Die Morgenpostkutschen

Wir haben oft darüber nachgesonnen, wie viele Monate unaufhörlichen Reisens in einer Postchaise wohl dazu gehören möchten, jemand vom Leben zum Tode zu bringen; und ebenso möchten wir wohl wissen, wie viele Monate beständigen Reisens nur in Morgenpostkutschen ein unglücklicher Sterblicher wohl aushalten könnte. Lebendig gerädert zu werden ist nichts dagegen, auf vier Rädern nicht nur seine Glieder, sondern auch seine Ruhe und seinen Frieden rädern zu lassen, wogegen wiederum die Strafe des Ixion (beiläufig das einzige praktische Individuum, das das Geheimnis der unterbrochenen Bewegung entdeckt hat) zu vollkommener Bedeutungslosigkeit schwindet. Wären wir ein mächtiger Kirchenfürst in jenen guten alten Zeiten gewesen, wo man für die geheiligte Sache der Religion Blut wie Wasser vergoß und Menschen wie Gras mähte, so würden wir uns ganz ruhig verhalten haben, bis wir einen besonders hartnäckigen Ketzer in die Hände bekommen hätten: und dann hätten wir ihm einen Innenplatz in einer engen, Tag und Nacht forteilenden Postkutsche gegeben, die übrigen Plätze an starke, ein wenig zum Räuspern und Husten neigende Männer verteilt, ihn auf seine letzte Reise ausgesendet, ihn ohne Erbarmen allen Qualen überliefert, die ihm anzutun den Kellnern, Wirten, Kutschern, Schirrmeistern, Hausknechten, Hausmägden und sonstigen Zugehörigen zur Heerstraße beliebt haben dürfte.

Wer kennt nicht die unvermeidlich folgenden Leiden, wenn man plötzlich frühmorgens eine eilige Reise antreten muß? Sobald die Notwendigkeit eintritt, wirst du samt deinem ganzen Hause in die entsetzlichste Unruhe versetzt; du schickst augenblicklich nach der Wäscherin, deine sämtlichen Hausgenossen haben alle Hände voll zu tun, und du selbst eilst mit einem Gefühle der Wichtigkeit, das du nicht gänzlich verbergen kannst, nach dem Postbüro, um einen Platz zu bestellen. Hier ergreift dich zuerst ein schmerzliches Bewußtsein deines Mangels an Bedeutung – die Offizianten sind so kaltblütig und gesammelt, als ob kein Mensch die Stadt zu verlassen gedächte oder als wenn eine Reise von hundert Meilen oder mehr ganz und gar nichts wäre. Du trittst ein in ein dumpfiges, mit mannigfachen Anschlägen verziertes Zimmer, vor dessen größere Abteilung eine plump gearbeitete Barriere läuft, während die andere in einzelne Verschlage abgeteilt ist, die den Käfigen der kleineren Tiere in einer Raubtierschau, aber ohne die Eisenstangen, gleichen. Ein halbes Dutzend Leute sortieren Poststücke, die von einem der Angestellten mit einer Sorglosigkeit in die erwähnten Verschläge geworfen werden, die dir, indem du an den neuen, soeben erst gekauften Reisesack denkst, durch die Seele geht; Lastträger, die wie ebenso viele Atlasse aussehen, gehen und kommen mit schweren Packen auf den Schultern, und während du wartest, um die notwendigen Fragen zu stellen, sinnst du darüber nach, was in aller Welt Postschreiber gewesen sein können, bevor sie Postschreiber wurden. Einer von ihnen steht, mit der Feder hinter dem Ohr und den Händen auf dem Rücken gleich einem Bilde Napoleons in Lebensgröße vor dem Kamine; ein zweiter, mit dem zum Herunterfallen schiefsitzenden Hut auf dem Kopfe trägt die Namen der Passagiere mit einer unsäglich ärgerlichen Kaltblütigkeit in ein großes Buch ein und pfeift dabei – der Spitzbube! – pfeift, während die Frage an ihn gerichtet wird, wieviel ein Außenplatz bis nach Holyhead koste – obendrein beim abscheulichsten Wetter! Sie sind offenbar eine ganz besondere Rasse, die keine der dem ganzen übrigen Menschengeschlechte gemeinsamen Sympathien und Gefühle besitzt. Du kommst endlich an die Reihe, hast deinen Platz bezahlt und fragst bebend: »Um welche Zeit muß ich morgen früh hier sein?« – »Um sechs Uhr«, antwortet der Pfeifer, deinen Sovereign gleichgültig in den auf dem Schreibtische stehenden hölzernen Napf werfend. »Lieber ’n bissel früher als später«, fügt der Mann mit den halbversengten Unaussprechlichen so ruhig und vergnügt hinzu, als wenn die ganze Welt um fünf Uhr das Bett verließe. Du gehst und trägst dich auf dem Heimweg mit dem Gedanken, in welchem Maße die Menschen durch Gewohnheiten in der Grausamkeit verhärtet werden können.

Wenn es in natura rerum ein Ungemach gibt, das noch schauderhafter ist als das andere, so ist es ganz ohne Frage die Notwendigkeit, bei Licht aufstehen zu müssen. Hast du Zweifel daran gehegt, so wirst du des Irrtums am Morgen deiner Abreise schmerzlich innewerden. Du erteiltest vor Schlafengehen strengen Befehl, daß man dich um halb fünf Uhr wecken solle, hast in der ganzen Nacht nicht länger als fünf Minuten ununterbrochenen Schlafs genossen, und jeder Glockenschlag hat dich aus bösen Träumen aufgeweckt. Endlich, wenn du vollkommen erschöpft bist, stellt sieh allmählich ein erquickender Schlummer ein – deine Gedanken werden verwirrt – die Postkutschen, die in der ganzen Nacht fortwährend vor deinen Augen abgingen, werden immer undeutlicher und verschwinden zuletzt gänzlich: im einen Augenblick fährst du selbst gleich dem geschicktesten Kutscher – im anderen gibst du Reiterkunststücke a la Ducrow auf dem linken Vorderpferde zum besten – wieder in einem anderen sitzt du behaglich eingehüllt in der Kutsche und hast soeben in dem Kondukteur einen alten Schulkameraden erkannt, dessen Begräbnis du, wie du dich selbst im Traum erinnerst, vor achtzehn Jahren beigewohnt hast. Sodann tritt der Zustand gänzlicher Vergessenheit bei dir ein, aus dem du sonderbarerweise in eine neue wunderliche Illusion fällst. Du bist Lehrling bei einem Koffermacher – gleichviel wie es zugeht – und eifrig mit dem Verkleben eines Koffers beschäftigt. O dieser verwünschte Gehilfe in der anderen Abteilung der Werkstatt! Wie er hämmert! Er ist auch gar zu fleißig und emsig! Du hast ihn schon seit einer halben Stunde gehört, und er hat während der ganzen Zeit unaufhörlich den Hammer geführt. Und nun ruft er gar! Was sagt er? Fünf Uhr! Du machst eine Gewaltanstrengung und raffst dich im Bette empor, als wenn du die Zeltszene im Richard III. probiertest. Die Täuschung hat augenblicklich ein Ende; der Koffermacherladen ist dein eigenes Schlafzimmer, und der Gehilfe dein fröstelnder Diener, der sich eine Viertelstunde lang auf die offenbare Gefahr, dir die Tür oder sich selbst die Knöchel einzuschlagen, vergeblich bemüht hat, dich aufzuwecken. Du kleidest dich in möglichster Eile an. Das flackernde Licht mit dem langen, verkohlten Dochte verbreitet gerade so viel Helligkeit, um dich erkennen zu lassen, daß alles, was du eben brauchst, nicht da zu finden ist, wo es sein sollte, und du erfährst einigen Aufenthalt, indem du inne wirst, daß du im Wirrwarr des gestrigen Abends einen deiner Stiefel sorgfältig mit eingepackt hast. Du kommst indes mit deiner Toilette noch bald genug zustande, denn du bist bei einer solchen Gelegenheit nicht umständlich und hast dich im voraus rasiert; wirfst dich in deinen Reiserock, knüpfst den grünen Reiseschal um, nimmst deinen Reisesack in die Hand, schleichst leise hinunter, um keine Störung zu verursachen, trittst auf einen Augenblick in das Familienzimmer (das äußerst komfortabel aussieht, in dem nichts an der rechten Stelle steht oder liegt und noch vielfache Spuren des Abendessens zu erblicken sind), trinkst hastig eine Tasse Kaffee, riegelst die Haustür auf, und stehst endlich auf der Straße.

Bei allem, was jammervoll ist, Tauwetter! Keine Spur mehr vom Froste. Du blickst die lange Oxfordstraße hinunter: die Gaslichter werfen einen traurigen Schein auf das nasse Pflaster, und du vermagst keinen dunklen Fleck zu entdecken, der dich hoffen ließe, eines Kabrioletts oder einer Mietskutsche habhaft zu werden – sogar die Mietskutscher sind verzweiflungsvoll nach Hause gefahren. Der kalte, mit Schnee vermischte Regen fällt mit der lieblichen Regelmäßigkeit, die eine wenigstens vierundzwanzigstündige Dauer bedeutet, der Nebel hängt über den Hausgiebeln und Lampenpfählen und hüllt dich gleich einem unsichtbaren Mantel ein. Das Wasser fließt in alle Höfe hinein – die Röhren sind geborsten – die Wassertonnen laufen über – die Straßenrinnen scheinen Zeitwettläufe anzustellen – Brunnenschwengel gehen von selbst nieder – Pferde vor Marktkarren stürzen und niemand hilft ihnen wieder auf – die Polizeidiener sehen aus, als wenn sie sorgfältig mit pulverisiertem Glas überschüttet wären – von Zeit zu Zeit begegnet dir eine Milchfrau mit zeugumwickelten Schuhen, um nicht auszugleiten – Jungen, die »außer dem Hause schlafen« und überhaupt wenig nächtliche Ruhe haben, können trotz allem Hämmern an den Ladentüren ihre Herren nicht aufwecken und heulen vor Kälte – die Mischung von Eis, Schnee und Wasser auf den Trottoirs ist einige Zoll dick – niemand wagt es, rasch zu gehen, um sich warm zu erhalten, und niemand würde sich warm erhalten, wenn er es auch täte.

Es schlägt ein Viertel nach fünf Uhr, wenn du auf deinem Wege nach Golden Cross auf dem Waterlooplatze anlangst, und du machst jetzt die Entdeckung, daß du ungefähr eine Stunde zu früh geweckt worden bist. Du hast keine Zeit zurückzukehren, die öffentlichen Lokale sind überall geschlossen, und du mußt daher weitergehen, was du äußerst zufrieden mit dir selbst und der ganzen Welt tust. Du langst im Posthause an, blickst im Hofe umher, entdeckst weder eine Kutsche noch Vorkehrungen zur Abfahrt einer solchen, gehst in das Büro, und der Kontrast bewirkt, daß es dir mit seiner Gaserleuchtung und seinem loderndem Feuer äußerst komfortabel erscheint – sofern überhaupt ein Gemach an einem Wintermorgen um halb sechs Uhr komfortabel aussehen kann. Derselbe Schreiber steht in derselben Stellung da, in der du ihn gestern gesehen hast, als wenn er seit der Zeit weder Hand noch Fuß geregt hätte. Er sagt dir, daß man die Kutsche in einer Viertelstunde herausbringen werde, und du begibst dich in das Schenkstübchen – nicht in der törichten Erwartung, dich wärmen zu können, sondern nur um dir ein Gläschen heißen Branntwein mit Wasser geben zu lassen – sobald nämlich das Wasser kocht, was genau drittehalb Minuten vor der Abfahrt der Fall sein wird.

Es schlägt gerade sechs auf, dem Turme der St. Martinskirche, indem du den Mund an das Glas setztest. Du stehst in zwei Augenblicken im Büro, und der Schenkwärter sitzt in derselben Zeit behaglich hinter deinem Branntwein mit Wasser. Die Pferde sind vorgespannt, der Kondukteur und einige Lastträger laufen atemlos mit Gepäck hin und her, der noch vor kurzem so stille Hof ist von Getümmel erfüllt, die Verkäufer der Morgenblätter sind angelangt, du vernimmst von allen Seiten Geschrei: »Times, meine Herren, Times – ein Chron, Sir – Herald,19 Sir – schreckliche Mordtat, meine Herren – merkwürdige Ehescheidungsgeschichte, meine Damen«, usw. usw. Die Innenpassagiere befinden sich schon in ihren Höhlen, und die Außenpassagiere, du ausgenommen, gehen auf und ab, um die Füße vor Erstarrung zu schützen. Es sind zwei junge Männer mit sehr langen Haaren, die vom Schnee und Regen wie kristallisierte Rattenschwänze aussehen; ein schmächtiges, frierendes und verdrießliches junges Frauenzimmer, ein alter Herr dito dito, und etwas in einem Mantel mit Kragen, das einen Offizier vorstellen soll. Alle haben große steife Schals über dem Kinn und sehen gerade aus, als wenn sie auf einer Papagenoflöte spielten.

»Nimm die Decken ‚runter, Bob«, ruft der Kutscher, der jetzt in einem groben blauen Reiserock erscheint, an dem die Rückenknöpfe so weit voneinander entfernt sind, daß man sie nicht beide zugleich sehen kann. »Gentlemen«, ruft der Kondukteur mit dem Passagierzettel in der Hand, »schon fünf Minuten über die Zeit!« Die Passagiere klimmen hinauf – die beiden jungen Herren wie Kalköfen rauchend, und der alte hörbar murrend. Das schmächtige junge Frauenzimmer ist endlich vermöge vielen und mannigfachen Ziehens, Nachschiebens, Hilfeleistens und Wirrwarrs hinauf geschafft und drückt dafür seine feste Überzeugung aus, nie wieder hinunterkommen zu können. »Alles gut!« ruft der Kondukteur endlich, springt hinauf, indem die Kutsche sich in Bewegung setzt, und stößt gleich darauf zum Beweise der Gesundheit seiner Lunge ins Horn. »Laß los, Harry«, ruft der Kutscher – und wir rasseln so munter davon, als wenn »alles« mit dem Morgen wie mit der Postkutsche »gut« wäre, und sehen dem Ziele unserer Reise so sehnsüchtig entgegen, als unsere Leser, wie wir fürchten, dem Ende unserer Skizze längst entgegengesehen haben.

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