nous y étions. L’Enfer, c’était la prison …« (vgl. S. 149).
  15. Über Wildes deutsche Sprachstudien erzählt Sherard (Life, p. 31): »Während der Eisenbahnfahrten, die er auf seiner Vortragstournee im Winter 1883/84 in England unternahm, hatte er ein kleines Taschenwörterbuch und einen Band Heine bei sich, in jeder Tasche seines Pelzrockes ein Buch, und brachte sich das Deutsche so gründlich bei, daß ihm späterhin die ganze deutsche Literatur zugänglich war«. An seinem letzten Sonntag im Gefängnis hat Wilde übrigens Goethes »Faust« gelesen.
  16. Anspielung auf 2. Kor. 12, 7.
  17. Über das Groteske in der Tragödie, s, S. 100.
  18. »Malebolge«, ein Ort des Grauens in Dantes Inferno (XVIII, 1): »Luogo è in Inferno, detto Malebolge«.
  19. Aleck Ross (geb. 1860), Robert Ross‘ älterer Bruder, früher Mitarbeiter der »Saturday Review«.
  20. Die »Vergoldete Sphinx« ist ein Scherzname für Mrs. Ada Leverson, die Wildes Gedicht »The Sphinx« im »Punch« (vom 21. Juli 1894) sarkastisch glossiert hat: »The Minx. A Poem in Prose«. Seitdem nannte er sie, auf ihr »golden hair« anspielend, »The Gilded Sphinx«. Sie nahm den Dichter in ihrem Hause auf, als er gegen Bürgschaft aus der Haft entlassen wurde. Neuerdings ist sie mit zwei Romanen hervorgetreten: »The Twelfth Hour« und »Love’s Shadow«.
  21. Cyril (s. Anm., S. 157) war damals zwölf Jahre alt.
  22. Wenn Wilde hier scherzend seinen Kindern »das Defizit aus dem Erlös« seiner Bücher vermacht, so zeigt er damit, ein wie schlechter Rechenmeister er war; damals konnte er freilich nicht ahnen, daß seine Werke einmal eine reiche Einnahmequelle für seine Kinder (und viele andre) werden würden.
  23. Was Wilde seinen Eltern verdankt, hat er S. 4 näher ausgeführt.
  24. Mrs. Marshall ist die Leiterin eines bekannten Schreibmaschinenbureaus am Strand in London.
  25. Robert Ross wohnte damals 24 Hornton Street in Kensington, seine Mutter: 11 Phillimore Gardens.
  26. Das Original des Briefes sollte wohl für den Adressaten bestimmt sein.
  27. Miss Frances Forbes-Robertson, die Schwester des Schauspielers (s. Anm., S. 180).
  28. » … den Du und ich einmal den Philistern zu entreißen gedachten« bezieht sich auf die von Ross scherzhaft angeregte Gründung einer »Anti-Shakespearian Society«, die der übertriebenen Wertschätzung des ›Barden‹ entgegentreten sollte. Lord Alfred Douglas schleuderte wutentbrannt gegen die Bilderstürmer ein geharnischtes Sonett »To Shakespeare« (The City of the Soul, p. 61).
  29. Zu einer Scheidung ist es nicht gekommen, aber auch nicht zu einer Wiedervereinigung. Constance Wilde, schon damals kränklich, lebte bis zu ihrem baldigen Ende in Genua. Es ist merkwürdig, wie schnell die nächsten Angehörigen Oscar Wildes nach der Katastrophe hinweggestorben sind: seine Mutter im Februar 1896, seine Frau im April 1898, sein einziger Bruder William im März 1899.
  30. Gemeint ist »The Amazing Marriage« (1895) von George Meredith (geb. 1828). Seiner Bewunderung für den »Prosa-Browning« hat Wilde in den Intentions (p. 16) Ausdruck gegeben.
  31. Dante Gabriel Rossetti: His Family Letters. With a Memoir by William Michael Rossetti. 2 vols. London, 1895. (Ellis & Elvey).
  32. Charles Robert Maturin (1782-1814), Lady Wildes Großonkel – also eigentlich Oscar Wildes Urgroßonkel –, Pfarrer an der St. Peterskirche in Dublin, ein letzter Vertreter der Schauerromantik, die sich an den Namen des Monk-Lewis heftet (»Familie Montorio«). Sein von Walter Scott warm empfohlenes Drama »Bertram« wurde auf Lord Byrons Veranlassung hin 1816 in Drury Lane aufgeführt. Sein bedeutendstes Werk ist der genialische Roman »Melmoth the Wanderer«, der von Balzac, Thackeray, Baudelaire überschwenglich gelobt wurde. »Célèbre voyageur Melmoth, la grande création satanique du révérend Maturin. Quoi de plus grand, quoi de plus puissant relativement à la pauvre humanité que ce pâle et ennuyé Melmoth?« urteilte der entzückte Baudelaire. Nach dem unstäten Helden des Romans hat sich Oscar Wilde für die kurze Spanne seines Lebens, die ihm nach Reading noch verblieb, Sebastian Melmoth genannt – Sebastian in Erinnerung an das Bild des Heiligen von Guido Reni, das er in Genua gesehn hatte (vgl. Miscellanies, p.3).
  33. »Sidonia« ist der Roman »Sidonia von Bork, die Klosterhexe« (1847) des in England sehr hoch geschätzten Wilhelm Meinhold (1797-18 51), den Lady Wilde im Jahre 1849 übersetzt hat. »Die Bernsteinhexe war neben Lady Wildes Übersetzung von »Sidonia, die Klosterhexe« meine romantische Lieblingslektüre in der Knabenzeit«, erzählt Wilde (Reviews, p. 388).
  34. Über »Melmoth« und »Sidonia« schreibt William Rossetti (I, p. 101): »Earlier than most of these – beginning, I suppose, in 1844 – was the Irish romancist Maturin, who held Dante Rossetti spellbound with the gloomy and thrilling horrors of Melmoth the Wanderer. He and I used often to sit far into the night reading the pages one over the other’s Shoulder«. – – Und ebenda: »He had a positive passion for Meinhold’s wondrous Sidonia the Sorceress (translated), which he much preferred to the Amber Witch of the same phenomenal author«.
  35. In seinem geistig gestörten Zustand hielt sich Rossetti für das Opfer einer Verschwörung. Sein Bruder William berichtet darüber (I, p. 307): »On 2 June 1872 I was with my brother all day at No. 16 Cheyne Walk. It was one of the most miserable days of my life, not to speak of his. From his wild way of talking – about conspiracies and what not – I was astounded to perceive that he was, past question, not entirely sane«. Die angebliche Verschwörung benutzt Wilde dazu, über Egmont Hake einen Witz zu machen. Dieser, ein Sohn des mit Rossetti befreundeten Dr. Thomas Gordon Hake, war der Verfasser eines Buches »Free Trade in Capital« und schrieb Pamphlete über ein Banksystem seiner Erfindung, die Wilde höchlichst amüsierten. »Hakes Bank« ist natürlich nur Chimäre.
  36. Cheyne Walk in Chelsea wohnte Rossetti. Auch die Drossel gehörte zu den Halluzinationen des unglücklichen Dichters.
  37. Die Briefe Robert Louis Stevensons (1850-1894) sind die sog. »Vailima Letters being Correspondence addressed by R. L. St. to Sidney Colvin Nov. 1890 – Oct. 1894« (London 1895, Methuen & Co.).
  38. In Gower Street soll heißen: wäre Stevenson in London geblieben, so hätte er in der Art des Alexandre Dumas weiter Erfolge erringen können. Aber er mußte seines Lungenleidens wegen England verlassen und ging nach Samoa, dessen deutsche Beamten er heftig angriff in Briefen an die Times (»Samoa« in den Times vom 17. Nov. 1891; »The Latest Difficulty in Samoa«, Times vom 4. Juni 1892; »Deadlock in Samoa«, Times vom 23. April 1894 usw.). Er versuchte dort ein natürliches Leben zu führen und berichtet etwa (p. 72 der Vailima Letters): »Days and days of unprofitable stubbing and digging, and the result still poor as literature«. Auf solche und ähnliche Stellen beziehn sich Wildes Auslassungen.
  39. »En Route« (1895) von Joris Karl Huysmans (1848-1907). Daß Wilde, trotzdem er sich hier so schroff absprechend äußert, im Grunde ein Bewunderer des Dichters von »A Rebours« war, lehrt »Das Bildnis Dorian Grays«, dessen berühmtes elftes Kapitel durch den Herzog Des Esseintes inspiriert ist. Das Thema von »En Route« ist die Flucht einer sündigen Seele hinter Klostermauern.
  40. Georges Ohnet (geb. 1848), Verfasser einer langen Reihe von Unterhaltungsromanen, deren populärster »Le Maître de Forges«. Kaum ein zweiter Schriftsteller ist so oft vernichtet worden und sitzt nach wie vor so fest in der Gunst des Publikums.
  41. Thomas Hardy (geb. 1840), neben George Meredith der angesehenste englische Romanschriftsteller der Gegenwart, hatte 1895 den kraß realistischen Roman »Jude the Obscure« veröffentlicht (»Juda, der Unberühmte«, deutsch von A. Berger, Stuttgart und Leipzig 1901). Falls Wilde dieses Buch meint, frappiert das Beiwort ›erfreulich‹, wenn es sich nicht durchaus auf den Stil beschränkt.
  42. Gemeint ist »Illumination« (1896) von Harold Frederic (1856-1898), einem in Amerika geborenen Journalisten und Romanschriftsteller, der 1884 nach England übersiedelte und auch ein Buch über Kaiser Wilhelm II. verfaßt hat.
  43. »The Black Arrow« von Robert Louis Stevenson (s. o.), eine Erzählung aus den Kriegen der weißen und roten Rose, ist 1888 erschienen.
  44. Jane Austen (1775-1817), eine der Standard-Autorinnen des englischen home; ihre wichtigsten Romane: »Sense and Sensibility« (1811) und »Pride and Prejudice« (1816).
  45. Stanley John Weyman (geb. 1855), besserer Unterhaltungsschriftsteller, von Dumas stark beeinflußt. Spannende Handlung mit historischem Hintergrund: das erschöpft seine meisten Romane (»A Gentleman of France« 1893, »Under the Red Robe« 1894 u. v. a.)
  46. William Ernest Henley (1849 – 1903), als Lyriker mit patriotischem Einschlag wie als Kritiker ausgezeichnet, vielleicht am bedeutendsten als Entdecker junger Talente, die er in dem von ihm geleiteten »National Observer« zu Worte kommen ließ; auch als Literarhistoriker verdient (gab mit Henderson den sog. Centenary Burns heraus). Seit dem Juli 1907 steht seine von Rodin geschaffene Bronzebüste in der Londoner St. Paulskirche. (Vgl. Reviews, p. 347 ff.)
  47. Ross hatte H. G. Wells (geb. 1866), dessen erste Bücher 1895 erschienen sind und der seitdem einen Platz in der vordersten Reihe der englischen Belletristik erobert hat, als einen Protégé Henleys bezeichnet.
  48. Anthony Hope (eigentlich Hawkins, geb. 1863), amüsanter Belletrist, voll Witz und Anmut, aber ohne tiefere Bedeutung. Seine romantischen Anfänge (»The Prisoner of Zenda« usw.) gewannen ihm sogleich die Gunst der englischen Lesewelt. Zum Charakterroman hat er sich in »Quisante« (1900) erhoben. Mit dem Anthony Hope-Jünger ist Henry Seton Merriman (eigentlich Hugh Scott, 1863-1903) gemeint. Jedes Land, jede Zeit war ihm vertraut. Seinen größten Erfolg hatte er mit »The Sowers« (1896), einem Lieblingsroman der Königin Victoria.
  49. »Le Journal des Goncourts«, im ganzen neun Bände, ist in den Jahren 1887-96 herausgekommen; der letzte Band, der zwei oder drei Stellen über Wilde enthält, war ihm nach Reading geschickt worden.
  50. Cosmo Gordon Lennox, Übersetzer und Bearbeiter französischer Stücke, Verfasser der Burleske »The Marriage of Kitty«; dramatisierte Thackerays »Vanity Fair« für seine Gattin, die Schauspielerin Marie Tempest.
  51. Reginald Turner (geb. 1870), Romanschriftsteller: »The Steeple«, »The Comedy of Progress«, »Peace on Earth« u. a.
  52. Gilbert Burgess (geb. 1868), Journalist und Opernlibrettist, das Urbild des Gilbert der »Intentions« (vgl. »Decorative Art in America«, p. 163).
  53. Max, d. i. Max Beerbohm (geb. 1872), Stiefbruder des Schauspielers Herbert Beerbohm Tree, vorzüglicher Theaterkritiker der »Saturday Review« und glänzender Karikaturist: »The Poets‘ Corner«, »Caricatures of 25 Gentlemen« usw.
  54. Frank Harris, s. Anm., S. 176.
  55. Elizabeth Eleanor Siddal, im Kreise der Präraphaeliten als Lizzie bekannt, Rossettis Modell und spätere Frau. Das Gedicht, auf das Wilde hier anspielt, heißt »A Year and a Day« (Family Letters I,176). Gleich die Anfangszeilen:

    »Slow days have passed that make a year,
    Slow hours that make a day«

    mögen dem Gefangnen starken Eindruck gemacht haben; und auch die Schlußstrophe entspricht seiner Stimmung.