Charaktere

Gedanken über Leute und Leutchen

Es ist merkwürdig, wie gänzlich unbeachtet man leben und sterben kann in London. Wirklich gibt es Unzählige in der großen Hauptstadt, die keinerlei Sympathie auch nur in eines einzigen Brust erwecken; an deren Dasein niemand ein Interesse nimmt, außer ihnen selbst; von denen sich nicht sagen läßt, sie würden vergessen nach ihrem Tode, weil bei ihrem Leben keine Seele an sie gedacht hat; die nicht einen einzigen Freund besitzen, und um die sich niemand, wirklich gar niemand kümmert. Gebieterische Notwendigkeit zwang sie, nach London zu gehen, um Beschäftigung und die Mittel zu ihrem Lebensunterhalt zu suchen. Es ist schmerzlich, die Bande zu zerreißen, die uns mit unserer Heimat und unsern Angehörigen und Freunden verbinden, und noch schmerzlicher, die tausend Erinnerungen glücklicher Tage und alter Zeiten aufzugeben, die jahrelang in unserm Innern schlummerten und nur erwachen, um uns die Gestalten der Lieben und Teuren, als wenn sie lebten, die Umgebungen, in denen wir uns mit ihnen bewegten und die wir wahrscheinlich nie wieder sehen sollen, Freud und Leid, das uns mit ihnen traf, und die Hoffnungen vor die Seele zurückzuführen, bei denen uns einst das Herz so hoch und freudig schlug und die wir wohl für immer hinter uns lassen müssen. Doch die Leute, von denen wir reden, haben zu ihrem eigenen Glück Gedanken dieser Art längst vergessen; die alten Freunde sind gestorben oder ausgewandert, ehemalige Korrespondenten haben sich in dem geschäftigen Citygedränge verloren, und sie selbst sind durch Zeit und Gewohnheit vollkommen passiv und teilnahmslos geworden.

Wir saßen eines Tags innerhalb der Umfriedung eines Teils des St.-James-Parks, als ein Mann unsere Aufmerksamkeit erregte, den wir sogleich dieser Klasse zuzählen zu müssen glaubten. Er war groß, hager und blaß und trug einen schwarzen Rock, knapp anschließende graue Beinkleider, kurze Gamaschen und braune, lederne Handschuhe. Er hatte einen Regenschirm in der Hand – nicht zum Gebrauch, denn das Wetter war schön, sondern offenbar, weil er ihn jeden Morgen ins Büro mitnahm. Er ging vor dem kleinen Rasenplatze, auf dem die zu vermietenden Stühle stehen, auf und ab, nicht, als wenn er es zum Vergnügen oder zur Erholung, sondern aus Notwendigkeit täte – geradeso wie er jeden Wochentag von Islington zu seinem Geschäftszimmer wandert. Es war ein Montag – der Ostermontag. Er war auf vierundzwanzig Stunden der Fronarbeit des Schreibtisches entronnen und machte einen Spaziergang, der Bewegung und frischen Luft, des Vergnügens wegen – vielleicht zum ersten Male in seinem Leben. Wir waren geneigt zu glauben, daß er noch nie einen Feiertag gehabt hatte und eigentlich noch immer nicht wußte, was er mit sich und seiner Zeit anfangen solle. Auf dem Grasplan spielten Kinder, hier und da erblickte man kleine plaudernde und lachende Gruppen – er aber ging fortwährend, achtlos und unbeachtet, auf und ab, und sein schmales und blasses Gesicht sah aus, als wenn es des Ausdrucks der Neugier oder Teilnahme unfähig wäre. In seiner Haltung, seinem ganzen Wesen lag ein Etwas, das uns, wie wir uns einbildeten, sein ganzes Leben oder vielmehr seinen ganzen Tag erzählte; denn ein Mann dieser Art kennt keine Abwechslung. Es war uns fast, als wenn wir das dumpfige Hinterstübchen vor uns sähen, in dem er jeden Morgen erscheint, den Hut an denselben Pflock hängt und die Beine unter demselben Schreibtisch ausstreckt, nachdem er den schwarzen Rock, der das ganze Jahr über aushalten muß, mit dem alten vertauscht hat, der ihm im vergangenen Jahre seine Dienste leistete und den er im Geschäftszimmer trägt, um den andern zu schonen. Und da sitzt er dann bis fünf Uhr, den Kopf nur emporhebend, wenn jemand eintritt, oder wenn er inmitten einer schwierigen Berechnung die Blicke an die staubige Decke heftet, als ob er aus ihrem Schwarz-Grau eine Inspiration erwarte; und da sitzt und arbeitet er den ganzen Tag so regelmäßig wie der Zeiger der Wanduhr über dem Kaminsims, deren lautes Ticken fast ebenso einförmig ist wie sein eigenes Dasein.

Um fünf oder halb sechs Uhr steigt er langsam von seinem gewohnten Stuhl herunter, wechselt abermals den Rock und begibt sich in sein Speisehaus in der Gegend von Bucklersburg, Er fragt: »Was gibt es Gutes?« Der Kellner nennt ihm in vertraulichem Tone, denn er hat es mit einem regelmäßigen Gast zu tun – die Gerichte des Tags, und er bestellt einen kleinen Teller mit Roastbeef nebst frischem Gemüse und einem halben Schoppen Porter. Er bekommt einen kleinen Teller, weil frisches Gemüse einen Penny teurer ist als Kartoffeln, und er hatte gestern »zwei Brote« und vorgestern sogar noch »einen Käse« dazu. Nachdem diese wichtige Sache abgemacht ist, hängt er den Hut auf und sagt zu dem nächstsitzenden Herrn, der das Zeitungsblatt in der Hand hat: »Wenn ich bitten darf, nach Ihnen, Sir!« Kann er das Blatt haben, während er speist, so speist er mit weit größerem Behagen, indem er es gegen die Wasserflasche stellt und abwechselnd einen Bissen zum Munde führt und ein paar Zeilen liest. Genau fünf Minuten vor Ablauf der Stunde bezahlt er und kehrt nach dem Geschäftszimmer zurück, das er abermals, sofern kein Posttag ist, nach einer halben Stunde verläßt, und begibt sich in seinem gewöhnlichen Schritt nach Hause in sein kleines Hinterzimmer, wo er seinen Tee trinkt und sich dabei vielleicht die Zeit durch Geplauder mit seiner Hauswirtin kleinem Knaben vertreibt, den er bisweilen für die Ausrechnung eines Additionsexempels mit einem Penny belohnt.

Manchmal liegt es ihm ob, seinem Geschäftsgeber in Bernard-Street, Russel-Square, einen Brief hinzubringen. Der reiche Mann hört seine Stimme und ruft ihm aus dem Speisezimmer zu: »Nur herein, Mr. Smith!« worauf Mr. Smith seinen Hut neben einem Stuhle des Vorsaales niederlegt, schüchtern hineingeht, das herablassende Geheiß, sich zu setzen, befolgt, die Füße sorgfältig unter den Stuhl zieht und in ehrerbietiger Entfernung vor dem Tisch dasitzt, während er das Glas Wein austrinkt, das ihm der älteste Knabe hat einschenken müssen. Er entfernt sich darauf unter fortwährenden Verbeugungen und unruhigem Herzklopfen, das sich erst wieder vollkommen verliert, wenn er das Haus verlassen hat und einige hundert Schritte gegangen ist.

Er und seinesgleichen sind mitleidswerte, harmlose Leute; zufrieden, aber nicht glücklich, mit gebrochener Lebenskraft und niedergebeugt, fühlen sie wohl keinen Schmerz, kennen aber auch keine Freude.

Vergleicht sie mit einer andern Klasse von Leuten, die ebenfalls weder Angehörige und Freunde noch Umgang haben, deren Stellung in der Gesellschaft aber eine Folge ihrer eigenen Wahl ist. Die meisten von ihnen sind alte Knaben mit weißen Köpfen und roten Gesichtern, lieben Portwein und hohe Stiefel, hegen aus wirklichen oder eingebildeten Gründen – in der Regel aus den wirklichen und vortrefflichen, daß sie selbst reich und ihre Anverwandten arm sind – Argwohn gegen jedermann, spielen die Menschenhasser, empfinden großes Vergnügen in dem Gedanken, unglücklich zu sein, und machen alles verstimmt, was in ihre Nähe kommt. Man kann Leute wie sie überall sehen, erkennt sie in Kaffeehäusern an ihren Unzufriedenheit ausdrückenden Ausrufen und den luxuriösen Diners, im Theater daran, daß sie stets auf demselben Platze sitzen – und mit neiderfüllten Blicken alle jungen Leute in ihrer Nähe ansehen; in der Kirche an ihrem prunkhaften Eintreten und der lauten Stimme, womit sie sich bei den Responsorien der Liturgie vernehmen lassen; in Gesellschaften endlich daran, daß sie beim Whist verdrießlich werden und keine Musik leiden können.

Ein alter Knabe dieser Art hat eine glänzend möblierte Wohnung, eine artige Büchersammlung, ein kostbares Silberservice und schöne Gemälde die Fülle; nicht so sehr, um sich selbst daran zu erfreuen, als um die zu ärgern, die das Verlangen, aber nicht die Mittel haben, es ihm gleichzutun. Er ist Mitglied von zwei oder drei Klubs, und man beneidet ihn, schmeichelt ihm und haßt ihn in allen. Bisweilen wird er von einem armen Verwandten – etwa einem verheirateten Neffen – um eine kleine Unterstützung angegangen, was er mit edler Entrüstung über die Unbesonnenheit junger Eheleute, die Wertlosigkeit einer Frau, die Anmaßung, Familie zu haben, die schwere Sünde bei jährlich hundertfünfundzwanzig Pfund in Schulden zu geraten und andere unverzeihliche Verbrechen erörtert. Mit einer selbstgefälligen Hinweisung auf sein eigenes Beispiel und einer zarten Anspielung auf Kirchspielunterstützung schließt er. Wenn er stirbt, so geschieht es, indem ihn nach dem Mittagessen der Schlag rührt. Sein Vermögen hat er der Bibelgesellschaft vermacht, die zu seinem Gedächtnis, ein Täfelchen errichtet, das ihre Bewunderung seines christlichen Wandels in dieser Welt und ihre tröstliche Gewißheit seiner Seligkeit in der anderen verkündet.

Nächst Mietskutschern, Kabriolettführern und Omnibuskondukteuren, die wir ganz besonders in unser Herz geschlossen haben und ganz nach dem Maße ihrer unerschütterlichen Unverschämtheit und vollkommenen Selbstbeherrschung bewundern, gewährt uns keine Menschenklasse eine größere Ergötzlichkeit als die der Londoner Lehrburschen. Sie sind gegenwärtig nicht mehr eine wohlorganisierte Körperschaft, verbunden durch feierlichen Vertrag, um ruhigen und friedlichen Leuten Schrecken einzujagen, sooft es ihnen beliebt, sich in die Köpfe zu setzen, beleidigt zu sein und Prügel in die Hände zu nehmen. Sie sind jetzt nur noch durch Lehrbriefe gebunden, und ihre Tapferkeit wird durch die heilsame Furcht vor der neuen Polizei und die Aussicht auf ein dumpfiges Arresthaus, ein Polizeiverhör und eine dahinter lauernde Geldstrafe leicht im Zaume gehalten. Demungeachtet sind sie noch immer eine eigentümliche Menschenklasse und nicht minder ergötzlich, weil unschädlich. Wer hätte sie nicht sonntags in den Straßen gesehen und bemerkt? Wo gäbe es sonst so wackere Versuche im Prunken und Großtun, wie die sind, die sie an ihren stattlichen Personen entwickeln? Vor ein paar Sonntagen gingen wir auf dem Strand hinter einem kleinen Häufchen von ihnen her, das uns für den ganzen Tag Unterhaltungsstoff gab. Sie kamen aus der City. Es war zwischen drei und vier Uhr nachmittags, und sie begaben sich in den Park. Es waren ihrer vier, sie gingen Arm in Arm in einer Reihe und prangten in weißen Glacéhandschuhen wie ebenso viele Bräutigame, in hellen Sommerbeinkleidern von Zeug, wie man es noch nie gesehen, und Röcken, für die unsere Sprache noch keinen Namen, hat –; einer Art Kreuzung zwischen Reise- und Überröcken, mit den Kragen der einen und den Aufschlägen der anderen und Taschen, die nur ihnen selbst eigentümlich waren.

Sämtliche vier Gentlemen führten tüchtige Handstöcke mit großen Troddeln an den Griffen, die sie bisweilen anmutig rund umwirbelten, und ihr Gang erhielt durch ihr Bemühen, eine gleichgültig-leichte und kecke Haltung zu behaupten, einen krampfhaft-renommistischen, unwiderstehlich lächerlichen Anstrich. Einer von ihnen hatte eingezwängt in der Westentasche eine Uhr von der Größe und Gestalt eines Ribstoner Apfels, und verglich sie sorgfältig mit den Uhren aller Kirchen und sonstigen öffentlichen Gebäuden, an denen der Weg vorüberführte; und als sie endlich im St.-James-Park angelangt waren, mietete einer von ihnen, der sich der bestgemachten Stiefel erfreute, ausdrücklich einen zweiten Stuhl, um die Füße darauf zu stellen, und genoß seine Naturfreuden für zwei Groschen mit einem Gehaben, das alle Unterschiede zwischen Brookes und Snooks, Crockfords und Bagnigge Wells7 vernichtete.

Wir können über Leutchen dieser Art lächeln, allein sie erregen nie unsere Galle. Sie pflegen auf dem besten Fuße mit sich selber zu stehen und sind daher fast notwendig gegen jedermann freundlich gesinnt. Und zeigen sie etwa ein wenig Geckerei an ihren eigenen Personen, so ist diese ohne Zweifel erträglicher als das frühreife Laffentum vom Quadranten,8 das knebelbärtige Dandytum von Regent-Street und Pallmall oder äffische Großtuerei an irgendeinem Orte.

Ein Weihnachtsschmaus

Weihnacht! – Der muß wahrlich ein Menschenhasser sein, in dessen Brust durch die Wiederkehr des Weihnachtsfestes kein frohes Gefühl, in dessen Seele durch sie keine freundliche Erinnerung geweckt wird. Es gibt Leute, die euch sagen werden, Weihnacht wäre nicht mehr für sie, was es vormals gewesen – bei jedem neuen Christfeste hätten sie sich um eine teure Hoffnung, eine schöne Aussicht ärmer als das Jahr zuvor gefunden, und das neueste erinnere sie nur an ihre verschlimmerte Lage, ihr vermindertes Einkommen – an die Gastereien, zu denen sie einst vorgebliche Freunde geladen und die kalte Begegnung, die ihnen jetzt in ihrem Unglück widerführe. Hinweg mit so trübseligen Gedanken – wiewohl jeder sie in sich hervorrufen kann an jedem Tag im Jahr, der lange genug die Welt gesehen. Erwählt nicht den frohesten der dreihundertundfünfundsechzig zu euren schmerzlichen Rückerinnerungen, sondern rückt euren Stuhl näher an das prasselnde Feuer – füllt die Gläser und stimmt den Rundgesang an – und ist euer Zimmer kleiner, als es vor einem Dutzend Jahren war, und ist euer Glas mit dampfendem Punsch statt mit funkelndem Weine gefüllt, so nehmt die böse Zeit auch für gut, leert es flugs, trällert euer altes Lieblingslied und dankt Gott, daß es nicht noch schlimmer mit euch steht. Schaut nur die fröhlichen Gesichter eurer am Kamin versammelten Kinder an! Vielleicht ist ein kleiner Stuhl leer – fehlt ein liebes, kleines Haupt, dessen Anblick des Vaters Herz erfreute und der Mutter Stolz erweckte. Laßt das Vergangene hinter euch – denkt nicht daran, daß das liebliche Kind, dessen Gestalt jetzt zu Staub zerfällt, noch vor einem kurzen Jahre mit der Blüte der Gesundheit auf den Wangen und mit Augen, strahlend in kindlicher, ahnungsloser Lust, vor euch saß. Gedenkt der Segnungen, deren ihr euch jetzt erfreut – deren viele einem jeglichen zuteil werden – nicht eurer vergangenen trüben Schicksale, deren mancherlei einen jeden treffen. Füllt euer Glas abermals mit fröhlichen Mienen und einem zufriedenen Herzen. Wir bürgen euch mit unserm Leben dafür, euer Weihnachtsfest wird heiter und euer neues Jahr glücklich sein.

Wer wäre unempfindlich gegen die Ergießungen guter und edler Gefühle, jenes Nehmen und Geben von Zärtlichkeit und Liebe, woran diese Zeit des Jahres so reich ist? Eine Familienweihnachtsfeier! Wir kennen nichts Herrlicheres. Schon in dem Namen Weihnacht scheint ein Zauber zu liegen. Kleine Eifersüchteleien und Zerwürfnisse sind vergessen; Mürrische, die sich seit langer Zeit absonderten, werden gesellig; Vater und Sohn oder Bruder und Schwester, die Monate lang mit kalten oder gar abgewendeten Blicken aneinander vorübergingen, schließen einander inbrünstig in die Arme und vergessen bei ihrem gegenwärtigen Frohsinn und Glück die Streitigkeiten, die ihre Einigkeit unterbrach; Herzen, die sich nacheinander sehnten, aber durch falschen Stolz, übertriebene Begriffe von Selbstwürde getrennt waren, werden wiederum vereinigt, und alles atmet Wohlwollen und liebende Zuneigung. O, daß Weihnacht das ganze Jahr hindurch währte, und daß die unsere bessere Natur entstellenden Vorurteile und Leidenschaften zum wenigsten niemals die trennten, denen sie stets fremd bleiben sollten!

Die Weihnachtsfamiliengesellschaft, die wir im Sinne haben, ist mitnichten eine bloße Versammlung von Verwandten, die verabredet wurde vor ein paar Wochen, nur für dieses Jahr, ohne eine Vorläuferin im zu Ende gehenden, oder eine wahrscheinliche Wiederholung im folgenden zu haben; nein, eine jährlich wiederkehrende Vereinigung aller, nur nicht gar zu entfernt wohnender, junger und alter, reicher und armer Familienmitglieder, der sämtliche Kinder zwei Monate vorher in fiebriger Erwartung entgegensehen. Sonst war sie beim Großvater; aber der Großvater und die Großmutter sind zu alt und zu schwach geworden, haben den eigenen Haushalt aufgegeben und ihre Wohnung beim Onkel George genommen. Die Gesellschaft versammelt sich daher stets in Onkel Georges Hause, nur tut die Großmutter unabänderlich das Beste dazu, und der Großvater läßt es sich nicht nehmen, nach dem entfernten Newgatemarkte zu wandern und den Truthahn zu kaufen, den er sich im Triumph nachtragen läßt; und der Träger muß dann stets außer dem bedungenen Lohn sein Gläschen haben, um Tante George »ein fröhliches Weihnachtsfest und ein glückliches Neujahr zuzutrinken«. Die Großmutter ist in den letzten Tagen äußerst verschwiegen und geheimnisvoll, obwohl demungeachtet Gerüchte umlaufen, daß sie für die Mägde neue Hauben mit roten Bändern, für die Kinder Bleistifte, Federn und Bücher eingekauft, und Tante Georges Bestellung beim Zuckerbäcker noch ihre besondere hinzugefügt habe.

Am Heiligen Abend ist die Großmutter ohne Ausnahme in rosiger Laune; und nachdem sie die Kinder den ganzen Tag mit Rosinenauskernen beschäftigt hat, besteht sie regelmäßig darauf, daß Onkel George in die Küche herunterkommt, den Rock auszieht und ein halbes Stündchen den Pudding rührt, was Onkel George zum lärmenden Entzücken der Kinder und der Dienerschaft auch gutmütig tut, und der Abend schließt dann mit einem großartigen Blindekuhspiel, wobei sich der Großpapa absichtlich sehr bald haschen läßt, um Gelegenheit zu erhalten, seine Behendigkeit zu zeigen.

Am folgenden Morgen geht das alte Paar mit so vielen von den Kindern, wie der Kirchenstuhl fassen kann, in großem Staate zur Kirche, während Tante George zu Hause Karaffen abstaubt und Kuchenteller füllt und Onkel George Flaschen in das Speisezimmer trägt und nach Korkziehern ruft und jedermann in den Weg läuft. – Wenn die Kirchgänger zum Lunch zurückkehren, zieht der Großvater einen kleinen Mistelzweig aus der Tasche und treibt die Knaben an, ihre kleinen Bäschen darunter zu küssen – was sowohl den Knaben als dem alten Herrn unsägliches Vergnügen gewährt, aber Großmutters Schicklichkeitsbegriffen einigermaßen zuwider ist. Der Großvater erklärt indes endlich, daß er, als er gerade dreizehn Jahre und drei Monate alt gewesen wäre, die Großmutter auch unter einem Mistelzweig geküßt habe, worauf die Kinder in die Hände klatschen und samt Onkel und Tante George in ein lautes und herzliches Gelächter ausbrechen, und die Großmutter sagt dann schmunzelnd und mit einem sehr gnädigen Lächeln, der Großvater sei immer ein Hans Leichtfuß gewesen, worüber die Kinder abermals herzlich lachen, und der Großvater herzlicher als irgendeins von ihnen.

Doch das alles ist noch nichts gegen die Last, wenn sich die Großmutter in einer hohen Haube und einem schieferfarbenen seidenen Kleid und der Großvater mit einem schöngefalteten Busenstreifen und weißen Halstuch in den Kaminwinkel setzen, und Onkel Georges Kinder und die unzähligen kleinen Vettern und Bäschen vor dem Kamin Platz nehmen und sehnsüchtig der Besucher harren. Endlich fährt eine Mietskutsche vor, und Onkel George sieht durch das Fenster und ruft: »Da ist Jane!« worauf die Kinder aus der Tür und holterpolter die Treppe hinunterstürmen und unter Jubelgeschrei Onkel Robert und Tante Jane, die Wärterin mit dem jüngsten Kind und wer sonst noch mitgekommen, die Treppe hinaufbegleiten. Der Großvater nimmt das Kind auf den Arm und die Großmutter küßt ihre Tochter, und der Tumult hat sich kaum ein wenig gelegt, als abermals Onkel und Tanten mit noch mehr Vetterchen und Bäschen eintreffen; und die Heranwachsenden unter den Vettern charmieren mit den heranwachsenden Basen, und die Kleinen tun es ihnen nach, und man hört nichts als ein verwirrtes Durcheinanderreden, Schwatzen, Lachen und Jubilieren.

Nach einiger Zeit vernimmt man während einer augenblicklichen Pause ein zögerndes, schüchternes Klopfen an der Haustür, und von allen Seiten wird gefragt, wer da sei. Und ein paar Kinder, die am Fenster gestanden, erwidern mit leiser Stimme: »Die arme Tante Margarete«, worauf Tante George hinausgeht, die Ankommende zu empfangen, und die Großmutter sich in die Brust wirft und ziemlich steif zurechtsetzt; denn Margarete heiratete ohne ihre Zustimmung einen armen Mann, und da Armut noch keine genügende Strafe für ihr Vergehen ist, so haben ihre Freundinnen mit ihr gebrochen und ihre nächsten Verwandten den Umgang mit ihr aufgehoben. Doch jetzt ist Weihnacht.

Wie das halbgebildete Eis vor der Morgensonne zerfließt, schmilzt die harte Herzrinde, die im Laufe des Jahres freundlichere und mildere Gefühle nicht durchbrechen ließ, vor der gesegneten Weihnachtsgeisteshelle und Herzenswärme. Es mag leicht geschehen, daß eine Mutter in einem Augenblicke der Entrüstung eine ungehorsame Tochter von sich entfernt; aber ganz etwas anderes ist es, sie zu einer Zeit, wo sich alle Herzen dem Wohlwollen und der Heiterkeit öffnen, von dem Herde zu verbannen, an dem sie so manches Christfest gesessen hat, als stammelndes Kind, als aufblühendes Mädchen und als rosige Jungfrau. Die Miene der Selbstgerechtigkeit und des kalten Verzeihens, die die alte Dame angenommen hat, steht ihr schlecht, und man sieht leicht, daß sie nur erkünstelt ist, indem die Schwester der Mutter die Arme zuführt, die sich bleich und niedergebeugt nähert, nicht infolge ihrer Dürftigkeit, die sie zu ertragen gelernt hat, sondern weil sie das Bewußtsein in sich trägt, unverdiente Härte und Vernachlässigung zu erfahren. Es tritt ein augenblickliches Stillschweigen ein. Sie reißt sich plötzlich von der Schwester los und wirft sich schluchzend an der Mutter Brust. Der Vater ergreift rasch ihres Gatten Hand. Die andern Anverwandten versammeln sich um sie, sprechen freundliche Glückwünsche aus, und Frohsinn, Herzlichkeit und Einigkeit herrschen wieder wie vorhin.

Das Mittagessen, der Christfestschmaus, ist nun gar eine königliche Lustbarkeit geworden! Nichts Störendes kommt vor, alle sind in der besten Laune und bemühen sich, zufrieden und froh zu machen und froh und zufrieden sein. Der Großvater erzählt ausführlich, wie es bei seinem Truthahnkauf zugegangen ist, und schweift zu früheren Truthahneinkäufen an früheren Christfesten ab, und die Großmutter bestätigt ihn in den geringfügigsten Kleinigkeiten. Onkel George erzählt Geschichten, tranchiert Geflügel, trinkt Wein und scherzt mit den Kindern am Nebentisch, blinzelt den Vettern und Basen zu, die scharmieren oder mit sich scharmieren lassen, und erheitert jedermann durch seine gute Laune und Gastlichkeit, und wenn endlich die stramme Köchin mit einem Riesenpudding, in dem ein Stechpalmzweig steckt, hereinwankt, so beginnt ein Lachen, Jubeln und Händeklatschen, das seinesgleichen nur hat, wenn angezündeter Branntwein in die Fleischpastetchen hineingegossen wird. Und dann der Nachtisch, der Wein, und aller Scherz und alle Lust dabei! Was für prachtvolle Reden gehalten werden, und welche Lieder Tante Margaretens Mann singt, der sich als ein so allerliebster Mann zeigt und so aufmerksam gegen die Großmutter ist! Der Großvater singt nicht nur sein jährliches Lied mit beispiellosem Feuer, sondern stimmt, sobald er, dem jährlichen Brauche gemäß, durch ein allgemeines Dakapo beehrt ist, ein ganz neues an, das außer der Großmutter noch niemand gehört hat; und ein junger Tausendsasa von Vetter, der wegen gewisser arger Unterlassungs- und Begehungssünden bei den alten Leuten in einiger Ungnade steht – er versäumt es, sie zu besuchen, und trinkt allen Vorstellungen zum Trotze Burtoner Ale – erregt unauslöschliches Gelächter durch ein so komisches Lied, wie wohl noch nie eins gesungen ist. Und so vergeht der Abend bei fortwährender Herzlichkeit und Heiterkeit und wirkt mehr zur Erweckung verwandtschaftlicher und liebevoller Gefühle und Gesinnungen bei den Versammelten für den Abend, sowie für das ganze kommende Jahr, als alle Predigten, die jemals geschrieben wurden von allen Geistlichen, die jemals gelebt haben.

Das neue Jahr

Nächst Weihnacht ist Neujahr die lustigste Zeit des ganzen Jahres. Es gibt weinerliche Leute, die das neue Jahr mit Wachen und Fasten beginnen, als wenn es ihnen obläge, beim Begräbnis des alten in der Rolle des Hauptleidtragenden zu agieren. Wir können jedoch nicht umhin, es weit schmeichelhafter sowohl für das entschwindende alte als das eben erscheinende neue Jahr zu halten, daß man in fröhlicher Lust den alten Knaben entläßt und das neugeborene Kindlein begrüßt.

Im alten Jahr muß sich doch wohl einiges zugetragen haben, worauf wir mit einem Lächeln heiterer Erinnerung, wo nicht mit Gefühlen innigen Danks zurückblicken können; und jede Rechts- und Billigkeitsregel verpflichtet uns ja, von dem neuen Jahr anzunehmen, daß es gut sein werde, bis es sich des ihm bewiesenen Vertrauens unwürdig gezeigt hat.

Dies ist unsere Ansicht der Sache; und weil wir sie hegen, sitzen wir hier, trotz unserem Respekt vor dem alten Jahr, dessen letzte Augenblicke, indem wir die Feder führen, dahinschwinden: sitzen wir hier am letzten Abend des alten Jahres eintausendachthundertundsechsunddreißig an unserem Kamin und schreiben diese Skizze und schlürfen unseren Grog mit so fröhlicher Miene, als wenn sich gar nichts Außerordentliches, das unseren Gleichmut hätte stören können, zugetragen hätte oder zutragen könnte.

Mietskutschen und Equipagen rasseln in ewiger Folge die Straße hinauf und herunter und tragen ohne Zweifel geputzte Gäste in gefüllte Gesellschaftszimmer; laute und wiederholte Doppelschläge an die Tür des Hauses mit den grünen Jalousien gegenüber verkünden der ganzen Nachbarschaft, daß jedenfalls eine große Gesellschaft in der Straße gegeben wird; und wir sahen durch unser Fenster und obendrein durch den Nebel, bis er so dick wurde, daß wir Licht bringen ließen und unsere Vorhänge zuzogen, Konditorlehrlinge mit grünen Kästen auf den Köpfen und Karren, voll von Geräten für die Abendgesellschaften nach den vielen Häusern eilen, in denen sich Silvestergesellschaften versammelten.

Uns deucht, wir können uns eine solche Gesellschaft so lebhaft vorstellen, als wenn wir, gehörig befrackt und beballschuht, bei Ankündigung unseres Namens an der Besuchszimmertür ständen – etwa in dem Hause mit den grünen Jalousien. Man gibt dort eine Ballgesellschaft, denn als wir heute morgen bei unserem Frühstück saßen, sahen wir, daß im Besuchszimmer der Teppich weggenommen wurde, und, wenn es noch weiteren Beweises bedürfte und wenn wir die Wahrheit sagen müssen, wir sahen erst eben noch eine der jungen Damen nicht weit von einem Schlafzimmerfenster einer anderen das Haar »machen«, und zwar in einem so glänzenden Stil, wie er nur für eine Ballgesellschaft statthaft ist. – Der Herr des Hauses mit den grünen Jalousien ist ein öffentlicher Beamter; wir schließen es aus dem Schnitt seines Rockes, der Schleife seines Halstuchs und der Selbstgenügsamkeit seines Ganges – schon die grünen Jalousien haben ein Somerset-House-Air.9

Horch! Ein Kabriolett! Der Anlangende ist ein jüngerer Attaché aus demselben Büro, ein nicht wenig auf sein Äußeres haltender junger Mann mit einer Neigung zu Schnupfen und Hühneraugen. Er erscheint in tuchbesetzten Stiefeln, bringt die Schuhe in der Rocktasche mit und zieht sie im Hausflur an. Der Aufwärter im letzteren ruft seinen Namen einem zweiten Aufwärter – einem verkleideten Pedell des Büros – in einem blauen Leibrock zu.

Der Aufwärter auf dem ersten Treppenabsatz geht dem jungen Herrn nach dem Besuchszimmer voran, öffnet die Tür und schreit hinein: »Mr. Tupple!« Der Hausherr, der am Kamin politisiert und sich gewärmt hat, tritt ihm entgegen und erkundigt sich nach seinem Befinden. »Meine Liebe, dies ist Mr. Tupple« (die Dame vom Hause knickst verbindlich); »Mr. Tupple, meine älteste Tochter; liebe Julie, Mr. Tupple; Tupple, meine anderen Töchter und mein Sohn«, – und Mr. Tupple reibt sich die Hände sehr stark, verbeugt sich in einem fort links und rechts, bis die ganze Familie vorgestellt ist, läßt sich sodann auf einen Stuhl an der Sofaecke nieder, eröffnet eine Unterhaltung mit den jungen Damen über das Wetter, die Theater, das alte Jahr, die neueste Mordtat, den Luftballon, die Ärmel der Frauenkleider, die Lustbarkeiten der »Season« und eine Menge anderer Gegenstände des Tagesgesprächs. Abermalige Doppelschläge! Welch eine zahlreiche Gesellschaft – welch ein unaufhörliches Unterhaltungsgesumm und Kaffeeschlürfen! Wir sehen Tupple im Geist auf seiner höchsten Glanzstufe. Er hat soeben die Tasse der dicken alten Dame dem Aufwärter gereicht und verliert sich jetzt in dem Haufen der jungen Herren an der Tür, um den andern Aufwärter, ehe er hinausgeht, abzufangen und sich des Semmeltellers für die Tochter der alten Dame zu bemächtigen; und als er mit dem Teller am Sofa vorübergeht, wirft er den jungen Damen einen so herablassenden und vertraulichen Erkennungs- und Gönnerblick zu, als ob er sie von Kindheit an gekannt hätte.

Ein bezaubernder junger Mensch, der Mr. Tupple – ein vollkommener Kavalier – und welch ein herrlicher Gesellschafter! Und was sein Lachen betrifft! – Niemand verstand jemals Papas Scherze nur halb so gut wie Mr. Tupple, der sich bei jedem neuen Witzwort vor Lachen ausschütten wollte. Und welch ein angenehmer Mitspieler er ist! – Spricht während der ganzen Partie, und so romantisch, mit so erstaunlich viel Gefühl, wenn er sich auch anfangs etwas leichtfertig zeigte. Mit einem Worte, ein wahres Herz! Bei den jungen Herren ist er freilich eben nicht beliebt. Sie bespötteln ihn und stellen sich, als ob sie ihn verachteten; aber jedermann weiß, es ist purer Neid, und sie brauchten sich ganz und gar nicht zu bemühen, ihn zu verkleinern, denn die Mutter hat gesagt, er solle künftig zu jeder Mittagsgesellschaft eingeladen werden, schon um die Gäste zwischen den Gängen zu unterhalten und ihre Aufmerksamkeit zu beschäftigen, wenn eine unerwartete Verzögerung in der Küche einträte.

Bei Tisch zeigt sich Mr. Tupple noch mehr zu seinem Vorteil, als er es den ganzen Abend getan hat, und wenn der Hausherr die Gesellschaft bittet, die Gläser zu füllen, um Glück zum neuen Jahre zu trinken, ist Mr. Tupple so unendlich spaßhaft, besteht darauf, daß sämtliche junge Damen wirklich gefüllte Gläser haben müssen, trotz ihrer wiederholten Versicherungen, unmöglich austrinken zu können, bittet endlich um die Erlaubnis, Vaters Worten noch einige wenige hinzufügen zu dürfen, und hält eine so glänzende und poetische Rede über das neue und alte Jahr, wie man sich nur eine denken kann.

Nachdem die Gesundheit getrunken ist und die Damen sich entfernt haben, ersucht Mr. Tupple sämtliche Herren um die Gunst, abermals ihre Gläser zu füllen, denn er hat eine zweite Gesundheit in Vorschlag zu bringen. Die Herren rufen: »Hört, hört!« lassen die Flaschen herumgehen, und sobald der Wirt erklärt hat, daß die Gläser gefüllt seien und daß man auf die Gesundheit warte, erhebt sich Mr. Tupple und erlaubt sich, die Anwesenden daran zu erinnern, wie sehr sie durch die Fülle blendender Eleganz und Schönheit, die das Besuchszimmer an diesem Abend gewährt habe, entzückt, und wie hold umfangen ihre Sinne, wie gefesselt ihre Herzen gewesen durch den zauberischen Verein liebenswürdiger Damen. (Lautes und mehrfaches Hört!) Sosehr er (Tupple) sich indes sonst geneigt fühlen möge, die Abwesenheit der Damen, zu beklagen, so könne er doch nicht umhin, einigen Trost in der Erwägung zu finden, daß es ihm eben durch ihre Nichtanwesenheit möglich werde, eine Gesundheit vorzuschlagen, die er jetzt nur vorschlagen könne – die Gesundheit der Damen (großer Beifall), unter denen die holdseligen Töchter des trefflichen Wirts gleich sehr durch ihre Schönheit wie durch ihre feine Bildung hervorglänzten. Er forderte die Herren auf, ihre Gläser zu Ehren der Damen und auf ein glückliches neues Jahr für sie zu leeren. (Verlängerter Beifall, unter dem man jedoch deutlich hört, wie die Damen über den Köpfen der Herren den spanischen Tanz miteinander üben.)

Das Beifallrufen ist kaum vorüber, als ein junger Herr in einer rosa Unterweste ziemlich unten am Tische äußerst unruhig hin und her zu rücken anfängt und starke Anzeichen eines geheimen Wunsches blicken läßt, seinen Gefühlen durch eine Rede Luft zu machen. Der schlaue Tupple bemerkt es sogleich und beschließt, es dadurch zu verhindern, daß er selbst das Wort abermals nimmt. Er steht daher mit feierlich-wichtiger Miene auf und hofft, daß man ihm erlauben werde, noch eine Gesundheit vorzuschlagen (großer Beifall); ist überzeugt, daß alle von der Gastlichkeit – er könne sagen, der glänzenden Gastlichkeit –, die sie an diesem Abend von ihren ehrenwerten Wirten erfahren hätten, auf das tiefste durchdrungen sind (unbegrenzter Beifall). Obwohl dies die erste Gelegenheit ist, bei der ihm die hohe Freude zuteil geworden sei, an diesem Tische zu sitzen, so hat er doch seinen Freund Dobble schon lange und genau gekannt; er hat in Geschäftsverbindung mit ihm gestanden und wünscht, daß alle Anwesenden Dobble so gut kennen möchten wie er selbst. (Der Wirt hustet.) Er kann die Hand auf das Herz legen und seinen festen Glauben aussprechen, daß es nie und nirgends einen besseren Mann, einen besseren Gatten, einen besseren Vater, einen besseren Bruder, einen besseren Sohn, einen besseren Anverwandten und wohlmeinenderen Freund gegeben habe als Dobble. (Lautes Hört!) Die Anwesenden haben ihn an diesem Abende im friedlichen Schoße seiner Familie gesehen – daß sie ihn doch morgens sehen könnten bei Ausübung der schweren Pflichten seines Amts! – gesammelt beim Zeitungslesen, anspruchslos bei Unterzeichnung seines Namens, würdevoll bei seinen Antworten auf die vielfachen an ihn gerichteten Fragen, ehrerbietig in seinem Benehmen gegen die Vorgesetzten, majestätisch in seiner Haltung gegen die Pedelle. (Hurras.) Wenn er (Tupple) den trefflichen Eigenschaften seines Freundes Dobble die verdiente Würdigung angedeihen lasse, was könne er sagen, wenn er von einer Dame wie Mrs. Dobble zu reden beginne? Sollte es erforderlich sein, daß er sich über die Tugenden und Vorzüge dieser liebenswürdigen Frau verbreite? Nein; er will das Zartgefühl seines Freundes schonen, wenn er ihm die Ehre erlaubt, ihn so zu nennen. Mr. Dobble junior! (Mr. Dobble junior, der gerade den Mund zu einer beträchtlichen Weite ausgedehnt hat, um eine ausgezeichnet schöne Apfelsine hineinzustecken, unterbricht seine Operationen und nimmt die schickliche Miene tiefer Melancholie an.) Er (Tupple) begnügt sich, einfach zu sagen – und ist von der freudigen Zustimmung aller ihn Anhörenden vollkommen überzeugt, daß sein Freund Dobble so hoch über jedem Manne stehe, den er je gekannt, als Mrs. Dobble alle Damen, die er jemals gesehen hätte (ihre Töchter ausgenommen) überrage, und will damit schließen, daß er die Gesundheit vorschlägt: »Die ehrenwerten Wirte, und mögen sie noch viele glückliche und frohe Jahre leben!«

Die Gesundheit wird mit Jubel getrunken – der Wirt dankt – und die ganze Gesellschaft verfügt sich zu den Damen. Junge Herren, die vor dem Abendessen zum Tanzen zu schüchtern waren, finden Zungen und Tänzerinnen; die Musiker verraten durch unzweideutige Symptome, daß sie in das neue Jahr »hinein« getrunken haben, während die Gesellschaft draußen gewesen, und das Tanzen hat seinen Fortgang bis spät in den Neujahrsmorgen hinein.

Wir haben kaum das letzte Wort des letzten Absatzes niedergeschrieben, als der erste Schlag der Mitternachtsstunde von den Kirchen umher ertönt. Es liegt etwas Schaurigfeierliches in dem Klang. Genaugenommen mag er in der Neujahrsnacht nicht herzbewegender sein als in jeder anderen, und die Stunden entfliehen zu anderen Zeiten ebenso rasch, und wir beachten ihre Flüchtigkeit nur wenig. Allein, wir messen unser Leben eben nach Jahren; ernst und feierlich sind darum die Töne, die uns verkünden, daß wir abermals an einer der zwischen uns und dem Grabe errichteten Marken stehen, und ob und wie wir uns seiner auch erwehren möchten, unwiderstehlich drängt sich uns der Gedanke auf, daß wir, wenn die Glocke abermals ein neues Jahr verkündigt, die so oft vernachlässigte Mahnung vielleicht nicht mehr vernehmen, daß vielleicht alle jetzt noch in uns glühenden warmen Gefühle erloschen sind.

Doch es hat zwölf Uhr geschlagen, und die das neue Jahr begrüßenden Glocken klingen lustig zusammen. Hinweg denn mit allen düstern Betrachtungen! Wir waren glücklich und froh im vergangenen und werden froh und glücklich, so es Gott gefällt, auch in diesem Jahre sein. Und da wir allein sind und es weder tanzend noch singend empfangen können – wohlan! das Glas an die Lippen, und: Sei herzlich willkommen, du Jahr Eintausendachthundertsiebenunddreißig! Wenn es unsere Aufgabe wäre, die Gesellschaft zu klassifizieren, so würden wir eine gewisse besondere Art von Leuten sogleich unter den Titel: »Alte Knaben« bringen; und sie würden eine beträchtliche, lange Spalte erfordern. Welcher Ursache das rasche Zunehmen der Alte-Knaben-Bevölkerung zuzuschreiben ist, dies vermögen wir nicht zu sagen. Eine Nachforschung darüber dürfte zu interessanten und merkwürdigen Ergebnissen führen; allein wir haben hier den Raum nicht, sie anzustellen, und begnügen uns daher mit einfacher Angabe der Tatsache, daß sich die Zahl der alten Knaben seit den letzten Jahren allmählich vergrößert hat und in diesem Augenblicke in einem beunruhigenden Maße zunimmt.

Die Sache nur im allgemeinen genommen, möchten wir die alten Knaben in zwei genau unterschiedenen Abteilungen unterbringen – die der munteren und die der gesetzten alten Knaben. Jene sind hanswurstige alte und spielen die jungen Männer, frequentieren bei Tage den Quadranten und Regent-Street und abends die Theater (besonders die unter Damenleitung stehenden) und nehmen die ganze Geckenhaftigkeit und Leichtfertigkeit der jungen Leute an, ohne die Entschuldigung der Jugend und Unerfahrenheit für sich zu haben. Diese, die gesetzten alten Knaben, sind dicke alte Herren, tragen sich reinlich, besuchen jeden Abend zu denselben Stunden dieselben Gasthäuser und rauchen und trinken in derselben Gesellschaft.

Man fand einst alle Abende zwischen halb neun und halb zwölf Uhr eine schöne Sammlung alter Knaben an dem runden Tische in Offleys Restauration. Wir haben sie seit einiger Zeit aus den Augen verloren, aber im »Regenbogen« in der Fleetstraße sieht man noch zwei köstliche Exemplare in voller Blüte, die unabänderlich in dem Verschlag zunächst dem Kamin sitzen und aus so langen Kirschrohren rauchen, daß die Pfeifenköpfe auf dem Boden ruhen. Sie sind stolze, alte Knaben – wohlbeleibt, rotwangig, weißköpfig – fehlen niemals – nehmen stets ihre bestimmten Plätze einander gegenüber ein – schmauchen und trinken tapfer darauflos, ohne das mindeste Unbehagen deswegen zu empfinden – jedermann kennt sie, und von einigen werden sie für unsterblich gehalten.

Mr. John Dounce war ein alter Knabe der letzteren Klasse (der der gesetzten – nicht daß er unsterblich gewesen wäre), ein Handschuhmacher, der sich vom Geschäft zurückgezogen hatte, Witwer mit drei erwachsenen und unverheirateten Töchtern, und wohnte in Cursitor-Street, Chancery-Lane. Er war kurz und dick, hatte ein Vollmondgesicht und einen Bauch, trug einen breitrandigen Hut und einen karierten Rock, und hatte den, alten Knaben überhaupt eigentümlichen, bedächtigen, selbstzufriedenen, wiegenden Gang. Er lebte regelmäßig wie ein Uhrwerk – Frühstück um neun Uhr – Ankleiden und ein wenig Toilette machen – Gang in irgend jemands Kopf (Mohren-, Adler- oder Löwenkopf) – Glas Ale und die Zeitung – Spaziergang mit den Töchtern – Mittagessen um drei Uhr – Glas Grog und Pfeife – Schläfchen – Tee – kleiner Spaziergang – abermaliger Kopfbesuch – vortreffliches Haus! – köstliche Abende und wundervolle Gesellschaft, als: Mr. Harris, der Buchhändler, und Mr. Jennings, der Robenmacher (zwei fidele junge Kerlchen wie er selbst), und Jones, der Advokatenschreiber – ein schnurriger Kauz, der Jones – prachtvoller Gesellschafter – steckt ganz voll von Anekdoten. Und da saßen sie jeden Abend bis genau zehn Minuten vor zwölf Uhr, tranken ihren Branntwein mit Wasser, rauchten ihre Pfeifen, erzählten einander Geschichten und genossen einander mit einer Art absonderlich erbaulicher, feierlicher Vergnüglichkeit.

Bisweilen schlug Jonas einen Halbpreisbesuch in Drury-Lane oder Covent-Garden vor, zwei Akte eines fünfaktigen Schauspiels und eine neue Posse oder ein Ballett zu sehen, und dann gingen alle vier miteinander – ohne sich wie Toren zu übereilen; denn sie tranken erst mit gemächlicher Würde ihre Gläser aus, bestellten Steak und einige Austern auf nachher und begaben sich sodann langsam-feierlich in das Parterre, nachdem sich der Andrang verlaufen hatte, wie es alle vernünftigen Leute tun und auch taten, als Mr. Dounce noch ein junger Mann war, ausgenommen damals, als der berühmte Wunderknabe Mr. Betty auf dem Höhepunkte seiner Popularität stand, wo sich Mr. Dounce, wie er sich auf das genaueste erinnerte, einen freien Tag machte, um elf Uhr vormittags an die Tür des Schauspielhauses ging, mit ein paar Sandwiches in einem Taschentuche und ein paar Tropfen Wein in einem Fläschchen bis sechs Uhr abends wartete und vor Hitze und Ermüdung ohnmächtig wurde, ehe das Schauspiel seinen Anfang nahm, bis er in diesem Zustande aus dem Parterre in eine Loge des ersten Ranges gehoben wurde, mein Bester, und zwar von fünf der berühmtesten Schönheiten jener Zeit, mein Bester, die sich seiner so huldreich annahmen, ihn durch Riechsalze zur Besinnung zurückbrachten und am folgenden Morgen einen sechs Fuß hohen, schwarzen Diener in blau und silberner Livree schickten und ihn grüßen und sich nach seinem Befinden erkundigen ließen, Verehrtester – bei Gott! In den Zwischenakten pflegten die Herren Dounce, Harris und Jennings aufzustehen und im Hause umherzuschauen, und Jones – das Allerweltskerlchen kannte jedermann – zeigte dann den andern die vornehme und berühmte Lady Soundso in der Loge, worauf Mr. Dounce durch sein Haar fuhr, sein Halstuch zurechtzupfte, besagte Lady Soundso durch ein ungeheures Glas beäugelte und bemerkte, daß sie »eine schöne – in der Tat eine sehr schöne Frau sei« – oder »daß sie etwas voller sein könnte«, oder was ihm sein Genius sonst eben eingab. Wenn das Ballett begann, so zeigten sich John Dounce und die anderen alten Knaben ganz ausnehmend begierig, zu sehen, was auf der Bühne vorging, und Jones – ein witziger Bursche, der Jones – flüsterte John Dounce kleine, kritische Bemerkungen ins Ohr, die John Dounce wieder den andern beiden alten Knaben mitteilte, und dann lachten sie alle vier, daß ihnen die Tränen über die Wangen herunterliefen.

War der Vorhang gefallen, so gingen sie miteinander je zwei und zwei zu ihrem Steak und ihren Austern zurück; und wenn sie sich ihr zweites Glas Branntwein mit Wasser bringen ließen, dann erzählte Jones – der in schelmischem Aufziehen seinesgleichen suchte –, wie er eine Dame mit weißen Federn in einer Parterreloge bemerkt, die den ganzen Abend kein Auge von Mr. Dounce abgewendet, und wie er Mr. Dounce in einem Moment, wo er sich unbeachtet gewähnt hätte, der Dame hinwiederum leidenschaftliche Blicke habe zuwerfen sehen. Darüber lachten Mr. Harris und Mr. Jennings ausgelassen, und John Dounce schlug ein noch ausgelasseneres Gelächter auf, erklärte dabei jedoch, daß es freilich eine Zeit gegeben habe, wo er dergleichen wohl getan haben könnte; worauf ihn Jones in die Rippen stieß und ihm sagte, er werde es seinerzeit arg genug getrieben haben, was John Douncce kichernd zugestand. Und nachdem Mr. Harris und Mr. Jennings ebenfalls ihre Ansprüche, es zu ihrer Zeit arg genug getrieben zu haben, geltend gemacht hatten, sagten alle vier einander sehr einträchtig gute Nacht und gingen nach Hause.

Die Schicksalsbeschlüsse und die Wege, auf denen sie herbeigeführt werden, sind geheimnisvoll und unerforschlich. John Dounce hatte dieses Leben länger als zwanzig Jahre geführt, ohne sich nach Veränderung zu sehnen oder an Abwechslung zu denken, als sein ganzes soziales System plötzlich erschüttert und vollkommen über den Haufen geworfen wurde – nicht durch ein Erdbeben oder ein anderes schreckliches Naturereignis, wie der Leser vielleicht zu glauben geneigt sein möchte, sondern durch die einfache Wirkung einer Auster, womit es folgendermaßen zuging.

Mr. John Dounce begab sich, eines Abends aus dem Sir Jemandskopfe nach Hause – nicht betrunken, aber etwas aufgeregt; denn er und die andern alten Knaben hatten Mr. Jennings Geburtstag gefeiert, ein paar Rebhühner und ein paar Extragläser gehabt, und Jones war ungewöhnlich unterhaltend gewesen – als die Blicke John Dounces auf einen neueröffneten, großartigen Austernladen fielen, hinter dessen Fenstern die leckersten Austern in runden Marmorbecken und kleine Austerntönnchen mit Adressen an Lords und Baronets und Obersten und Kapitäne in aller Herren Länder zu schauen waren.

Hinter den Austern im Laden war eine junge Dame von etwa fünfundzwanzig Jahren, ganz in Blau und ganz allein, zu schauen – ein himmlisches Mädchen – welch ein liebliches Gesicht – welch ein bezaubernder Wuchs! Es ist schwer zu sagen, ob Mr. John Dounces rotes, durch das flackernde Gaslicht in dem Ladenfenster erleuchtetes Gesicht die Lachlust der Dame erregte, oder ob eben ihre Lebhaftigkeit zu groß war, um ihr zu erlauben, die gemessene Haltung zu behaupten, die durch die gesellschaftlichen Formen etwas diktatorisch vorgeschrieben werden: Gewiß ist aber, daß die Dame lächelte, die Hand vor den Mund legte, indem sie sich plötzlich bedachte, was sie sich selbst schuldig sei, und sich endlich mit austernartiger Verschämtheit so weit als möglich hinter den Ladentisch zurückzog. Seine alte Art, wonach er es seinerzeit arg genug getrieben hatte, regte sich in John Dounce mächtiger; er zögerte – die blaue Dame machte kein Zeichen; er hustete – allein sie näherte sich nicht. Er ging also hinein.

»Können Sie mir wohl eine Auster öffnen, meine Beste?« sagte Mr. John Dounce.

»Gewiß, Sir«, erwiderte die blaue Dame mit entzückender Scherzhaftigkeit. Und Mr. John Dounce speiste eine Auster, blickte darauf die junge Dame an, aß sodann noch eine Auster, und drückte ferner der jungen Dame die Hand, als sie die dritte öffnete, und so fort, bis er im Umsehen ein Dutzend von denen zu acht Pence genossen hatte.

»Können Sie mir nicht noch ein halbes Dutzend öffnen, meine Beste?« fragte Mr. John Dounce.

»Ich will sehen, was ich für Sie tun kann, Sir«, antwortete die blaue junge Dame sogar noch bezaubernder als vorhin; und Mr. John Dounce aß noch ein halbes Dutzend von denen zu acht Pence und fühlte, daß seine Galanterie mit jeder Minute zunahm.

»Sie würden mir wohl nicht ein Glas Branntwein mit Wasser besorgen können?« sagte er, als er mit den Austern fertig war, in einem Tone, der sein Vertrauen, daß sie es könne, deutlich anzeigte.

»Ich will sehen, Sir«, sagte die junge Dame und sprang aus dem Laden hinaus, lief die Straße hinunter, ihre langen braunen Locken flogen dabei im Winde auf die bezauberndste Weise um ihren Kopf herum, sie kehrte zurück und hüpfte mit einem großen Glase Branntwein-Grog gleich einem Kreisel über die Kohlenluken hinüber. Mr. John Dounce bestand nunmehr darauf, daß sie ihren Anteil von dem Getränke mitgenießen müßte, denn es sei echter Damengrog – heiß, stark und süß in Fülle.

Die junge Dame setzte sich zu Mr. John Dounce in einen kleinen roten Verschlag mit einem grünen Vorhang, schlürfte ein wenig Grog und warf John Dounce einige Blicke zu, wendete darauf das Gesicht ab und ließ verschiedene andere kleine pantomimische Bezauberungen folgen, die Mr. John Dounce stark an die erste Zeit seiner Bewerbung um seine erste Frau erinnerten und im Verein mit dem heißen Grog und den Austern eine zärtlichere Glut in ihm entzündeten, als er sie jemals empfunden hatte. Angetrieben von dieser Glut, forschte er die junge Dame über ihre Herzensverbindungen aus, und die junge Dame stellte es gänzlich in Abrede, dergleichen zu haben – denn sie könne die Männer ganz und gar nicht leiden, da diese so wankelmütig und treulos seien. Mr. John Dounce fragte darauf, ob sie diese Verurteilung auf andere als sehr junge Herren bezogen wissen wollte; die junge Dame wurde purpurrot – oder wendete doch zum wenigsten das Gesicht ab, sagte, daß Mr. John Dounce sie erröten machte, und errötete also – Mr. John Dounce trank lange seinen Branntwein mit Wasser, die junge Dame sagte sehr oft: »O, lassen Sie das«, und John Dounce ging endlich nach Hause und zu Bett, und träumte von seiner ersten und seiner zweiten Frau, von der jungen Dame, Rebhühnern, Austern, Grog und uneigennütziger Liebe.

Am folgenden Morgen war er von dem Extrabranntwein mit Wasser vom vorhergehenden Abend etwas fiebrig und begab sich teils in der Hoffnung, sich durch eine Auster abzukühlen, und teils in der Absicht, zu fragen, ob er der jungen Dame nicht vielleicht etwas schuldig geblieben sei, wiederum nach dem Austernladen. War die junge Dame bei Abend schön gewesen, so war sie bei Tag vollkommen unwiderstehlich, und John Dounce war fortan wie umgewandelt. Er kaufte Busennadeln, steckte einen Ring an den dritten Finger, las Gedichte, verleitete einen wohlfeinen Miniaturmaler dazu, eine schwache Ähnlichkeit mit einem jugendlichen Antlitz zustande zu bringen, mit einem Vorhang zu Häupten, einigen sehr großen Büchern zur Seite und einer Landschaft im Hintergrund (was er sein Porträt nannte), fing an, ein Polterer im Hause zu werden, so daß seine Töchter aus dem Hause gingen, und benahm sich mit einem Wort wie ein alter Türke.

Und was seine Busenfreunde und die anderen alten Knaben im Sir Jemandskopf anbetraf, so zog er sich allmählich von ihnen ganz zurück; denn wenn er sich in ihrem Kreise bisweilen noch blicken ließ, so fragte Jones – ein gemeiner Mensch, der Jones – »wann es sein würde?« und »ob er Hochzeitshandschuhe bekäme?« und was dergleichen verletzender Fragen mehr waren, die von Harris und Jennings obendrein belacht wurden. Er zog sich also, wie gesagt, gänzlich von ihnen zurück und attachierte sich ganz allein an die blaue junge Dame in dem stattlichen Austernladen.

Jetzt kommt aber die Moral der Geschichte – denn sie hat allerdings eine Moral. Nachdem die junge Dame nämlich hinreichenden Nutzen von Mr. John Dounces Annäherung gezogen hatte, erwiderte sie seinen endlichen, förmlichen Antrag nicht nur durch ein bestimmtes Nein, sondern erklärte ganz ausdrücklich (um uns ihrer eigenen, sehr verständlichen Worte zu bedienen), sie möchte um keinen Preis einen alten Geck zum Manne haben. John Dounce, der seine alten Freunde verloren, seine Angehörigen sich entfremdet und sich in aller Welt Augen lächerlich gemacht hatte, machte nach der Reihe einer Schulhalterin, einer Wirtin, einer Tabakshändlerin und einer Haushälterin Heiratsanträge, die sämtlich zurückgewiesen wurden, und fand schließlich Gehör bei seiner Köchin, die er jetzt geehelicht und die ihn unter dem Pantoffel hat – ein trauriges Denkmal altgewordenen Jammers und eine lebendige Warnung für alle heiratslustigen alten Knaben.

Die ehrgeizige Putzmacherin

Miss Emilie Martin war blaß, groß, hager und zweiunddreißig – was mißgünstige Leute häßlich und Polizeiberichte interessant nennen würden. Sie war Putz- und Kleidermacherin, lebte von ihrem Geschäft und hielt sich nicht zu vornehm dafür. Wärst du ein junges Frauenzimmer »bei Herrschaften« oder »in Kondition« gewesen und hättest Miss Martins bedurft, wie denn viele junge Damen in Kondition ihrer bedurften, so würdest du dich etwa abends nach Drummond-Street Nummer siebenundvierzig, George-Street, Euston Square begeben, ein gewaltiges Messingschild mit der Inschrift: »Putz- und Kleidermachergeschäft in allen seinen Zweigen bei Miss Martin« erblickt und mit zwei lauten Schlägen an die Haustür geklopft haben, worauf denn Miss Martin selbst in einem Merinokleid nach der neuesten Mode, mit Ärmelaufschlägen aus feinstem, schwarzem Samt und anderen kleinen Putzsachen der elegantesten Art erschienen sein würde.

Wenn Miss Martin die bei ihr erscheinende junge Dame in Kondition kannte, oder wenn ihr die junge Dame von einer anderen ihr bekannten jungen Dame empfohlen war, so führte sie diese sogleich in ihr Putzzimmer hinauf, plauderte so liebenswürdig und zutraulich, als wenn die junge Dame eine alte, gute Freundin, nicht aber in Geschäften zu ihr gekommen wäre, nahm sodann die Figur und den ganzen Wuchs der jungen Dame in Augenschein, bewunderte sie nicht wenig, und sagte ihr, wie gut ihr ohne allen Zweifel ein unten sehr weites und volles Kleid mit kurzen Ärmeln und angemessenen Falten stehen würde; worauf die junge Dame in Kondition ihre vollkommene Beistimmung zu erkennen gab und sich daneben entrüstet über die Tyrannei ihrer »Missis« aussprach, die keinem jungen Mädchen nachmittags kurze Ärmel und überhaupt nichts Schickes und Modisches – nicht einmal Ohrringe zu tragen erlauben wollte, von den abscheulichen Hauben zu schweigen, worin man sein Haar verstecken müßte.

Nachdem Miss Martin die Litanei angehört hatte, ließ sie gewisse entfernte Andeutungen fallen, wie es Leute gebe, die ihrer Töchter wegen eifersüchtig quälen und die Reize ihrer konditionierenden Hausgenossinnen in den Schatten zurückdrängen müßten, aus Furcht, daß die letzteren sich eher verheirateten, was gar nicht ungewöhnlich sei – zum wenigsten habe sie zwei oder drei junge Damen bei Herrschaften gekannt, die bedeutend besser geheiratet hätten als ihre Herrinnen und noch nicht einmal sehr hübsch gewesen seien; worauf die junge Dame wieder Miss Martin im Vertrauen mitteilte, daß eine ihrer jungen Herrinnen mit einem jungen Manne versprochen und so stolz darauf sei, daß man kaum noch mit ihr auskommen könne, aber gar keine Ursache habe, die Nase deshalb so hoch zu tragen, denn der Bräutigam sei doch weiter nichts als ein Schreiber. Miss Martin und die junge Dame in Kondition drückten sodann ihre Verachtung der Schreiber im allgemeinen und des verlobten Schreibers im besonderen und die bestmögliche Meinung über sich selbst aus, sagten einander auf eine freundschaftliche, aber ganz und gar vornehme Weise gute Nacht, und kehrten, die eine nach ihrem »Orte« und die andere in ihr Geschäftszimmer zurück.

Man weiß nicht, wie lange Miss Emilie Martin ihr Leben so fortgeführt hat, welch eine ausgedehnte Kundschaft sie unter den jungen Damen in Kondition erlangt oder welche Höhe ihre Abzüge von ihrem Lohn am Ende erreicht hätten, wenn nicht unvorhergesehene Ereignisse ihre Gedanken und ihre Tätigkeit vom Putz- und Kleidermachen gänzlich abgelenkt hätten.

Eine ihrer Freundinnen nämlich, die lange mit einem Maler- und Tapezierergehilfen verlobt gewesen war, gab endlich den flehentlichen Bitten ihres Bräutigams nach, den Tag zu bestimmen, der besagten Gehilfen zu einem glücklichen Gatten machen sollte. Sie bestimmte einen Montag dazu, und auch Miss Emilie Martin ward eingeladen, den Hochzeitsschmaus durch ihre Gegenwart zu verschönen. Es war eine reizende Gesellschaft, Somerstown der Ort und ein Wohngemach im Erdgeschoß das Zimmer. Der Maler- und Tapezierergehilfe hatte ein Haus gemietet – nicht etwa eine Etage oder dergleichen Gwöhnlichkeiten, sondern ein Haus – vier schöne Zimmer und eine allerliebste kleine Küche am Ende des Flures – die bequemste Sache von der Welt; denn die Brautjungfern konnten im Gesellschaftszimmer sein und die Gesellschaft empfangen, dann in die kleine Küche laufen und nach dem Pudding und Schweineschinken sehen und im Nu wieder hineinhuschen und mit den Gästen plaudern. Und welch ein Zimmer! Der schönste Kidderminsterteppich – sechs nagelneue, gebeizte Rohrstühle – ein halbes Dutzend große und kleine Gläser auf jedem Schenktisch in den beiden Ecken – ein Bauernmädchen und ein Bauernknabe auf dem Kaminsims – lange weiße Dimityfenstervorhänge – und kurzum alles und jedes so nobel, wie man es sich nur denken kann.

Und dann das Diner: oben und unten eine gekochte Hammelkeule – in der Mitte ein paar Hühner und der Schinken – an den Ecken Porterkrüge – nicht weit davon Pfeffer, Senf und Weinessig – und zu dem allen noch (zum Teil auf dem Fußboden, weil der Tisch so klein) zweierlei Gemüse, Plumpudding, Äpfelpastete, kleine Torten ohne Zahl, Käse, Sellerie, Wasserkresse und was weiter dazu gehört. Was die Gesellschaft anbelangt, so erklärte Miss Emilie Martin selbst bei einer späteren Gelegenheit, daß sie sich die Verwandtschaft des Maler- und Tapezierergehilfen, nach dem zu urteilen, was sie früher davon gehört habe, nicht halb so vornehm gedacht hätte. Sein Vater – welch ein spaßhafter alter Herr! Seine Mutter – welch eine liebe alte Dame! Seine Schwester – welch ein bezauberndes Mädchen! Sein Bruder – welch ein männlich aussehender junger Mann und was er für ein Auge hatte! Allein, die ganze Familie war noch immer nichts im Vergleich mit seinen musikalischen Freunden, Mr. und Mrs. Jennings Rodolph von White Conduit, mit denen der Maler- und Tapezierergehilfe glücklich genug gewesen war, genau bekannt zu werden, indem er beim Dekorieren des dortigen Konzertsaales Beistand geleistet hatte.

Es war himmlisch, ihre Solos zu hören; aber wenn sie das tragische Duett: »Blutiger Mordgesell, hinweg!« miteinander sangen, so war man, wie Miss Emilie Martin hinterher bemerkte, »ganz weg«. Und warum (wie Mr. Jennings Rodolph bemerkte), warum waren sie bei keinem der öffentlichen Theater engagiert? Wenn man ihm sagte, ihre Stimmen seien nicht stark genug, das Haus zu füllen, so war seine einzige Antwort, er wolle jede Wette eingehen, daß er den Russel-Square fülle – womit sich die Gesellschaft, nachdem sie das Duett gehört hatte, vollkommen einverstanden erklärte, und worauf alle sagten, es sei eine schmachvolle Behandlung und Mr. Rodolph eine sehr ernste Miene annahm und fallenließ, daß er sehr wohl wisse, wer seine neidischen Widersacher seien, daß sie sich aber in acht nehmen möchten, wie weit sie gingen; denn wenn sie ihn zu schwer reizten, so habe er den Entschluß noch nicht geradezu aufgegeben, die Sache vor das Parlament zu bringen. Die ganze Gesellschaft kam hiernach darin überein, »daß ihnen vollkommen Recht geschehen und daß es sehr angemessen wäre, wenn an solchen Leuten einmal ein Exempel statuiert würde«. Mr. Jennings Rodolph sagte daher, er wolle es in Überlegung ziehen.

Als die Unterhaltung ihren früheren Ton wieder angenommen hatte, ersuchte Mr. Jennings Rodolph Miss Emilie Martin, die Gesellschaft zu erfreuen – die Gesellschaft vereinigte ihre Bitten mit den seinigen –, und Miss Emilie Martin hustete unschlüssig und zögernd, räusperte sich, erklärte, daß sie vor Angst halb tot sei, weil sie sich vor so großen Kunstrichtern hören lassen solle, und machte endlich den Anfang mit einer Art hellem Gezirpe, das beständig Anspielungen auf einen jungen Gentleman, namens Hen – e – ry, nebst einem jeweiligen Hinblick auf Wahnsinn und beschädigte Herzen enthielt. Mr. Jennings Rodolph unterbrach es durch häufige Ausrufe: »Schön – bezaubernd – herrlich – o köstlich!« usw., und nach deren Schlusse kannte seine und seiner Gattin Bewunderung keine Grenzen.

»Hast du jemals eine so liebliche Stimme gehört?« fragte Mr. Jennings Rodolph Mrs. Jennings Rodolph.

»Nein, in meinem ganzen Leben nicht«, erwiderte sie.

»Glaubst du nicht, daß Miss Martin bei ein wenig Ausbildung der Signora Maljebran sehr ähnlich sein würde?«

»Das habe ich gerade auch gedacht, lieber Mann«, versetzte Mrs. Jennings Rodolph.

Und so vertrieb man sich die Zeit. Die meisten sangen, einer nach dem anderen. Mr. Jennings Rodolph spielte Melodien auf einem Spazierstocke, trat darauf hinter die Tür und gab seine berühmten Nachahmungen von Schauspielern, Tieren, Sägen und anderen Schneideinstrumenten zum besten; Miss Martin sang noch mehrere Arien, jede unter immer größerer Bewunderung, und sogar der spaßhafte alte Herr fing an zu singen. Sein Lied hatte eigentlich sieben Strophen; allein, da er sich nur der ersten entsinnen konnte, so wiederholte er sie siebenmal, augenscheinlich zu seiner eigenen vollkommenen Befriedigung. Sodann stimmte die ganze Gesellschaft das Nationallied mit britischem Unabhängigkeitssinne an – indem alle für sich und ohne Rücksicht auf die anderen sangen –, und endlich brach die Gesellschaft auf, erklärte Mann für Mann, daß sie nie einen so angenehmen Abend erlebt hätte, und Miss Martin beschloß in ihrem Innern, den Rat Mr. Jennings Rodolphs zu befolgen, nämlich sich ohne Aufschub als Sängerin »aufzutun«.

Das »Sichauftun« als Schauspielerin oder Sängerin, oder in der Gesellschaft, oder als Parlamentsredner, oder als Witzbold oder was sonst, ist nun freilich eine sehr schöne Sache, und besonders angenehm für die Person, die es zunächst betrifft, wenn sie es möglich machen kann, sich »mit Glanz aufzutun«, und wenn es geschehen ist, den Glanz zu behaupten, statt mit Schimpf wieder heimgesendet zu werden; allein dieses alles ist unglücklicherweise äußerst schwierig; und diese Entdeckung sollte Miss Emilie Martin sehr bald machen. Es ist merkwürdig – da der Fall ein paar Damen betrifft –, aber tatsächlich, daß Miss Emilie Martins Hauptschwäche Eitelkeit und Mrs. Jennings Rodolphs vornehmster Charakterzug eine Vorliebe für Putz war. Man hörte aus dem zweiten Stockwerk in Drummond-Street Nummer siebenundvierzig, George-Street, Euston-Square, trübseliges Gequieke: Miss Martin übte. Beim Anfang der Season störte halb unterdrücktes Gemurmel die ruhige Würde des Orchesters in White-Conduit; Mrs. Jennings Rodolphs Erscheinung in großer Gala veranlaßte die Störung. Miss Emilie Martin dachte nur an ihr »Auftun« – das Üben war die Folge; Mrs. Jennings Rodolph erteilte ihr bisweilen unentgeltlichen Unterricht – die zur großen Gala gehörigen Putzartikel waren das Ergebnis.

Wochen vergingen; die Season in White-Conduit war zur Hälfte vorüber. Die Putzmacherei war vernachlässigt, das Geschäft in Verfall geraten, sein Nutzen fast unmerklich zusammengeschmolzen. Ein Benefizabend rückte heran, Mrs. Jennings Rodolph gab den dringenden Bitten Miss Emilie Martins nach und stellte sie dem komischen Sänger vor, dessen Benefiz stattfinden sollte. Der komische Sänger war lauter Lächeln und Holdseligkeit – er hatte ein Duett ausdrücklich für den Abend komponiert, und Miss Martin sollte es mit ihm singen. Der Abend kam – und mit ihm erschienen siebenundneunzig große Glas Gin mit Wasser, zweiunddreißig kleine Glas Branntwein mit Wasser, fünfundzwanzig Flaschen Ale und einundvierzig Glühweine; und an einem Seitentisch nicht weit vom Orchester saßen der Maler- und Tapezierergehilfe nebst Frau und einer Anzahl auserwählter Freunde und Freundinnen. Das Konzert nahm seinen Anfang. Sentimentale Arie, gesungen von einem blonden jungen Herrn in einem blauen Leibrock mit Metallknöpfen. (Beifall.) Noch eine Arie, zweifelhafter Natur, gesungen von einem anderen Herrn in einem anderen blauen Leibrock mit noch glänzenderen Knöpfen. (Verstärkter Beifall.) Duett, gesungen von Mr. und Mrs. Jennings Rodolph: »Blutiger Mordgesell, hinweg!« (Großer Beifall.) Solo, Miss Julia Montague (bestimmt nur an diesem Abende): »Ich bin ein Mönch.« (Enthusiasmus.) Komisches Originalduett – Mr. H. Taplin (der komische Sänger) und Miss Martin: »Die Tageszeit.«

»Bravo, bravo – o – o – o!« schrie des Maler- und Tapezierergehilfen Gesellschaft, als Miss Martin vom komischen Sänger mit Grazie vorgeführt würde. »Ins Geschirr, Harry!« riefen die Freunde des komischen Sängers. Der Kapellmeister schlug mit dem Bogen auf das Notenpult. Die Einleitung begann, und bald folgte ihr eine Art von bauchrednerischem Zirpen, das aus Miss Martins tiefstem Innern hervorzutönen schien. »Lauter!« rief ein Gentleman in einem grauen Überrocke; »Fürcht dich nicht, den Dampf loszulassen, altes Mädchen!« ein anderer; »S-s-s-s-s-s!« zischten die fünfundzwanzig Flaschen Ale; »Pfui!« entgegnete die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen; »S-s-s-s-s!« zischten die Flaschen Ale abermals, und sämtliche Gins und die meisten Branntweine sekundierten ihr.

»Hinaus mit den Gänseköpfen!« rief die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen in großer Entrüstung.

»Singen Sie laut«, flüsterte Mrs. Jennings Rodolph.

»Das tu‘ ich ja«, erwiderte Miss Emilie Martin.

»Singen Sie noch lauter«, sagte Mr. Jennings Rodolph.

»Das kann ich nicht«, sagte Miss Emilie Martin.

»Hinaus, hinaus, hinaus!« lärmte der größte Teil des Publikums; »Bravo, bravo!« schrie die Gesellschaft des Maler- und Tapezierergehilfen – aber es half nichts. Miss Emilie Martin zog sich weit unzeremoniöser zurück, als sie erschienen war, und es wollte schlechterdings mit dem »Auftun« nicht gehen. Die gute Laune des Publikums kehrte erst wieder, als Mr. Jennings Rodolph purpurn im Gesicht durch seine halbstündigen Bemühungen geworden war, verschiedene Vierfüßler nachzuahmen, ohne sich hörbar machen zu können; und bis auf diesen Tag ist weder Miss Emilie Martins gute Laune noch die vormalige Blüte ihres Geschäfts zurückgekehrt, noch haben sich die musikalischen Anlagen zeigen wollen, für deren Dasein Mr. Jennings Rodolph einst seine Künstlerehre zum Pfande setzte.

Die Tanzakademie

Von allen jemals etablierten Tanzakademien war keine in ihrem Stadtteil zu irgendeiner Zeit beliebter als die Signor Billsmethis vom Königstheater, der italienischen Oper. Sie befand sich unweit der volkreichen und aufblühenden Gegend von Grays-Inn-Lane und gehörte keineswegs zu den teueren Tanzakademien – denn, alles gerechnet, sind vier Schillinge und sechs Pence für das Vierteljahr wirklich billig genug. Sie war sehr exklusiv – die Zahl der Zöglinge war streng auf fünfundsiebzig beschränkt, und vierteljährliche Bezahlung im voraus wurde unbedingt gefordert. Es fand in ihr öffentliche und Privatunterweisung statt – sie hatte ein Assemblee- und ein Privatzimmer. Signor Billsmethis Familie wurde stets dem letzteren zu- und beim Privatzimmerpreis in den Kauf gegeben; das will sagen, die Privatschüler tanzten in Signor Billsmethis Wohnzimmer und mit Signor Billsmethis Familie; und waren sie in jenem hinlänglich zugestutzt, so traten sie paarweise in den Assembleesaal ein.

So war die Einrichtung der Tanzakademie Signor Billsmethis beschaffen, als Mr. Augustus Cooper aus der Fettergasse von Holbornhill eine ungestempelte Ankündigung langsamen Schrittes daherkommen sah, die männiglich kund und zu wissen tat, daß Signor Billsmethi vom Königstheater beabsichtige, die Saison mit einem großen Ball zu eröffnen.

Mr. Augustus Cooper war Öl- und Farbenhändler, gerade volljährig geworden, und hatte ein wenig Geld, ein kleines Geschäft und eine kleine Mutter, die ihren Ehegatten und dessen Geschäft bei Lebzeiten des Seligen in Ordnung gehalten, und es sich nach seinem Tode nicht nehmen ließ, ihren Sohn und dessen Geschäft zu leiten. So wurde er fortwährend die sechs Wochentage in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden und sonntags in einem kleinen tannenen Kasten ohne Deckel (höflicherweise ein Kirchenstuhl genannt) in der Bethelkapelle eingesperrt gehalten und hatte nicht mehr von der Welt gesehen, als wenn er sein Leben lang ein kleines Kind gewesen und geblieben wäre; wohingegen der junge White, der drei Jahre jüngere Ladendiener gegenüber, längst alles mitmachte, überall glänzte, ins Theater ging, in »harmonischen Gesellschaften« soupierte, ganze Fässer voll Austern aß und ganze Gallonen Doppelbier trank – und sogar ganze Nächte durchschwärmte und morgens so sans façon nach Hause kam, als ob es gar nichts gewesen wäre. Mr. Augustus Cooper setzte daher seinen Sinn darauf, daß er sich’s nicht mehr gefallen lassen wollte, und hatte gerade an diesem Morgen seiner Mutter sehr bestimmt angekündigt, daß er nicht Augustus heißen wolle, wenn er nicht sofort mit einem Hausschlüssel versehen würde. Und als er Holbornhill hinunterschritt und ihm das alles im Kopfe herumging und er darüber nachsann, wie er sich Zutritt zur feinen Gesellschaft verschaffen könne, begegnete seinen Blicken Signor Billsmethis wandelnde Ankündigung, und sogleich erkannte er darin, was er suchte. Die Tanzakademie setzte ihn in den Stand, sich für vier Schillinge und sechs Pence vierteljährlich aus der Zahl von fünfundsiebzig Zöglingen einen auserlesenen Zirkel vornehmer Bekannter zu bilden und zugleich zu seiner und seiner Freunde Bewunderung in Privatgesellschaften einen Hornpipe zu tanzen.

Er brachte demgemäß die ungestempelte Ankündigung – ein lebendiges, aus einem Knaben zwischen zwei Brettern bestehendes Fleisch-Butterbrot – zum Stehen, erbat sich und erhielt von ihr eine sehr kleine Karte mit des Signors Adresse und begab sich stehenden und eilenden Fußes nach des Signors Wohnung – denn wie leicht hätte die Liste der fünfundsiebzig geschlossen sein können, ehe er anlangte. Der Signor war zu Hause, und, was noch erfreulicher war, ein Engländer! Und ein so charmanter, so feiner, höflicher Mann – zumal gegen einen ihm völlig Unbekannten! Mr. Augustus Cooper war außer sich vor Vergnügen. Die Liste war noch nicht geschlossen, aber höchst wunderbarerweise fehlte nur noch eine einzige Unterschrift, die auch nicht mehr gefehlt haben würde, wenn nicht Signor Billsmethi an demselben Morgen eine junge Dame zurückgewiesen hätte, die ihm nicht erlesen genug geschienen.

»Und ich bin äußerst erfreut, Mr. Cooper«, sagte Signor Billsmethi, »daß ich sie nicht zugelassen habe. Ich versichere Sie, Mr. Cooper – und sage dies nicht, um Ihnen zu schmeicheln, denn ich weiß, daß Sie über dergleichen erhaben sind –, daß ich mich unendlich glücklich schätze, einen Gentleman von Ihrem Wesen und Ihren Manieren gewonnen zu haben.«

»Ich freue mich gleichfalls sehr darüber, Sir«, entgegnete Augustus Cooper.

»Und ich hoffe, wir werden noch besser miteinander bekanntwerden, Sir«, sagte Signor Billsmethi.

»Das hoffe ich wahrlich auch, Sir«, erwiderte Augustus Cooper; und als er so sprach, tat sich die Tür auf und hüpfte eine junge Dame mit einer ganzen Wolke von Locken um den Kopf und mit Schuhen herein, die sandalenartig durch rosarote Bänder befestigt waren.

»Lauf doch nicht fort, liebes Kind«, rief Signor Billsmethi; denn die junge Dame hatte, als sie hereinhüpfte, nicht gewußt, daß ein fremder Herr im Zimmer war, und wollte, ganz verschämt und verwirrt, sogleich wieder hinaushüpfen. »Lauf doch nicht fort, liebes Kind – der Herr ist Mr. Cooper – Mr. Cooper aus der Fettergasse. Mr. Cooper, meine Tochter – Miss Billsmethi, Sir, die, wie ich hoffe, noch viele Quadrillen, Menuetts, Reels, Franchisen, Gavotten, Fandangos, Doppel- Hornpipes und Farinagholkajingos mit Ihnen tanzen wird. Sie tanzt alle diese Tänze, Sir, und Sie sollen’s gleichfalls, Sir, ehe Sie ein Vierteljahr älter geworden sind.«

Und bei diesen Worten klopfte Signor Billsmethi Mr. Augustus Cooper so vertraulich auf die Schulter, als wenn er ihn jahrelang gekannt hätte; und Mr. Cooper verbeugte sich vor der jungen Dame, und die junge Dame knickste vor ihm, und Signor Billsmethi sagte, sie machten ein so allerliebstes Paar, als man sich eines zu sehen nur wünschen könnte, worauf die junge Dame ausrief: »O Himmel, Papa!« und so rot wurde, wie Mr. Cooper selbst, so daß beide aussahen, als ständen sie im Schein einer feuerroten Lampe in einem Apothekerladen. Bevor Mr. Cooper sich empfahl, wurde verabredet, daß er an demselben Abend im Kreise der Familie erscheinen – ohne alle Umstände und Komplimente, ganz freundschaftlich sich einstellen – vorliebnehmen – und die ersten Stellungen lernen solle, damit er keine Zeit verliere und als Tänzer beim nächsten Ball in die Reihe mit eintreten könne.

Mr. Augustus Cooper begab sich in einen der wohlfeilen Schuhmacherläden in Holborn, wo Herrentanzschuhe sieben Schillinge und sechs Pence und gewöhnliche starke Mannsschuhe gar nichts kosten, erstand ein Paar von den besten zu sieben Schillingen und sechs Pence, durch die er sowohl sich selbst als seine Mutter in Erstaunen setzte, und eilte zu Signor Billsmethi.

Er fand im Wohnzimmer noch vier andere Privatschüler, zwei Damen und zwei Herren. Und was für allerliebste Leute! Ohne die mindeste Spur von Stolz. Eine der jungen Damen, die die Rolle der Columbine einstudierte, war besonders gesprächig und freundlich, und sie und Miss Billsmethi interessierten sich so sehr für Mr. Augustus Cooper, und scherzten und lächelten, und sahen so bezaubernd aus, daß er sich ganz wie zu Hause fühlte und seine Pas in bewunderungswürdig kurzer Zeit lernte. Nachdem die Übungen eingestellt waren, tanzten Signor Billsmethi und Miss Billsmethi, Master Billsmethi und eine junge Dame, und die beiden Damen und beiden Herren eine Quadrille mit unsäglicher Gewandtheit und Grazie, Signor Billsmethi alle ermunternd, alles ordnend, der behendeste von allen, obwohl er zugleich die Geige spielte; und als alle außer Atem waren, tanzte Master Billsmethi zur ungeteilten Bewunderung der ganzen Gesellschaft einen Hornpipe mit einem Rohr in der Hand und einem Käseteller auf dem Kopfe. Da alle so äußerst vergnügt waren, bestand Signor Billsmethi darauf, daß sie zum Abendessen bleiben müßten, und erbot sich, von Master Billsmethi das Bier und den Rum holen zu lassen. Allein, die beiden Herren beteuerten, dies nimmermehr zulassen zu können, und fingen einen edelmütigen Streit darüber an, wer bezahlen sollte, worauf Mr. Augustus Cooper sich sogleich entschloß, als Vermittler auf zutreten, und erklärte, er wolle es – wenn sie die Güte haben wollten, es ihm zu gestatten. Sie hatten die Güte, und bald brachte Master Billsmethi das Bier in einer Kanne und den Rum in einem Quartertopf. Die Gesellschaft machte sich nunmehr eine lustige Nacht, und Miss Billsmethi drückte Mr. Augustus Coopers Hand unter dem Tisch und Mr. Augustus Cooper erwiderte den Druck und langte um sechs Uhr morgens zu Hause an, wo er von dem Lehrling, nicht ohne heftigen Widerstand von seiner Seite, zu Bett gebracht wurde, nachdem er wiederholt sein unbesiegbares Verlangen ausgesprochen hatte, seine werte Frau Mama aus dem Fenster zu werfen und den Lehrling mit seinem eigenen Halstuch zu erdrosseln.

Wochen waren vergangen, und der Abend des großen Balls rückte heran, auf dem sämtliche fünfundsiebzig Zöglinge zum ersten Male in dieser Saison zugleich erscheinen und an Musik und Beleuchtung etwas haben sollten für ihre vier Schillinge und sechs Pence. Mr. Augustus Cooper schaffte sich zu der Festlichkeit einen neuen Rock an, der ihn zwei Pfund zehn Schillinge kostete. Er sollte sich zum ersten Male öffentlich sehen lassen, und nachdem vierzehn junge Damen ihrer Rolle entsprechend gekleidet einen großen sizilianischen Schaltanz ausgeführt hatten, tanzten er und Miss Billsmethi, mit der er vollkommen vertraut geworden war, die erste Quadrille vor.

Welch ein Abend – welch eine Lust! Die ganze Anordnung war wundervoll. An der Haustür nahm ein Aufwärter die Hüte und Mäntel in Empfang; in einem ausgeräumten Schlafzimmer bereitete Miss Billsmethi Tee und Kaffee für die Herren, die dafür bezahlten, und für die Damen, die von den Herren freigehalten wurden; Glühwein und Limonade wurde für achtzehn Pence die Person herumgereicht, und infolge eines Übereinkommens mit dem Gastwirt an der nächsten Ecke war noch ein Extraaufwärter angenommen worden. Kurzum, die Anordnung war unübertrefflich, nur daß die Gesellschaft noch unübertrefflicher war. Solche Damen! Solche rosaseidenen Strümpfe! Solche künstlichen Blumen! Solch eine Unzahl von Kabrioletts! Eins folgte fortwährend dem andern und setzte ein paar Damen ab, die nicht nur sämtlich einander, sondern obendrein die meisten Herren kannten, was ein unbeschreibliches Leben und eine unendliche Heiterkeit in das Ganze hineinbrachte. Signor Billsmethi, in knappen schwarzen Beinkleidern und einer großen Schleife im Knopfloch, stellte die noch Unbekannten den Damen vor, und die Damen plauderten und lachten – es war zum Entzücken, sie anzusehen.

Was den Schaltanz betrifft, so hatte man nie etwas Ähnliches gesehen, und Mr. Augustus Cooper übertraf sich selbst beim Vortanzen seiner Quadrille. Er verlor zwar dann und wann seine Tänzerin, fuhr in eine andere Abteilung und verharrte mit lobenswerter Beharrlichkeit darin oder hüpfte ohne ersichtlichen Zweck durch die Reihen; allein er bewies doch Scharfsinn genug, sich immer wieder zurechtzufinden, wenn er zurechtgeschoben wurde – mit einem Wort, es ging sehr gut. Als die Quadrille beendet war, traten viele Damen und Herren zu ihm und beglückwünschten ihn und sagten, was auch sehr glaubhaft war, daß sie noch nie von einem Anfänger so etwas gesehen hätten; und Mr. Augustus Cooper war vollkommen zufrieden mit sich selbst und allen übrigen obendrein und hielt mit einer großen Menge von Getränken aller Art zwei bis drei Dutzend intimer, aus dem erwählten Zirkel von fünfundsiebzig Zöglingen auserkorener Freunde frei.

Kam es nun von der Stärke der Getränke, der Schönheit der Damen oder woher sonst: Kurzum, Mr. Augustus Cooper ermunterte eher, als daß er sie zurückwies, die schmeichelhaften Aufmerksamkeiten einer jungen Dame in brauner Gaze über weißem Kaliko, einer jungen Dame, auf die seine Person vom ersten Erblicken an einen starken Eindruck gemacht zu haben schien. Und als dies einige Zeit gedauert, verriet endlich Miss Billsmethi ihre Eifersucht und ihren Zorn darüber, und nannte die junge Dame in brauner Gaze eine »Kreatur«, was die junge Dame in brauner Gaze zu einer Erwiderung bewog, die beleidigende Anspielungen auf die Quartalzahlung von vier Schillingen und sechs Pence und auf einen »Liebhaber« enthielt, den Miss Billsmethi angeblich in ihr Garn zu locken wünschte, eine Anspielung, mit der sich Augustus Cooper, dessen Kopf nicht wenig benommen war, vollkommen einverstanden erklärte.

Miss Billsmethi, auf eine solche Weise verlassen und bloßgestellt, begann augenblicklich mit ihrer ganzen Stimmkraft zu jammern und zu schreien, machte einen erfolglosen Angriff auf die Augen und das Antlitz zuerst der Dame in Gaze und sodann Mr. Augustus Coopers und rief, ganz außer sich, den anderen dreiundsiebzig Zöglingen zu, sie möchten ihr eine Dosis Arsenik schaffen, womit sie sich den Tod geben wolle; und als ihrer Aufforderung keine Folge gegeben wurde, stürzte sie sich abermals auf Mr. Cooper, ihr Schnürband zerriß, und sie wurde hinausgeführt und zu Bett gebracht. Mr. Augustus Cooper, der sich nicht eben durch schnelle Begriffe auszeichnete, war außer sich vor Verwunderung, bis Signor Billsmethi alles auf das befriedigendste erklärte. Er verkündete nämlich den Zöglingen, daß Mr. Augustus Cooper seiner Tochter wiederholte Heiratsanträge gemacht habe und ihr jetzt unverantwortlicherweise untreu geworden sei. Sämtliche Zöglinge legten ihre Entrüstung über Mr. Coopers Benehmen an den Tag; und da mehrere ritterliche Herren Mr. Augustus Cooper ziemlich bedeutsam und dringend fragten, ob er »etwas Angenehmes schmecken«, oder mit anderen Worten, »ob er Prügel haben wollte«, so hielt er es der Klugheit gemäß, sich eiligst zurückzuziehen.

Und das Ende vom Liede war, daß er am folgenden Tage ein Schreiben von einem Advokaten erhielt, daß eine Woche später eine Klage gegen ihn angestellt wurde, und daß Mr. Augustus Cooper, nachdem er, in der Absicht, sich zu ersäufen, zweimal nach der Serpentine gegangen und zweimal, ohne seinen Entschluß ausgeführt zu haben, wieder zurückgekommen war, seine Mutter in das Geheimnis zog, die die Sache mit zwanzig Pfunden beilegte, so daß an Signor Billsmethi zwanzig Pfund, vier Schillinge und sechs Pence gezahlt werden mußten, abgesehen von dem, was das Freihalten und die Tanzschuhe gekostet; und Mr. Augustus Cooper lebte wieder wie zuvor bei seiner Mutter, lebt noch mit ihr bis auf den heutigen Tag, fern von der Welt, die zu sehen er alle Neigung verloren hat, und wird daher diese Erzählung seiner Abenteuer nicht zu Gesicht bekommen und auch nichts daran verlieren.

Die Schäbig-Vornehmen

Es gibt eine gewisse Art von Leuten, die, sonderbar genug, London ausschließlich anzugehören scheinen. Man begegnet ihnen täglich in den Straßen der Hauptstadt, nie aber an irgendeinem anderen Orte. Sie scheinen Erzeugnisse des Bodens zu sein und sind für London so eigentümlich, wie sein Rauch und seine geschwärzten Backsteine. Wir könnten diese Bemerkung durch eine Menge von Beispielen veranschaulichen, wollen aber in dieser Skizze nur von einer der Leutearten, die wir im Sinne haben, reden – von der, die man so angemessen und bezeichnend »schäbig-vornehm« oder »schäbig-elegant« nennt.

Gott weiß, schäbige Leute kann man überall finden, und vornehme sind nicht seltner außerhalb als in London; aber dieses Gemisch aus beiden – diese schäbige Vornehmheit – ist so absolut örtlich wie die Statue von Charing-Cross oder der Brunnen in Aldgate. Auch verdient es bemerkt zu werden, daß nur Männer schäbig-vornehm sind; ein Frauenzimmer ist immer entweder höchst schmutzig und schlampig oder nett und sauber, wenn auch noch so ärmlich gekleidet. Ein sehr dürftiger Mann, der, wie die Phrase lautet, »bessere Tage gesehen hat«, ist eine merkwürdige Mischung aus schlotteriger Unsauberkeit und dem unglücklichen Trachten nach einer gewissen verschlissenen Nettigkeit. Doch wir wollen es versuchen, die Bedeutung, die wir mit dem Ausdruck »schäbig-vornehme Leute« verbinden, genauer dazulegen.

Begegnet ihr einem Manne, der Drury-Lane hinunterschlendert oder mit dem Rücken gegen einen Pfosten in Longacre lehnt und dabei die Hände in die Taschen seiner sehr fettfleckigen, sehr weit auf die Stiefel hinunterfallenden und mit Streifen gezierten Beinkleider gesenkt hat – auch einen braun gewesenen Rock mit Metallknöpfen trägt und einen Hut mit stark gekrümmten Seitenrändern auf die rechte Schläfe gedrückt hat –, bemitleidet ihn nicht: er ist nicht schäbig-elegant. Er treibt sich vorzugsweis‘ gern in den »harmonischen Gesellschaften« eines Gasthauses vierter Klasse oder in den Umgebungen eines Privattheaters umher; hegt einen eingewurzelten Abscheu vor Arbeit jeder Art und steht auf vertrautem Fuße mit mehreren, bei den größeren Theatern beschäftigten Pantomimenakteurs. Seht ihr aber einen Mann von vierzig bis fünfzig Jahren in einem alten schimmeligen Überrock von fadenscheinigem, schwarzem Tuch, das in seiner Abgetragenheit glänzt, als wenn es gewichst wäre, und in Beinkleidern, die teils besseren Aussehens wegen und teils, um die Schuhe an den Fersen festzuhalten, unter den Füßen sorgfältig befestigt sind, eine Nebengasse hinuntereilen und sich dabei so dicht wie möglich an die Gartengitter halten; bemerkt ihr ferner, daß er die Weste unter dem gelblich-weißen Halstuche dicht zugeknöpft hat, um das zerlumpte Weißzeug darunter zu verstecken und daß er ein Paar alte zerrissene Biberhandschuhe trägt, so könnt ihr ihn den schäbig-vornehmen Leuten zuzählen. Ein Blick auf sein verkümmertes Gesicht, worin sich ein niederdrückendes Bewußtsein der Armut ausdrückt, wird euch Herzweh verursachen – stets vorausgesetzt, daß ihr weder Philosoph noch »Staatswirtschaftler« seid.

Einst vermochten wir das Bild eines schäbig-vornehmen Mannes schlechterdings nicht loszuwerden; es stand vor uns Tag und Nacht. Der Mann, von dem Walter Scott in seiner Dämonologie spricht, litt nicht halb soviel von der Phantasiegestalt in schwarzem Samt wie wir von dem Bilde unseres Schäbig-Vornehmen im vormals schwarz gewesenen Rocke. Er erregte zuerst unsere Aufmerksamkeit, als er uns eines Tags und dann öfter im Lesezimmer des Britischen Museums gegenübersaß. Was ihn uns noch bemerklicher machte, war, daß er immer ein paar schäbig-elegante Bücher vor sich hatte – zwei alte eselsohrige Folianten in verschimmelten, wurmstichigen Bänden, die einmal prachtvoll gewesen waren. Er saß jeden Morgen, gerade wenn es zehn schlug, an seiner Stelle, war jeden Nachmittag der letzte im Zimmer, und verließ es mit einer Miene und einem Wesen, worin man deutlich las, daß er nicht wußte, wohin er gehen sollte, um Feuerung und eine Ruhestätte zu finden. Er saß den ganzen Tag da und so dicht wie möglich am Tische, um die fehlenden Knöpfe an seinem Rocke zu verstecken; und seinen abgetragenen Hut legte er immer sorgfältig neben seine Füße, wo er, wie er sich offenbar schmeichelte, der Beobachtung entging. Etwa um zwei Uhr seht ihr ihn eine Semmel verspeisen, die er nicht etwa dreist und vor aller Augen aus der Tasche hervorzieht, gleich einem Manne, der es weiß, daß er nur einen Lunch einnimmt, sondern von der er kleine Stücke in der Tasche abbricht und verstohlen zum Munde führt. Er ist sich nur gar zu wohl bewußt, daß sein ganzes Mittagessen darin besteht.

Als wir den Armen zum ersten Male sahen, hielten wir es für rein unmöglich, daß sein Anzug noch schlechter werden könnte, wir dachten sogar an die Möglichkeit, daß er binnen kurzem in anständigen Kleidern aus einem reputierlichen Trödlerladen erscheinen könnte. Wir hatten uns indes gar sehr geirrt. Er wurde mit jedem Tage noch elegant-schäbiger. Die Knöpfe verschwanden einer nach dem andern von seiner Weste, und er fing an, den Rock zuzuknöpfen, und als sich die Knöpfe von der einen Seite gleichfalls verloren, knöpfte er ihn über die andere Seite zu. Zu Anfang der Woche sah er etwas besser aus als am Ende, weil sein Halstuch dann, wenn auch gelb, doch minder erdfarben war, und nie zeigte er sich bei aller seiner Misere ohne Handschuhe und Sprungriemen an den Beinkleidern. In diesem Zustand verblieb er einige Wochen; endlich verschwand einer seiner Rückenknöpfe und dann er selbst, und wir glaubten, daß er tot sei.

Wir saßen etwa acht Tage nach seinem Verschwinden an unserm gewöhnlichen Tisch, hefteten die Blicke auf seinen leeren Stuhl und verfielen fast unbewußt in ein Nachsinnen über die Gründe, weshalb er sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen haben möchte. Hatte er sich erhängt oder ins Wasser gestürzt, war er wirklich tot oder im Schuldgefängnis? Wir sannen hin und her – als er unversehens leibhaftig wieder vor uns stand. Es war eine merkwürdige Verwandlung mit ihm vorgegangen. Er ging mit einer Miene durch das Zimmer, die deutlich verkündigte, daß er sich seines besseren Aussehens vollkommen bewußt war. Es war äußerst sonderbar! Seine Kleider waren dunkel und glänzend schwarz und sahen doch wie dieselben aus – ja sogar die Flicken fehlten nicht, mit denen uns lange Bekanntschaft vertraut gemacht hatte. Auch der Hut – wer hätte ihn mit seiner hohen, etwas spitz zulaufenden Krone verkennen mögen? Er hatte infolge langer Dienste in ein Rotbraun gespielt, war aber jetzt ebenso schwarz wie der Rock.

Plötzlich ging ums ein Licht auf – er hatte alles färben lassen. Die schwarze und blaue Farbe ist aber gar trügerisch; wir haben es an manchem schäbig-eleganten Manne ersehen. Sie verführt die Opfer ihres Betrugs, eine vorübergehende Wichtigkeit anzunehmen, vielleicht ein Paar neue Handschuhe, eine wohlfeile Halsbinde oder andere Toilettenkleinigkeiten zu kaufen; erhebt ihren Mut auf eine Woche, lediglich um ihn nur zu bald, womöglich noch tiefer, wieder niederzudrücken. Es war so im vorliegenden Falle. Die vorübergehende Würde des unglücklichen Mannes nahm in demselben Verhältnis ab, wie die Farbe ausging. Die Knie der Unaussprechlichen, die Ellenbogen des Rockes und die Nähte insgemein wurden bald zum Erschrecken weiß. Der Hut wurde wieder unter den Tisch gelegt, und sein Eigentümer drückte sich so still auf seinen Stuhl wie je. – Eine Woche lang fiel ein unaufhörlicher Sprühregen und Nebel. Als sie zu Ende ging, war die Farbe gänzlich verschwunden, und der schäbig-vornehme Mann machte keinen Versuch mehr, seine äußere Erscheinung zu verbessern.

Es würde nicht leicht sein, einen besonderen Stadtteil als Hauptsammelplatz schäbig-vornehmer Leute zu bezeichnen. Wir haben ihrer viele in der Gegend der Inns of Court10 gesehen. Man sieht sie jeden Morgen zwischen acht und zehn Uhr in Holborn, und wer sich aus Neugier in den Gerichtshof der insolventen Schuldner begibt, wird ihrer dort eine große Menge unter den Zu- und Nichtzuschauern erblicken. Wir gingen nie zufällig auf die Börse, ohne einige schäbig-elegante Leute zu bemerken, und haben oft darüber gegrübelt, was sie dort in aller Welt zu tun haben könnten. Sie sitzen stundenlang da, stützen sich auf große, wassersüchtige, verschlossene Regenschirme oder essen Abernethyzwiebäcke;11 niemand spricht mit ihnen, und sie sprechen gleichfalls mit niemandem. Doch freilich, wir sahen einst ihrer zwei auf der Börse miteinander reden, können aber aus unserer Erfahrung versichern, daß so etwas sehr selten vorkommt und etwa nur durch das Anerbieten einer Prise Schnupftabak oder eine ähnliche Höflichkeit veranlaßt wird.

Es würde ebenso schwer sein, zu sagen, wo sie vornehmlich ihre Wohnungen haben oder womit sie sich in der Regel beschäftigen. Wir verkehrten nur ein einziges Mal mit einem schäbig-vornehmen Manne, einem trunksüchtigen Graveur, der ein dumpfiges Hinterzimmer in einer neuen Reihe, halb Straße, halb Backsteinbrennereifeld, in Camden Town bewohnte. Solch ein schäbig-vornehmer Elegant hat vielleicht gar kein Geschäft, oder ist Korn- oder Kohlen- oder Weinmakler, oder Schuldeneinsammler, oder Brokersgehilfe, oder ein verunglückter Anwalt, ein Schreiber unterster Klasse, oder ein ebenso untergeordneter Korrespondent für eine Zeitung. Wir wissen es nicht, ob unsern Lesern auf ihren Wanderungen diese Leute ebenso oft aufgefallen sind als uns; das aber wissen wir, daß der verarmte, schäbig-elegante Mann (gleichviel, ob er sein Herunterkommen selbst verschuldet hat oder nicht), der seine Dürftigkeit schmerzlich fühlt und sich vergeblich bemüht, sie zu verheimlichen, zu den unglücklichsten Geschöpfen unter der Sonne gehört.

Ein lustiger Abend

Pythias und Damon waren ohne Zweifel sehr wackere Leute auf ihre Art: der erstere wegen seiner ausnehmenden Bereitwilligkeit, persönliche Bürgschaft für einen Freund zu leisten, und der letztere wegen einer gewissen abtrumpfenden, kaum minder merkwürdigen Pünktlichkeit, gerade im letzten und entscheidenden Augenblicke wieder zur Stelle zu sein. Viele ihrer Charaktereigenheiten sind gegenwärtig veraltet. Damons sind in diesen Zeiten, wo sie ihrer Schulden wegen eingesperrt werden, schwer zu finden (die Scheine Damons ausgenommen, die eine halbe Krone kosten); und was die Pythiasse betrifft, so haben die wenigen, die es in diesem entarteten Zeitalter gab, die unglückliche Neigung gehabt, Versteck zu spielen, und zwar gerade in dem Moment, in dem ihr Erscheinen streng klassisch gewesen sein würde. Doch wenn sich in der neueren Zeit zu den Handlungen dieser Heroen keine Parallele findet, so ist es dafür in betreff ihrer Freundschaft der Fall. Wir haben Damon und Pythias auf der einen – Potter und Smithers auf der andern Seite; und da die letzterwähnten Namen das Ohr unserer unerleuchteten Leser mutmaßlich noch nicht erreicht haben, so können wir nichts Besseres tun, als sie mit den Eigentümern bekannt zu machen.

Wohlan denn! Mr. Thomas Potter war ein Kontorschreiber in der City, und Mr. Robert Smithers war ein Dito in ebenderselben; ihr Einkommen war beschränkt, aber ihre Freundschaft unbegrenzt. Sie wohnten in derselben Straße, dinierten jeden Tag in demselben Speisehause und zechten einer in des anderen Gesellschaft jeglichen Abend. Sie waren durch die engsten Bande der Freundschaft und Vertraulichkeit miteinander verbunden oder waren, wie Mr. Thomas Potter empfindsam bemerkte, »Dick-und-Dünn-Gefährten«. In Mr. Smithers‘ Gemütsart lag ein Anflug von Romantik – ein Strahl von Poesie – ein Aufblitzen von Zerrissenheit – eine Art Bewußtsein, er wußte nicht genau wovon, das ihn überkam, er wußte nicht recht eigentlich warum – wodurch ein schöner Gegensatz gebildet wurde zu dem Mr. Potter in einem eminenten Grade auszeichnenden munteren kecken Liebhabertaschendiebereiwesen.

Die Eigentümlichkeit ihrer Charaktere erstreckte sich auch auf ihre Kleidung. Mr. Smithers erschien in der Öffentlichkeit gewöhnlich in Überrock und Schuhen, mit einem losen, schwarzen Halstuch und einem Hut, dessen Rand stark gebogen war – Eigentümlichkeiten, die Mr. Potter durchaus mied; denn es war sein Ehrgeiz, die Elegants geringerer Klasse nachzuahmen, und er war so weit gegangen, Kapital zum Ankauf eines groben, blauen, wasserdichten Leibrocks mit hölzernen Knöpfen anzulegen, zu dem ein blumentopfuntersetzerartiger Hut mit niedriger Krone hinzukam, so daß er im Albion-Hotel und an verschiedenen andern öffentlichen und fashionablen Orten beträchtliche Sensation erregt hatte.

Mr. Potter und Mr. Smithers hatten verabredet, nach dem Empfang ihres Quartalgehaltes sich gemeinschaftlich und in Gesellschaft »einen lustigen Abend zu machen«, oder aber, wie sie sich auch ausdrückten, »den Abend recht kreuzfidel durchzubringen« – eine offenbar falsche Bezeichnung: denn alle Welt weiß, daß sich das Durchbringen nicht auf den Abend, sondern auf alles Geld bezieht, in dessen Besitze der Durchbringende sich eben befindet, wie denn beide Redensarten insofern sehr uneigentliche sind, als ihre Bedeutung dahin geht, daß noch mehrere Stunden der Nacht und des andern Morgens entlehnt und zum besagten Abend hinzugefügt werden sollen.

Der Quartalstag war endlich da – wir sagen endlich, weil Quartalstage so unberechenbar sind wie Kometen, indem sie mit erstaunlicher Raschheit von der Stelle rücken, wenn man viel zu zahlen und merkwürdig langsam, wenn man wenig zu empfangen hat. Mr. Thomas Potter und Mr. Robert Smithers blieben dem gegebenen Worte treu und machten den Anfang mit einem hübschen, reichhaltigen Mittagessen, das aus einem kleinen Aufzuge von vier Koteletts und vier Nieren, die einander folgten, bestand – einen Krug echtes und bestes Doppelbier und einige Brotpolster und Käsekeile in der Nachhut nicht zu vergessen.

Als das Tischtuch abgenommen worden war, befahl Mr. Thomas Potter dem Aufwärter, eine angemessene Quantität seines besten schottischen Whiskys nebst heißem Wasser und Zucker sowie ein paar seiner »leichtesten« Havannas zu bringen, was der Aufwärter tat. Mr. Thomas Potter mischte seinen Grog, zündete seine Zigarre an, und Mr. Robert Smithers tat dasselbe, worauf Mr. Thomas Potter scherzweise vorschlug, zu allererst »auf Abschaffung aller Kontors« zu trinken; auf diese Gesundheit wurde von Mr. Robert Smithers augenblicklich mit enthusiastischem Applaus getrunken. Sodann besprachen sie die Politika, rauchten ihre Zigarren und schlürften ihren Whisky-Grog, bis sie damit zu Ende waren. Sobald Mr. Robert Smithers dies gewahrte, ließ er eine abermalige Portion und frische Zigarren kommen, eine kleine Szene, die sich mehrere Male wiederholte, bis Mr. Robert Smithers endlich die Leichtigkeit der Havannas zu bezweifeln anfing und in hohem Maße das Gefühl hatte, als ob er rückwärts in einer Mietskutsche gefahren wäre.

Was Mr. Thomas Potter anbelangt, so lachte er eine halbe Minute um die andere laut auf, behauptete ohne alle Veranlassung oder Aufforderung in kaum artikulierten Tönen, vollkommen bei seinen fünf Sinnen zu sein, und ließ sich das Abendblatt reichen; ging aber, da er es einigermaßen schwierig fand, Neuigkeiten darin zu entdecken oder sich auch nur zu überzeugen, daß es überhaupt bedruckt war, langsam hinaus, um nach dem Kometen zu sehen, kehrte ganz blaß vom langen Himmelwärtsschauen zurück, bemühte sich, Heiterkeit darüber auszudrücken, daß sich Mr. Smithers vom Schlafe habe bewältigen lassen, legte unter hektischem Kichern den Kopf auf den Arm und schlummerte gleichfalls ein. Als er wieder aufwachte, wurde auch Mr. Smithers wach, und beide erklärten mit großem Ernst, es wäre äußerst unweise gewesen, soviel eingemachte Walnüsse zu Koteletts zu essen, da doch jedermann wisse, daß man davon stets unwirsch und schläfrig werde, und man könnte schlechterdings nicht sagen, wie schädlich sie ihnen hätten werden können, wenn der Whisky und die Zigarren nicht zum Glücke noch alles wieder gutgemacht hätten. Sie tranken daher eine Schale Kaffee, bezahlten ihre Zeche (dreizehn Schillinge mit der Erkenntlichkeit für den Aufwärter) und brachen auf, um in ihrem löblichen Unternehmen weiter voranzuschreiten.

Es war gerade halb neun; sie meinten daher nichts Besseres tun zu können, als zum Halbpreise in das Citytheater zu gehen, und verfuhren ihrer Ansicht gemäß. Mr. Robert Smithers, der, nachdem sie die Rechnung berichtigt hatten, ausnehmend poetisch geworden war, verkürzte unterwegs Mr. Thomas Potter die Zeit sehr angenehm, indem er ihm vertraulich mitteilte, daß er ein inneres Vorgefühl herannahender Auflösung habe, und fügte im Theater den Dekorationen des Hauses eine neue hinzu, indem er den Kopf und beide Arme graziös auf die Logenbrüstung sinken ließ und in dieser Attitüde abermals einschlief.

Dies war das ruhige Benehmen des anspruchslosen Smithers, und also taten sich die glücklichen Wirkungen des schottischen Whiskys und der Havannas bei diesem interessanten jungen Manne kund; Mr. Thomas Potter dagegen, der nicht wenig Wert darauf legte, sich als einen jungen Mann zu zeigen, »der es hinter den Ohren hat« und für einen »lustigen Gesellen« zu gelten, der »alles mitmacht und in Freuden lebt«, benahm sich auf eine ganz andere Weise und begann, sich zunächst sehr laut und endlich für die Langmut des Publikums zu laut zu benehmen. Sogleich bei seinem Eintreten wünschte er sämtlichen Zuschauern sehr herzlich einen guten Abend und fügte herablassend hinzu, sie möchten sich seinetwegen durchaus nicht abhalten lassen, wenn sie etwa ihren Rausch auszuschlafen wünschten. »Gebt doch dem Köter ’nen Knochen, daß er’s Maul hält«, rief ein Gentleman in Hemdärmeln. »Wo hast du dein Quart Branntwein getrunken?« rief ein zweiter, »Knote!« ein dritter, »Bartputzer!« ein vierter, »Werft ihn hinaus!« ein fünfter, während sich zahlreiche andere Stimmen zu dem wohlmeinenden Rate vereinigten, daß sich Mr. Thomas Potter »wieder hinscheren möge, wo er hergekommen sei«. Mr. Thomas Potter hörte all diese Stichelreden mit der vollkommensten Verachtung an, rückte, sooft eine Anspielung auf seine Persönlichkeit gemacht wurde, seinen Hut mit niedrigem Kopf noch etwas mehr auf das linke Ohr, stemmte die Arme in die Seite und drückte dadurch möglichst melodramatisch Herausforderung und Trotzbietung aus.

Die Ouvertüre, zu der dieses alles eine Ad-libitum-Begleitung gebildet hatte, war gespielt worden, das zweite Stück nahm seinen Anfang, und Mr. Thomas Potter, durch Straflosigkeit noch dreister geworden, fuhr fort, sich auf eine höchst unerhörte und außergewöhnliche Weise zu benehmen. Zuerst ahmte er den Triller der Primadonna nach, sodann zischte er mit dem blauen Feuer um die Wette und stellte sich an, als ob er bei Erscheinung des Geistes vor Schrecken Krämpfe bekäme, und schließlich lieferte er nicht nur mit hörbarer Stimme einen fortlaufenden Kommentar zum Bühnendialog, sondern weckte sogar Mr. Robert Smithers auf, der, als er den Freund lärmen hörte und nur eine sehr unbestimmte Vorstellung davon hatte, wo er sich befand oder was von ihm begehrt wurde, um ein gutes Beispiel nachzuahmen, ein so schauderhaftes und endloses Geheul ertönen ließ, wie es nur jemals von einem Theaterpublikum gehört worden war. Es war zuviel. »Hinaus mit den Tumultuanten!« war das allgemeine Geschrei. Man vernahm ein Geräusch wie von scharrenden Füßen und als ob ein paar Leute mit Heftigkeit gegen die Vertäfelung geworfen wurden und ein hastiges Zwiegespräch: »Hinaus – Nein – Sie sollen – Ich will aber nicht – Geben Sie mir Ihre Karte, Sir – Sie sind ein Lump, Sir«, und so fort, worauf ein Beifallssturm die Billigung des Publikums bekundete und Mr. Robert Smithers und Mr. Thomas Potter die Treppe hinunter und in die Straße hinaus mit so erstaunlicher Schnelligkeit flogen, daß sie gänzlich der Mühe überhoben waren, auch nur ein einziges Mal während der ganzen Prozedur die Füße auf den Boden zu setzen.

Mr. Robert Smithers, der keineswegs zum Vogelgeschlecht gehörte und wenigstens bis zum nächsten Quartalstage Fliegens und Mitmachens genug gehabt hatte, begann, sobald er mit dem Freunde die Ecke der Miltonstraße erreicht hatte, sich in entfernten Anspielungen auf die Süßigkeiten des Schlafs zu ergehen und darauf hinzudeuten, wie angemessen es sein dürfte, wenn er und Mr. Thomas Potter nach Islington zurückkehrten und wenn sie den Versuch anstellten, mit ihren Hausschlüsseln die Schlüssellöcher zu finden. Mr. Thomas Potter war jedoch tapferen und entschiedenen Sinnes. Sie hatten einmal beschlossen, sich einen lustigen Abend zu machen, und der Beschluß mußte ausgeführt werden. Mr. Robert Smithers, der zu drei Teilen betäubt und zu einem betrunken war, willigte verzweiflungsvoll ein; sie begaben sich daher in ein Weinhaus, um sich weitere Materialien zu einem lustigen Abend zu verschaffen, und fanden darin eine hübsche Anzahl junger Damen, verschiedene alte Herren und noch mehr trinkende und schwatzende Mietskutscher und Kabriolettführer; und Mr. Thomas Potter sowie Mr. Robert Smithers tranken kleine Gläser Branntwein und große Gläser Sodawasser, bis sie anfingen, von den Dingen im allgemeinen, wie von jeglichem Dinge im besondern nur sehr verwirrte Vorstellungen zu haben –: und als sie sich selbst bewirtet hatten, begannen sie alle anderen Leute zu traktieren, und das Ende der Vergnüglichkeit bestand in einem bunten Gemisch von Köpfen und Fersen, blauen Augen und blauen Uniformen, Straßenschmutz und Gaslichtern, dicken Eichentüren und einem Steinpflaster. Das Weitere von da an war eine »vollkommene Leere«; die Leere wurde am folgenden Morgen mit dem Wörtchen »Polizeiwache« ausgefüllt, sowie die Polizeiwache mit den Herren Smithers und Potter und dem größeren Teile ihrer Gasthausgesellschafter der vorigen Nacht nebst einem verhältnismäßig geringen Teil von Kleidungsstücken aller Art. Und auf der Polizei, zur Entrüstung der Richterbank und zum Erstaunen der Zuhörer, kam es an den Tag, wie ein gewisser Robert Smithers, angestiftet von einem gewissen Thomas Potter und unter dem Beistand »desselben«, in mehreren Straßen und zu verschiedenen Zeiten fünf Männer, vier Knaben und drei Frauen geschlagen und zu Boden geworfen; wie sich »besagter« Thomas Potter verbrecherisch in den Besitz von fünf Türklopfern, zwei Klingelgriffen und einem Frauenhut gesetzt; wie Robert Smithers, des »Besagten« Freund, wenigstens für fünfzig Pfund Flüche – das Stück zu fünf Schillingen gerechnet – ausgestoßen, ganze Straßen voll ruhiger Bürger durch fürchterliches Geschrei und Feuerrufen erschreckt, fünf Polizeidienern die Uniform verdorben und sich noch vieler anderer strafwürdiger Vergehen, zu zahlreich, um sie alle aufzählen zu können, schuldig gemacht habe. Und der Friedensrichter nahm nach einem angemessenen Vorhalt Mr. Thomas Potter und Mr. Robert Smithers jeden um fünf Schillinge in Strafe wegen Trunkenheit, wie der vulgäre Ausdruck des Gesetzes lautet, und um die Kleinigkeit von vierunddreißig Pfunden wegen siebzehn bewiesener Angriffe auf Personen, das Stück zu fünf Schilling, wobei es ihnen überlassen bleiben sollte, sich mit den Anklägern zu vergleichen.

Die Ankläger ließen mit sich reden, die Herren Potter und Smithers lebten indes ein Quartal auf Kredit, so gut sie konnten, und haben es nie wieder unternommen, sich einen lustigen Abend zu machen, obwohl die Ankläger sich sehr bereit erklärten, unter denselben Bedingungen zweimal wöchentlich Angriffe auf ihre Personen zu erdulden.