Sechsunddreißigstes Kapitel.
Worin es Herr Pickwick fürs beste hält, nach Bath zu gehen, was er auch ausführt.
»Aber wahrhaftig, mein lieber Herr«, sagte der kleine Perker, als er am andern Morgen nach der Gerichtssitzung in Herrn Pickwicks Zimmer kam, – »es wird Ihnen doch wahrhaftig nicht Ernst sein, – wir wollen jetzt ohne Spaß und ohne Aufregung davon sprechen – Sie werden doch nicht im Ernst die Unkosten und die Entschädigung verweigern wollen?«
»Nicht einen halben Penny bezahle ich«, sagte Herr Pickwick fest, »keinen halben Penny.«
»Es geht nichts über feste Grundsätze, wie der Wucherer sagte, als er den Wechsel nicht prolongieren wollte«, bemerkte Herr Weller, der die Reste des Frühstücks abräumte.
»Sam«, sagte Herr Pickwick, »sei so gut und geh hinunter.«
»Sogleich, Sir«, erwiderte Herr Weller, und zog sich auf diesen freundlichen Wink zurück.
»Nein, Perker«, fuhr Herr Pickwick mit großer Ernsthaftigkeit fort; »meine Freunde hier haben sich alle Mühe gegeben, mir diesen Entschluß auszureden; allein vergebens. Ich werde mich wie gewöhnlich beschäftigen; bis die Gegenpartei das Recht hat, zwangsweise Beitreibung gegen mich zu verlangen, und wenn sie niedrig genug denkt, sich derselben zu bedienen und mich verhaften zu lassen, so werde ich mich fröhlich und zufrieden darein geben. Wann können die Spitzbuben das tun?«
»Wegen der Entschädigung und den Prozeßkosten, mein lieber Herr«, antwortete Perker, »können sie bei den nächsten Gerichtssitzungen, das heißt, gerade in zwei Monaten, Exekution verlangen.«
»Sehr gut«, sagte Herr Pickwick. »Bis dahin, weiter Freund, lassen Sie mich nichts mehr von der Sache hören, und jetzt«, fuhr er fort, indem er sich mit vergnügtem Lächeln und funkelnden Augen, deren Glanz selbst durch die Brille nicht verdunkelt werden konnte, an seine Freunde wandte, »jetzt handelt es sich bloß darum: wohin begeben wir uns zunächst?«
Herr Tupman und Herr Snodgraß waren von dem Heroismus ihres Freundes zu sehr hingerissen, als daß sie sogleich eine Antwort hätten finden können; Herr Winkle hatte sich noch nicht hinlänglich von der Erinnerung an seine Zeugenschaft erholt, um ein Wörtchen mitzusprechen, und so wartete Herr Pickwick vergebens auf Antwort.
»Also schön«, sagte er endlich, »wenn Sie die Bestimmung mir überlassen wollen, so schlage ich Bath6 vor. So viel ich weiß, ist noch keiner von uns dort gewesen.«
Es war wirklich so, und da Perker, der es für höchst wahrscheinlich hielt, daß Herr Pickwick nach einiger Luftveränderung und Zerstreuung sich eines Besseren besinnen und den Schuldturm in einem anderen Lichte betrachten werde, den Vorschlag eifrig unterstützte, so wurde die Reise einstimmig beschlossen und Sam sogleich nach dem Weißen Roß abgeschickt, um auf dem am nächsten Morgen um halb acht Uhr abgehenden Postwagen fünf Plätze zu bestellen.
Es waren nur noch zwei Plätze innen und drei außen zu vergeben. Sam Weller nahm sie alle, und nachdem er mit dem Postkassierer wegen eines bleiernen halben Talers, den man ihm herausgeben wollte, einige Komplimente gewechselt, ging er nach dem Georg und Geier zurück, allwo er sich bis zum Schlafengehen eifrigst damit beschäftigte, die Kleider und Wäsche in den möglichst kleinen Raum zu zwängen, und sein ganzes mechanisches Genie aufbot, um durch allerhand sinnreiche Kunstgriffe die Koffer zu verschließen, die keine Schlösser hatten.
Der nächste Morgen war höchst ungünstig für eine Reise – es herrschte trüber, dunstiger Nebel; auch regnete es. Die Pferde vor dem Postwagen, die gerade von der City herkamen, dampften so, daß die außen fahrenden Passagiere ganz unsichtbar waren. Die Zeitungsverkäufer sahen aus wie aus dem Wasser gezogen und rochen dunstig. Der Regen troff von den Hüten der Oangenverkäufer, wenn sie die Köpfe in die Kutschenfenster reckten und wässerte den Kutschenraum auf eine erfrischende Weise. Die Juden mit den fünfzigklingigen Federmessern steckten ihre Messer verzweifelt ein, und die Männer, die Taschenbücher feilboten, machten wirklich Taschenbücher daraus. Ebensowenig konnten die andern Händler ihre Uhrketten und Röstgabeln, ihre Bleistifthalter und Schwämme losschlagen.
Als der Wagen anhielt, überließen Herr Pickwick und seine Freunde Sam Weller die Sorge, das Gepäck aus den Händen der sieben oder acht Träger zu retten, die wütend darüberherfielen, und da sie um zwanzig Minuten zu früh gekommen waren, suchten sie Schutz im Wartezimmer – dem letzten Zufluchtsort menschlichen Elends.
Das Wartezimmer im Weißen Roß ist, wie es sich von selbst versteht, alles andere als behaglich: es wäre ja sonst kein Wartezimmer. Es ist die Stube rechter Hand, hat aber mehr Ähnlichkeit mit einer Küche, wo Schüreisen, Feuerzangen und Schaufeln unordentlich beieinander liegen. Zur Beförderung der Geselligkeit der Reisenden ist es in mehrere abgesonderte Verschlage geteilt und mit einer Glocke, einem Spiegel, sowie mit einem Kellner möbliert, welch letzterer Artikel sich an einem Wasserkübel befindet, um die Gläser zu spülen.
In einem dieser Verschlage saß damals ein grimmig dreinblickender Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mit glänzend kahler Stirn, jedoch starkem schwarzen Haar an den Schläfen sowie auf dem Hinterkopf und einem großen schwarzen Backenbart. Er hatte seinen braunen Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, trug eine große Reisemütze von Seehundsfell; ein Überrock nebst Mantel lag neben ihm auf dem Stuhl. Als Herr Pickwick eintrat, blickte er mit trotziger, gebieterischer Miene, die viel Würdevolles hatte, von seinem Frühstück auf, und nachdem er diesen Herrn samt seinen Gefährten so lange es ihm gefiel gemustert, summte er ein Liedchen in einer Art, die zu sagen schien, wer mit ihm anbinden wolle, dem werde er schon seinen Mann stellen.
»Kellner«, rief der Herr mit dem Backenbart.
»Sir«, erwiderte ein junger Mensch mit schmutzigem Gesicht und gleichem Handtuch, der aus der Ecke des Zimmers auftauchte.
»Noch mehr geröstete Brotschnitten.«
»Sogleich, Sir.«
»Geröstete Brotschnitten mit Butter: verstehen Sie mich wohl«, sagte der Herr im barschen Ton.
»Ganz recht, Sir«, erwiderte der Kellner.
Der Herr mit dem Backenbart summte sein Liedchen auf dieselbe Art wie vorhin, näherte sich sodann in Erwartung der Brotschnitten dem Kamin, nahm seine Rockschöße unter den Arm, blickte auf seine Stiefel nieder und schien in tiefes Nachdenken zu versinken.
»Ich bin doch begierig, wo unsere Kutsche in Bath anhält«, sagte Herr Pickwick in freundlichem Ton zu Herrn Winkle.
»He – wie – was ist das?« fiel der Fremde ein.
»Sir«, erwiderte Herr Pickwick, stets bereit, auf eine Unterhaltung einzugehen, »ich sagte zu meinem Freunde, ich wolle doch sehen, wo die Kutsche in Bath anhält. Vielleicht können Sie mir Auskunft geben?«
»Reisen Sie nach Bath?« fragte der Fremde.
»Ja, Sir«, antwortete Herr Pickwick.
»Und die andern Herren?«
»Sie reisen auch mit.«
»Aber doch nicht im Wagen drinnen – ich will verdammt sein, wenn sie im Wagen fahren«, sagte der Fremde.
»Wir alle allerdings nicht«, sagte Herr Pickwick.
»Nein, Sie alle gewiß nicht«, versetzte der Fremde mit Nachdruck. »Ich habe zwei Plätze genommen. Wenn man sechs Leute in diesen verwünschten Kasten hineinzwängen will, der nur für vier Raum hat, so nehme ich Extrapost und klage. Ich habe mein Reisegeld bezahlt und dabei dem Sekretär ausdrücklich gesagt, daß dies ein für allemal nicht angeht. Ich weiß, daß diese Burschen es häufig so machen. Ich weiß, daß sie sich’s alle Tage herausnehmen: aber bei mir sollen sie schon ein Haar darin finden. Wer mich kennt, weiß, daß ich mir nicht im Bart kratzen lasse. Zum Donnerwetter, ja!«
Hier klingelte der wilde Herr mit großer Heftigkeit und schnauzte den Kellner an, er solle die gerösteten Brotschnitten binnen fünf Sekunden bringen oder er wolle ihn Mores lehren.
»Mein lieber Herr«, sagte Herr Pickwick, »erlauben Sie mir. Ihnen zu bemerken, daß Sie sich ganz unnötigerweise so ereifern. Ich habe nur zwei Plätze innen genommen.«
»Das freut mich«, sagte der bärbeißige Mann: »ich nehme meine Ausdrücke zurück. Ich bitte um Entschuldigung. Hier ist meine Karte. Schenken Sie mir Ihre Bekanntschaft.«
»Mit größtem Vergnügen, Sir«, erwiderte Herr Pickwick. »Wir werden Reisegefährten sein und, wie ich hoffe, gegenseitig unsere Gesellschaft angenehm finden.«
»Das hoffe ich auch«, sagte der wilde Herr. »Ja, ich weiß es schon im voraus. Sie gefallen mir. Meine Herren, reichen wir uns die Hände, und sagen wir uns gegenseitig die Namen, kernen Sie mich kennen.«
Auf diese entgegenzukommende Aufforderung fanden natürlicherweise freundschaftliche Begrüßungen statt, und der grimmige Herr benachrichtigte die Freunde in denselben kurz abgebrochenen und abgestoßenen Sätzen wie zuvor, sein Name sei Dowler, er reise zu seinem Vergnügen nach Bath, habe früher in der Armee gedient aber seinen Abschied genommen, lebe jetzt standesgemäß von seinen Renten, und der zweite Platz, den er bestellt, sei für keine geringere Person bestellt, als für Frau Dowler, seine edle Gemahlin.
»Sie ist eine schöne Frau«, fügte Herr Dowler hinzu. »Ich bin stolz auf sie. Ich habe Ursache.«
»Ich hoffe, ich werde das Vergnügen haben, mich selbst davon zu überzeugen«, sagte Herr Pickwick lächelnd.
»Das sollen Sie auch«, erwiderte Dowler. »Sie soll Ihre Bekanntschaft machen – sie wird Sie hochachten. Ich bewarb mich um sie unter seltsamen Umständen. Ich gewann sie durch ein übereiltes Gelübde. Die Sache war so. Ich sah sie; ich liebte sie; ich erklärte mich; sie gab mir einen Korb. – ›Lieben Sie einen andern?‹ – ›Ersparen Sie mir ein Erröten!‹ – ›Ich kenne ihn.‹ – ›Das weiß ich!‹ – ›Schon gut: wenn er hier bleibt, so werde ich ihn zu Frikassee verarbeiten.‹«
»Gott steh mir bei«, rief Herr Pickwick unwillkürlich aus.
»Und haben Sie den Herrn wirklich zu Frikassee verarbeitet, Sir?« fragte Herr Winkle mit sehr blassem Gesicht.
»Ich schrieb ihm ein Billett. Ich sagte, es sei eine fatale Sache. Und das war es auch.«
»Will’s wohl glauben«, meinte Herr Winkle.
»Ich sagte, ich habe mein Wort als Gentleman verpfändet, ihn zu Frikassee zu verarbeiten. Meine Ehre stehe auf dem Spiel, ich hatte keine Wahl mehr. Als Offizier in den Diensten Seiner Majestät müsse ich es tun. Ich bedaure die Notwendigkeit, allein es lasse sich nicht mehr ändern. Er war empfänglich für Vernunftgründe. Er sah ein, daß man den Gesetzen des Dienstes den Gehorsam nicht verweigern dürfe. Er floh. Ich heiratete sie. Hier kommt die Kutsche. Da sieht sie eben heraus.«
Herr Dowler zeigte nach dem offenen Fenster des soeben angekommenen Postwagens, aus dem ein recht hübsches Gesichtchen unter einer hellblauen Haube auf die im Hofe stehende Gruppe herausschaute, höchst wahrscheinlich den grimmigen Mann suchend. Herr Dowler bezahlte seine Rechnung und eilte mit seiner Reisekappe, seinem Stock und Mantel hinaus: Herr Pickwick und seine Freunde folgten ihm, um sich ihrer Plätze zu versichern.
Herr Tupman und Herr Snodgraß stiegen hinten hinauf, Herr Winkle war in den Wagen selbst gestiegen, und Herr Pickwick war im Begriff, ihm zu folgen, als Sam Weller zu seinem Herrn trat und ihm mit äußerst geheimnisvoller Miene zuflüsterte, er habe ihm etwas zu sagen.
»Nun, Sam«, meinte Herr Pickwick, »was gibt’s denn?«
»Eine schöne Geschichte, Sir«, antwortete Sam.
»Und was denn?« fragte Herr Pickwick.
»Ich fürchte sehr«, antwortete Sam, »daß der Eigentümer dieser Kutsche uns einen schnöden Streich gespielt hat.«
»Wieso, Sam?« fragte Herr Pickwick; »sind etwa die Namen nicht in die Karte eingetragen?«
»O freilich, Sir«, erwiderte Sam, »sie sind nicht nur in die Karte eingetragen, sondern einer davon ist sogar auf die Kutschentür gemalt.«
Mit diesen Worten deutete Sam auf den Teil der Tür, wo gewöhnlich der Name des Eigentümers« steht, und wirklich war hier in stattlichen vergoldeten Buchstaben der englische Name Pickwick zu lesen.
»Seltsam«, rief Herr Pickwick, verblüfft über dies Zusammentreffen! »wahrhaftig sehr seltsam.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte Sam, indem er die Aufmerksamkeit seines Herrn von neuem auf die Kutschentür lenkte: »sie haben nicht nur Pickwick daraufgeschrieben, sondern auch noch Moses davor gesetzt, und das nenne ich eine Verhöhnung neben der Beleidigung, wie der Papagei sagte, als man ihn nicht nur aus seinem Vaterland entführte, sondern später auch noch zwang, englisch zu lernen.«
»Es ist wirklich höchst auffallend, Sam«, sagte Herr Pickwick, »aber wenn wir noch lange da stehenbleiben und schwatzen, so werden wir unsere Plätze verlieren.«
»Aber, aber, wollen Sie denn gar nichts dagegen tun, Sir?« rief Sam, höchst verwundert über die Kaltblütigkeit, mit der Herr Pickwick sich anschickte, einzusteigen.
»Was soll ich denn tun?« sagte Herr Pickwick: »was soll ich denn tun?«
»Soll denn niemand für diese Frechheit gestraft werden, Sir?« sagte Herr Weller, der zum mindesten den Auftrag erwartet hatte, den Schaffner und den Kutscher zu einem Faustkampf an Ort und Stelle herauszufordern.
»Nein, nein«, erwiderte Herr Pickwick eifrig: »unter gar keinen Umständen. Steige jetzt auf deinen Platz.«
»Ich fürchte beinahe«, murmelte Sam, als er sich abwandte, »ich fürchte beinahe, mit meinem Herrn ist es nicht ganz richtig, sonst wäre er nicht so ruhig geblieben. Der Prozeß wird ihm doch hoffentlich nicht seine Courage genommen haben; doch es sieht schlimm aus, sehr schlimm.«
Herr Weller schüttelte bedenklich den Kopf. Wie sehr er sich die Sache zu Herzen nahm, wird daraus klar, daß er kein Wort mehr sprach, bis die Kutsche am Kensingtoner Schlagbaum anhielt; es war ihm vielleicht in seinem ganzen Leben noch nie vorgekommen, daß er so lange geschwiegen hatte.
Sonst trug sich während der Reise nichts von besonderem Belang zu. Herr Dowler erzählte eine Menge Anekdoten, die sämtlich seinen Mut und seine Tollkühnheit zum Thema hatten, und appellierte dabei an seine Gemahlin, die sie bestätigte und als Anhang jedesmal noch irgendeinen merkwürdigen Umstand hinzufügte, den Herr Dowler vergessen oder vielleicht auch aus Bescheidenheit übergangen hatte. Sämtliche Zusätze liefen nämlich darauf hinaus, zu beweisen, daß Herr Dowler noch ein viel wundervollerer Mann sei, als er sich selbst gab. Herr Pickwick und Herr Winkle hörten mit großer Bewunderung zu und unterhielten sich zuweilen mit Frau Dowler, die eine sehr angenehme und bezaubernde Dame war. So schwand zwischen den Geschichten des Herrn Dowler, den Reizen seiner Gemahlin, der guten Laune des Herrn Pickwick und dem trefflichen Hörtalent des Herrn Winkle der Gesellschaft im Wagen ihre Zeit aufs angenehmste dahin.
Mit den äußeren Passagieren ging es wie gewöhnlich. Sie waren beim Anfang jeder Station sehr lustig und gesprächig, in der Mitte langweilig und schläfrig und gegen das Ende wieder sehr aufgeräumt und munter. Ein in einen Gummimantel gekleideter junger Herr rauchte den ganzen Tag Zigarren, ein anderer junger Herr in einer Parodie auf einen großen Mantel zündete gleichfalls eine Menge Giftnudeln an, fühlte sich aber nach dem zweiten Zuge unwohl und warf sie wieder weg, wenn er von niemand gesehen zu werden glaubte. Ein Dritter kramte seine Kenntnisse in der Viehzucht aus, und ein alter Mann, der hinten saß, gab seine landwirtschaftlichen Erfahrungen zum besten. Auf jeder Station stiegen Reisende ab und kamen andere hinzu, zum Teil in Bauernkitteln, die als blinde Passagiere bei dem Schaffner aufsaßen und sich rühmen konnten, jedes Pferd und jeden Hausknecht auf dieser Straße zu kennen. Dabei machten sie zugleich ihre Bemerkungen über das Mittagessen und meinten, es wäre nicht um eine halbe Krone zu teuer gewesen, wenn man Zeit gehabt hätte, es aufzuessen. Endlich um sieben Uhr abends langten Herr Pickwick und seine Freunde, sowie Herr Dowler und seine Gemahlin in Bath an und stiegen im Hotel Zum weißen Hirsch, dem großen Brunnensaal gegenüber, ab. Dort könnte man die Kellner wegen ihrer Tracht leicht mit jungen Gymnasiasten aus Westminster verwechseln, wenn die Illusion nicht sogleich dadurch gestört würde, daß erstere sich weit besser zu benehmen wissen.
Am folgenden Morgen war das Frühstück kaum abgetragen, als ein Kellner eine Karte von Herrn Dowler brachte, der um Erlaubnis bat, einen Freund vorstellen zu dürfen. Gleich darauf traten die beiden Herren ein.
Der Freund war ein sehr einnehmender junger Mann von nicht viel mehr als fünfzig Jahren und trug einen sehr glänzenden blauen Rock mit funkelnden Knöpfen, schwarze Beinkleider und möglichst feine, blank geputzte Stiefel. Eine goldene Lorgnette hing an einem breiten schwarzen Bande an seiner Brust; in der linken Hand trug er nachlässig eine goldene Tabaksdose, an seinen Fingern glänzten zahllose goldene Ringe, und über seinem Busenstreif strahlte eine in Gold gefaßte Diamantnadel. Außerdem trug er eine goldene Uhr an einer goldenen Kette mit großen goldenen Petschaften, und in der Hand hatte er einen feinen Stock von Ebenholz mit einem schweren goldenen Knopf. Seine Wäsche war so weiß, so fein und so glatt, wie man sich nur denken kann; seine Perücke ungemein glänzend, schwarz und lockig. Sein Schnupftabak war Prinzenmischung, sein Duft Bouquet du Roi. Seine Züge umschwebte ein beständiges Lächeln, und seine Zähne hatte er in so vortrefflicher Ordnung erhalten, daß es in einiger Entfernung schwer war, die natürlichen von den falschen zu unterscheiden.
»Herr Pickwick«, sagte Dowler, »mein Freund Angelo Cyrus Bantam, Esquire, Kurdirektor Bantam – Herr Pickwick. Lernen Sie einander kennen.«
»Willkommen in Ba-ath, Sir. – In der Tat eine herrliche Errungenschaft, dieses Ba-ath. Herzlich willkommen in Ba-ath, Sir. Es ist lange her – sehr lange, Herr Pickwick, daß Sie den Brunnen nicht getrunken haben. Es deucht mir, eine Ewigkeit zu sein, Herr Pickwick. Me-erkwürdig!«
So sprechend ergriff Angelo Cyrus Bantam, Esquire, Herrn Pickwicks Hand, hielt sie in der seinen fest und zuckte unter beständigen Verbeugungen die Achseln, als ob er wirklich nicht imstande wäre, sie wieder loszulassen.
»Es muß allerdings schon sehr lange her sein, daß ich den Brunnen nicht getrunken habe«, antwortete Herr Pickwick, »denn meines Wissens war ich noch nie hier.«
»Noch nie in Ba-ath, Herr Pickwick?« rief der Kurdirektor aus und ließ voll Erstaunen dessen Hand fahren. »Noch nie in Ba-ath? Hihi! Herr Pickwick, Sie sind ein Spaßvogel. Nicht übel, nicht übel. Gut, gut. Hihihi! Me-erkwürdig!«
»Ich muß zu meiner Schande bekennen, daß es mir vollkommen Ernst ist«, versetzte Herr Pickwick. »Ich bin wirklich noch nie dagewesen.«
»O, ich weiß wohl«, rief der Kurdirektor äußerst vergnügt: »ja, ja – gut, ganz gut – besser und immer besser. Sie sind der Herr, von dem wir gehört haben. Ja, wir kennen Sie, Herr Pickwick, wir kennen Sie.«
»Diese verwünschten Zeitungsberichte über meinen Prozeß!« dachte Herr Pickwick. »Sie wissen alles von mir.«
»Sie sind der Herr, der in Clapham Green wohnt und den Gebrauch seiner Glieder dadurch verlor, daß er sich erkältete, nachdem er Portwein getrunken – der sich wegen heftiger Schmerzen nicht rühren konnte, und dem man das Wasser vom Königsbad hundertunddrei Grad stark nach London auf sein Zimmer schickte, wo er badete, nieste und an demselben Tage wieder genas. Äußerst me-erkwürdig!«
Herr Pickwick erkannte das in dieser Annahme liegende Kompliment an, besaß jedoch Selbstverleugnung genug, es gleichwohl abzulehnen, und benutzte ein augenblickliches Stillschweigen des Herrn Bantam, um ihm seine Freunde, die Herren Tupman, Winkle und Snodgraß vorzustellen. Natürlich war der Kurdirektor ganz überwältigt von Entzücken und Ehre.
»Bantam«, sagte Herr Dowler: »Herr Pickwick und seine Freunde sind Fremde. Sie müssen ihre Namen einschreiben. Wo ist das Buch?«
»Das Verzeichnis der ausgezeichneten Gäste in Ba-ath wird um zwei Uhr im Brunnensaal aufliegen«, erwiderte der Kurdirektor. »Wollen Sie vielleicht unsre Freunde in dieses Prachtgebäude führen und mich in den Stand setzen, ihre persönlichen Namensunterschriften zu bekommen?«
»Sehr gern«, versetzte Dowler. »Das ist übrigens ein langer Besuch. Es ist Zeit, daß wir gehen: ich werde in einer Stunde wieder hier sein. Kommen Sie!«
»Es ist heute abend Ball«, sagte der Kurdirektor und ergriff zum Abschiede Herrn Pickwicks Hand abermals. »Die Ballabende in Ba-ath sind paradiesische Momente, zauberhaft durch Musik, Schönheit, Eleganz, guten Ton, Etikette – und – und – durch die Abwesenheit aller Handels- und Gewerbsleute, die sich mit dem Begriff eines Paradieses durchaus nie vereinigen lassen und alle vierzehn Tage in Guildhall als gleich zu gleich sich gern gesellen, was zum mindesten merkwürdig ist. Adieu indessen!«
Und nachdem er die ganze Treppe hinab beteuerte, er sei unendlich befriedigt, entzückt, überwältigt und geschmeichelt, stieg Angelo Cyrus Bantam, Esquire und Kurdirektor, in einen sehr eleganten Wagen, der ihn vor der Tür erwartete, und rasselte davon.
Zur bestimmten Stunde begaben sich Herr Pickwick und seine Freunde von Dowler begleitet nach dem Brunnensaal und schrieben ihre Namen in das Fremdenbuch ein – ein Beweis von Herablassung, wodurch sich Angelo Bantam noch mehr überwältigt fühlte als zuvor. Die ganze Gesellschaft sollte Einlaßkarten zur Abend- Reunion haben; allein, da sie noch nicht fertig waren, so erklärte Herr Pickwick trotz aller Gegenvorstellungen Angelo Bantams, er werde um vier Uhr seinen Sam nach der Wohnung des Kurdirektors in Queensquare schicken, um sie abzuholen. Nachdem sie sofort einen kurzen Spaziergang durch die Stadt gemacht und einstimmig erklärt hatten, die Parkstraße habe sehr große Ähnlichkeit mit jenen senkrechten Straßen, die man in Träumen sieht und um alles in der Welt nicht hinaufgehen kann, kehrten sie in den Weißen Hirsch zurück, und Sam wurde mit dem eben erwähnten Auftrag fortgeschickt.
Sam Weller setzte seinen Hut sehr leicht und graziös auf den Kopf, steckte die Hände in die Seitentaschen und schritt mit gutem Bedacht nach Queensquare, indem er unterwegs etliche der beliebtesten Lieder des Tags, wie sie mit ganz neuen Variationen für das edle Instrument, Leierkasten genannt, komponiert wurden, vor sich hin pfiff. Vor der ihm bezeichneten Nummer in Queensquare angelangt, hörte er auf zu pfeifen und klopfte munter ans Haus, das sogleich von einem bepuderten Portier in prachtvoller Livree und von ebenmäßigem Körperbau geöffnet wurde.
»Wohnt hier Herr Bantam, Kollege?« fragte Sam Weller, nicht im mindesten eingeschüchtert durch den Strahlenglanz, den die Person des gepuderten Lakaien mit der prachtvollen Livree um sich verbreitete.
»Warum, junger Mann?« war die stolze Gegenfrage des Gepuderten.
»Weil Sie, wenn es sich so verhält, mit dieser Karte zu ihm gehen und ihm sagen sollen, Herr Weller sei da. Ist’s gefällig?« sagte Sam, trat dabei höchst kaltblütig in die Hausflur und setzte sich nieder.
Der gepuderte Lakai schlug die Tür heftig zu und schnitt ein grimmiges Gesicht; allein diese beiden Demonstrationen verfehlten ihren Eindruck auf Sam, der mit allen äußern Zeichen kritischer Billigung einen Mahagonischrank betrachtete.
Offenbar hatte die Art, wie sein Herr die Karte aufgenommen, den Gepuderten günstiger für Sam gestimmt; denn er kehrte freundlich lächelnd zurück und sagte, die Antwort werde sogleich folgen.
»Schon gut«, erwiderte Sam. »Sagen Sie dem alten Herrn, er brauche sich nicht zu eilen. Es hat keine große Eile, Herr Sechsfuß. Ich habe bereits zu Mittag gespeist.«
»Sie speisen also früh, Sir?« bemerkte der Gepuderte.
»Ich finde, daß mir dann das Abendessen besser schmeckt«, erwiderte Sam.
»Sind Sie schon lange in Bath, Sir?« fragte der Gepuderte. »Ich habe noch nie das Vergnügen gehabt, von Ihnen zu hören.«
»Ich habe bisher noch kein großes Aufsehen hier gemacht«, erwiderte Sam, »denn ich und die anderen Herren sind erst heute abend angekommen.«
»Ein schöner Ort, Sir«, meinte der Gepuderte.
»Scheint so«, bemerkte Sam.
»Eine angenehme Gesellschaft, Sir«, fuhr der Portier fort. »Sehr artige Dienerschaften, Sir.«
»Das will ich meinen«, erwiderte Sam. »Freundliche, nicht eingebildete Leute, die nicht viel Federlesens machen.«
»Ja, das ist wahr, Sir«; sagte der gepuderte Lakai, der Sams Bemerkung offenbar für ein großes Kompliment hielt. »Das ist wahr. Belieben Sie ein Prischen, Sir?« fügte er hinzu, indem er ihm eine kleine Schnupftabaksdose mit einem Fuchskopf auf dem Deckel hinbot.
»Ich muß zu sehr niesen«, erwiderte Sam.
»Ja, Sir«, sagte der lange Portier, »das Schnupfen ist allerdings schwer; doch nach und nach geht es schon. Am besten lernt man es am Kaffee. Ich habe lange Kaffe geschnupft, Sir. Er sieht ganz aus, wie der Rappee7.«
Hier versetzte ein scharfes Klingeln den gepuderten Lakaien in die schmähliche Notwendigkeit, den Fuchskopf wieder einzustecken und mit unterwürfiger Miene in Herrn Bantams »Studierzimmer« zu eilen. Beiläufig gesagt, wir haben nicht leicht einen Mann gekannt, der lesen oder schreiben konnte, und nicht irgendein kleines Hinterzimmer in seinem Hause sein Studierzimmer genannt hätte.
»Hier ist die Antwort, Sir«, sagte der Gepuderte. »Ich fürchte fast, sie ist ihrer Größe wegen etwas unbequem.«
»Hat nichts zu sagen«, erwiderte Sam, einen Brief in einem kleinen Kuvert in Empfang nehmend. »Möglich, daß meine erschöpfte Natur das noch tragen kann.«
»Ich hoffe, wir werden uns wiedersehen, Sir«, sagte der Gepuderte, indem er sich die Hände rieb und Sam bis an die Tür begleitete.
»Sie sind gar zu gütig, Sir«, erwiderte Sam. »Strengen Sie sich nur nicht über Ihre Kräfte an. Bedenken Sie, was Sie der menschlichen Gesellschaft schuldig sind, und schaden Sie sich nicht durch zu vieles Arbeiten. Um Ihrer Mitgeschöpfe willen halten Sie sich so ruhig wie möglich, und überlegen Sie wohl, wie schmerzlich man Ihren Verlust empfinden würde.«
Mit diesen pathetischen Worten entfernte sich Sam wieder.
»Ein höchst sonderbarer junger Mensch«, meinte der bepuderte Lakai, Herrn Weller mit einer Miene nachblickend, in der deutlich geschrieben stand, daß er aus ihm nicht klug werden konnte.
Sam seinerseits sprach nichts mehr. Er blinzelte, schüttelte den Kopf, lächelte, blinzelte abermals und lief lustig seines Wegs dahin, mit einem Ausdruck auf seinem Gesicht, das nicht daran zweifeln ließ, daß ihm irgend etwas großes Vergnügen machen müsse.
Präzis zwanzig Minuten vor acht Uhr am selben Abend sprang Angelo Cyrus Bantam, Esquire, der Kurdirektor, vor dem Kurhaus aus seinem Wagen mit derselben Perücke, denselben Zähnen, derselben Uhr nebst Petschaft, denselben Ringen, derselben Busennadel und demselben Stocke. Die einzigen bemerkbaren Veränderungen in seinem Aufzuge bestanden darin, daß er einen noch glänzenderen blauen Frack mit weißseidenem Futter, enge, schwarze Beinkleider, schwarze seidene Strümpfe, Tanzschuhe und eine weiße Weste trug, und dabei womöglich noch etwas süßer duftete.
So geschmückt, begab sich der Kurdirektor zur pünktlichen Erfüllung der wichtigen Obliegenheiten seines hochwichtigen Amtes in die Gemächer, um die Gesellschaft zu empfangen.
Da Bath sehr besucht war, so strömten sowohl Gäste wie Fünfpfennig-Kavaliere zum Tee in Massen herein. Im Ballsaal, in dem achteckigen Spielzimmer, in dem langen Spielzimmer, auf den Treppen und in den Gängen, überall herrschte Gedränge und verworrenes Summen, so daß man kaum sein eigen Wort hörte. Kleider rauschten, Federn schwankten, Kerzen leuchteten und Juwelen funkelten. Musik ertönte – nicht die Tanzmusik, die noch nicht begonnen hatte, sondern die Musik zarter und sanfter Fußtritte, und dann und wann jenes leise Kichern und Flüstern weiblicher Stimmen, das so angenehm für das Ohr ist – in Bath, wie überall. Von allen Seiten glänzten und funkelten strahlende Augen voll wonniger Erwartung. Wohin man blickte, schwebte eine herrliche Gestalt anmutvoll durch das Gedränge, und war kaum verschwunden, als eine andere, ebenso schöne und bezaubernde an ihre Stelle trat.
Im Teezimmer und an den Kartentischen erblickte man eine große Anzahl wunderlich ausstaffierter alter Damen und abgelebter alter Herren, die all das abgeschmackte Tagesgeschwätz und Geklatsch mit sichtbarer Freude und Vergnügen abhandelten. Unter diesen Gruppen befanden sich drei oder vier Ballmütter, die ihre Töchter gern unter die Haube gebracht hatten und in die Unterhaltung, an der sie teilnahmen, ganz vertieft zu sein schienen, dabei aber nicht ermangelten, von Zeit zu Zeit ihren lieben Kinderchen besorgte Seitenblicke zuzuwerfen. Diese, der mütterlichen Ermahnungen, ihre Blütezeit zu benutzen, eingedenk, hatten bereits ihre kleinen Koketterien begonnen, indem sie absichtlich verlegte Halstücher suchten, Handschuhe anzogen, Tassen auf den Tisch stellten usw.; dem ersten Anschein nach unbedeutende Dinge, mit denen man aber bei einiger Übung und Erfahrung erstaunlich viel erreichen kann.
An den Türen und den entfernten Winkeln trieben sich größere oder kleinere Haufen alberner junger Herren herum, naseweise Zierbengel, die durch kindisches Benehmen und Abgeschmacktheiten allen verständigen Leuten zum Gespött wurden. Sie fühlten sich überglücklich in dem Gedanken, Gegenstände der allgemeinen Bewunderung zu sein – eine weise, barmherzige Fügung Gottes, worüber kein gutgesinnter Mensch klagen kann.
Auf einigen der hintern Bänke endlich hatte eine Anzahl unverheirateter Damen, die ihr gefährliches Alter bereits hinter sich hatten, ihre Plätze für den Abend eingenommen. Sie tanzten nicht, weil sich keine Tänzer für sie fanden, spielten auch nicht Karten, um nicht unrettbar ledig zu bleiben. Daher befanden sie
sich in der günstigen Lage, über jedermann schimpfen zu können, ohne an sich selbst zu denken, – wir sagen: über jedermann, denn es war alles da, und alles war Fröhlichkeit, Glanz und Pracht, lauter elegant gekleidete Herren und Damen, prachtvolle Spiegel, glänzende Fußböden, duftende Blumenkränze, strahlende Wachskerzen. Überall aber hüpfte in stiller Freundlichkeit von Ort zu Ort, bald vor dieser Gesellschaft demütig sich verbeugend, bald jener vertraulich zuwinkend und alle wohlgefällig anlächelnd, die zierlich geschniegelte Person des Kurdirektors Angelo Cyrus Esquire umher.
»Kommen Sie in das Teezimmer. Trinken Sie für Ihre sechs Pence. Man gießt siedendes Wasser auf und nennt es Tee. Trinken Sie«, sagte Herr Dowler mit lauter Stimme zu Herrn Pickwick, der mit Frau Dowler am Arm der kleinen Gesellschaft voranging.
Herr Pickwick verfügte sich in das Teezimmer, und als Herr Vantam, Esquire umher.[** hier fehlt etwas**] zieher durch das Gedränge und bewillkommte ihn mit Begeisterung.
»Mein teurer Herr, ich fühle mich unendlich geehrt. Ba-ath darf sich glücklich schätzen. Madame Dowler, Sie verschönern diese Räume. Ich gratuliere Ihnen zu Ihren Federn. Fa-belhaft.«
»Sind Herrschaften hier?« fragte Dowler zweifelhaft.
»Herrschaften! – Die Elite von Ba-ath! Herr Pickwick, sehen Sie die Dame dort mit dem Gazeturban.«
»Die dicke alte Frau?« fragte Herr Pickwick unschuldig.
»Pst, mein teurer Herr – in Ba-ath ist niemand dick oder alt. Es ist die verwitwete Lady Snuphanuph.«
»Wirklich?« fragte Herr Pickwick.
»Wie ich Ihnen sage, keine geringere Person«, entgegnete der Kurdirektor. »Kommen Sie doch näher, Herr Pickwick. Sie sehen wohl den prachtvoll gekleideten jungen Herrn dort?«
»Den mit den langen Haaren und der auffallend niedrigen Stirne?« fragte Herr Pickwick.
»Ja; das ist gegenwärtig der reichste junge Mann in Ba-ath, der junge Lord Mutanhed.«
»Donnerwetter!« sagte Herr Pickwick.
»Sie werden ihn sogleich sprechen hören, Herr Pickwick. Er wird sich mit mir unterhalten. Der andere Herr bei ihm mit der roten Weste und dem dunklen Backenbart ist der ehrenwerte Herr Crushton, sein Busenfreund. Wie befinden Sie sich, Mylord?«
»Sehw heiß hiew, Bantam«, bemerkte seine Lordschaft, die beim Aussprechen des ›R‹ einige Schwierigkeiten fand.
»Es ist allerdings sehr warm, Mylord«, bemerkte der Kurdirektor.
»Verteufelt heiß«, bekräftigte der ehrenwerte Herr Crushton.
»Haben Sie den Postwagen Seiner Herrlichkeit schon gesehen, Bantam?« fragte er nach einer kurzen Pause, während der der junge Lord Mutanhed Herrn Pickwick durch vornehm stolzes Mustern aus der Fassung zu bringen versuchte und Herr Crushton sich besonnen hatte, über welchen Gegenstand Seine Herrlichkeit wohl am besten sprechen könne.
»Nein, noch nicht«, antwortete der Kurdirektor. »Ein Postwagen? Welch ein herrlicher Einfall! Me-erkwürdig!«
»Gütigew Gott«, sagte Seine Lordschaft, »ich dachte, jedewmann müsse den neuen Postkawwen schon gesehen haben; es ist das netteste, ziemlichste, awtigste Ding, was je auf Wädewn gelaufen ist, woth angemalt und mit einem isabellfawbigen Schecken davow.«
»Und mit einem wirklichen Briefkasten, alles ganz vollständig«, setzte der ehrenwerte Herr Crushton hinzu.
»Und einem kleinen Nowsitz mit eisewnew Lehne füw den Kutschew«, ergänzte Seine Lordschaft. »Ich fuhw gestewn Mowgen damit in einem Kawmoisinwock nach Bwistol und ließ zwei Dienew eine Viewtelstunde hinten nachweiten; und da waw es zu schön, wie die Leute aus den Häusewn stüwzten und mich anhielten und fwagten, ob ich nichts füw sie hätte. Das waw ein Hauptspaß.«
Bei dieser Anekdote lachte Seine Lordschaft recht herzlich und die Zuhörer natürlich auch. Sodann schob er seinen Arm durch den des dienstfertigen Herrn Crushton und entfernte sich.
»Ein entzückender junger Mann, dieser Lord«, sagte der Kurdirektor.
»Es scheint so«, bemerkte Herr Pickwick trocken.
Nachdem alle nötigen Einleitungen und Anordnungen zum Tanze getroffen waren und derselbe seinen Anfang genommen hatte, suchte Angelo Bantam Herrn Pickwick wieder auf und führte ihn ins Spielzimmer.
Eben als sie eintraten, umschwebten die verwitwete Lady Snuphanuph und zwei andere Damen von antikem, whistlustigem Aussehen einen unbesetzten Spieltisch. Kaum erblickten sie Herrn Pickwick in Begleitung des Herrn Angelo Bantam, so wechselten sie bedeutsame Blicke mit einander, in denen klar und unverkennbar lag, das sei gerade der Mann, dessen sie bedürften, um ein Spielchen zu machen.
»Mein lieber Bantam«, sagte die verwitwete Lady Snuphanuph in schmeichelnder Weise, »tun Sie uns doch den Gefallen und suchen Sie uns einen passenden Mitspieler.«
Da Herr Pickwick in diesem Augenblick zufällig nach einer andern Seite sah, so winkte Ihre Herrlichkeit mit dem Kopf nach ihm und runzelte ausdrucksvoll die Stirne.
»Mylady«, sagte der Kurdirektor, der den Wink verstand, »mein Freund, Herr Pickwick, wird sich unendlich glücklich schätzen. Herr Pickwick – Lady Snuphanuph – Frau Oberst Wugsby – Fräulein Bolo.«
Herr Pickwick verbeugte sich vor jeder der drei Damen, und da er einsah, daß hier kein Entrinnen war, so ergab er sich in sein Schicksal. Herr Pickwick und Fräulein Bolo spielten gegen Lady Snuphanuph und die Frau Oberst Wugsby.
Eben als die zweite Partie begann und der Trumpf schon auflag, rannten zwei junge Damen ins Zimmer und stellten sich von beiden Seiten neben dem Stuhl der Frau Oberst Wugsby auf, wo sie geduldig warteten, bis das Spiel vorüber war.
»Nun, Jane«, sagte die Frau Oberst, sich gegen eines der Mädchen wendend, »was gibt’s?«
»Ich möchte Sie nur fragen, Mama, ob ich mit dem jüngsten Herrn Crawlei tanzen darf«, flüsterte die hübschere und jüngere der beiden Töchter.
»Um Gottes Willen, Jane, wie kannst du an so etwas denken?« erwiderte die Mutter entrüstet. »Hast du nicht schon oft genug gehört, daß sein Vater bloß achthundert Pfund jährlich besitzt, die mit seinem Tode wegfallen? Ich muß mich für dich in die Seele hinein schämen. Nein, um keinen Preis.«
»Mama«, flüsterte die andere, die viel älter als ihre Schwester und dabei unendlich einfältig und affektiert war, »Lord Mutanhed ist mir vorgestellt worden. Ich habe gesagt, ich sei, glaube ich, nicht engagiert, Mama.«
»Du bist mein liebes Kind«, erwiderte die Frau Oberst, mit dem Fächer auf die Wange der Tochter klopfend; »auf dich kann ich mich immer verlassen. Er ist unermeßlich reich, meine Liebe. Gott segne dich.«
Mit diesen Worten küßte sie ihre älteste Tochter aufs zärtlichste, runzelte gegen die andere warnend die Stirn und mischte die Karten.
Der arme Herr Pickwick! Er hatte noch nie mit drei ausgelernten Whistspielerinnen gespielt. Sie waren so verzweifelt aufmerksam, daß ihm angst und bang wurde. Spielte er eine falsche Karte aus, so drohte ihm ein ganzes Arsenal von Dolchen aus den Augen der Miß Bolo; besann er sich einen Augenblick, so warf sich Lady Snuphanuph in ihren Stuhl zurück und lächelte mit einem teils ungeduldigen, teils mitleidigen Blick der Frau Oberst Wugsby zu, worauf Frau Oberst Wugsby die Achseln zuckte und hustete, als wollte sie sagen, es werde sie doch wundern, wann er endlich beginne. Nach jedem Spiel fragte Miß Bolo mit verdrießlichem Gesicht und vorwurfsvollem Seufzer, warum Herr Pickwick nicht Karo nachgespielt, oder Kreuz angespielt, oder Pik gestochen, oder Herz gebracht, oder das Aß herausgeholt, oder auf den König gespielt habe, oder sonst etwas Ähnliches. Auf alle diese schweren Vorwürfe wußte Herr Pickwick schlechterdings keine Rechtfertigung vorzubringen, weil er inzwischen das ganze Spiel vergessen hatte. Überdies störte es ihn, daß alle Augenblicke Leute kamen und zusahen. Hauptsächlich aber brachte ihn Angelo Bantam aus dem Konzept, der ganz in der Nähe mit den beiden Fräulein Matinter plauderte, die sitzengeblieben waren und deshalb dem Kurdirektor große Aufmerksamkeit schenkten, um durch seine Vermittlung wenigstens hier und da einen übrig gebliebenen Tänzer zu bekommen. All das, verbünden mit dem Lärm der Musik und den vielen andern Unterbrechungen durch das beständige Auf- und Abgehen von Zuschauern, machte, daß Herr Pickwick ziemlich schlecht spielte. Außerdem hatte er kein Glück, und als sie zehn Minuten nach elf Uhr aufhörten, erhob sich Fräulein Bolo in großer Aufregung vom Tische und ließ sich unter einer Flut von Tränen in einer Sänfte nach Hause tragen.
Herr Pickwick kehrte sofort mit seinen Freunden, die sämtlich versicherten, nicht leicht einen Abend angenehmer zugebracht zu haben, nach dem Weißen Hirsch zurück, und nachdem er seine Gefühle mit einigen warmen Flüssigkeiten beschwichtigt, ging er zu Bett, um augenblicklich einzuschlafen.