Kapitel 5

 

Mitternacht war vorüber, als wir uns dem Ziel unsrer Wanderung näherten. Anka schlief längst, den Kopf auf meinem Schoß. Zuletzt ging es noch eine Stunde lang steil aufwärts durch den Wald unter der Eskorte einer Schar von Leuten, die man mit Windlichtern versehen und uns entgegengeschickt hatte. Wir erreichten endlich die Platte eines stumpfen Bergkegels und rollten im raschen Trabe einer dunklen Masse zu, deren Umrisse in den wallenden Nebeln verschwammen. Nur ein schlanker Turm löste sich scharf und deutlich vom Hintergrund des Horizontes ab, den der verschleierte Mond mit fahlem Schimmer erhellte. Plötzlich ging ein Riß durch die Nebel, in dem Düster vor uns flammte es auf, und wie riesige rote Feuerzungen erglänzten die Fenster der Kapelle, in der die letzte Nachtwache am Sarge der Gräfin gehalten wurde.

Nun rasselten unsre Wagen über eine hölzerne Brücke und durch eine Einfahrt, des wildesten Raubschlosses würdig: hoch, düster und ganz mittelalterlich, von Fackeln erleuchtet, die in eisernen Ringen an den schwarzen Mauern staken.

Die Herren wurden von der männlichen Dienerschaft über die Treppe geleitet, Anka und mich nahmen die Frauen in Empfang. Francine half mir, das Kind, das nicht zu erwecken war, nach den für uns vorbereiteten Zimmern tragen. Sie lagen im Hochparterre, und wir gelangten zu ihnen nach einer Wanderung durch öde Gänge, die mir endlos schienen. An der Schwelle begrüßte uns Peterl taumelnd, mit Augen, die vor Schläfrigkeit ganz schief standen, und lallte die Meldung, das Abendessen sei aufgetragen. Wir traten ein. Nicht ein paar Zimmer, eine lange Reihe von Zimmern hatte man für uns zurechtgemacht, alle geräumig, unregelmäßig und, soviel sich bei dem schwachen Scheine der Wachskerzen, die auf den Tischen flackerten, erkennen ließ, mit großem, wenn auch längst überlebtem Luxus eingerichtet. Es herrschte darin der seltsame Duft, der gutgehaltenen, aber unbewohnten Gemächern alter Schlösser eigentümlich ist, eine Mischung von Kampfer-, Moschus-und Staubgeruch – parfümierter Moder dünkt mich die beste Bezeichnung dafür. Anka wurde zu Bett gebracht, Francine und die Stubenmädchen empfahlen sich, und meine Wenigkeit stand vor dem Lager, das man ihr angewiesen hatte, und betrachtete es mit fröstelnder Scheu. Lange konnte ich mich nicht entschließen, die Stufen zu ersteigen, die, mit verschossenem rotem Sammet überzogen, zu der feierlichen Schlafstelle emporführten.

Mit ihrem reichen, zum Teil vergoldeten Schnitzwerk, ihren schweren Säulen und dem Himmel aus Damast, der all die Herrlichkeiten überwölbte, war sie ebenso prachtvoll wie unheimlich. Wenn sich von den hochaufgespeicherten Kissen die Ahnfrau des Hauses erhoben und mich mit erloschenen Augen angestarrt hätte – ich würde mich gefürchtet, aber nicht gewundert haben. Mehr als einmal wanderte ich zu Anka zurück, um mir Ermutigung zu holen aus dem Anblick ihres friedlichen Schlummers, bevor ich mich endlich entschloß, meinerseits Ruhe zu suchen. Ich fand keine, ich wagte nicht das Licht zu löschen, erwartete jeden Augenblick die Kleine aus ihren Träumen aufschrecken und nach mir rufen zu hören. Erst als die aufgehende Sonne ihre ersten Strahlen durch die Fenster warf, übermannte mich die Müdigkeit, und ich sank in tiefen Schlaf. Anka weckte mich mit gewohntem Ungestüm schon nach ein paar Stunden. Sie wollte sich in ihrem schwarzen Staat bewundern lassen und mir auch sagen, sie fühle schon einige Traurigkeit kommen, seitdem man ihr Trauerkleider angezogen hätte.

Am Nachmittag fand die Beerdigung der Gräfin statt. Man hatte vergeblich auf das Eintreffen ihrer Mutter gewartet, sie erschien nicht und sandte auch keine Kunde; erst am folgenden Morgen brachte ein reitender Bote, der sich unterwegs verspätet hatte, die Absage. Die Gräfin fühlte sich zu angegriffen, um die Fahrt von ihrem zwei Tagereisen entfernten Gute wagen zu dürfen. Sie hatte bis zum letzten Augenblick an den Ernst der Krankheit ihrer Tochter nicht glauben wollen, sie mußte von der Todeskunde wie von einem Blitzstrahl getroffen worden sein. Ich fand ihr Ausbleiben sehr begreiflich und tadelte Francine, die ihre Glossen darüber machte. Die Bonne hatte mehrere Jahre hindurch das, wie ich glaube, nicht besonders anstrengende Amt einer Vorleserin bei der Gräfin versehen und behauptete, sie zu kennen wie niemand. Wegen dieser Vertrautheit mit den Lebensgewohnheiten ihrer einstigen Gebieterin hatte Francine den Auftrag erhalten, die Vorbereitungen zum Empfang der alten Dame zu überwachen. Allein sie war mit gekreuzten Armen müßig dabeigestanden, immer nur wiederholend: ›Oh, Madame la Douairière kommt nicht dahin, wo man weint.‹

Als ihre Vorhersagung bestätigt wurde, triumphierte sie. Sie hatte es gewußt, sie war wie von ihrem Dasein überzeugt, die Gräfin denke vorderhand nur daran, sich zu zerstreuen. Ihre lebendige Tochter war von ihr geliebt worden, o gewiß! die tote möchte sie aus dem Gedächtnis streichen können.

Francine schwatzte so viel, daß ich mir fast abgewöhnt hatte, ihr zuzuhören. Diese Worte jedoch fielen mir unwillkürlich wieder ein, als ich die Gräfin kennenlernte … aber halt! Das kommt erst später, ich mag nicht wieder nachzuholen haben. Was jetzt kam, war eine Reihe von gleichförmig stillen und trüben Tagen. Unendlicher Regen fiel vom Himmel, wir konnten nicht ins Freie. Anka, die mit einer großen Dosis Rastlosigkeit gesegnet war, machte sich Bewegung auf den Gängen. Ihr größtes Vergnügen fand sie darin, die unbewohnten Räume des Schlosses zu durchwandern. ›Oh, Fräulein! Erlauben Sie, daß ich die antiken Zimmer aufsperren lasse, die antiken! die antiken!‹ rief sie mit ihrer dünnen Fistelstimme und stieß das ›i‹ so gellend heraus, daß es mir wie eine Nadel ins Ohr drang. Ach, was hatte ich oft zu tun, um die Ungeduld zu bemeistern, in die mich dieses Kind zu versetzen wußte!

Die Frau des Kastellans wurde geholt, erschien mit ihrer taubstummen Tochter und mit ihrem Schlüsselbunde und öffnete vor uns lange Galerien und weite Säle und kleine, winklige Stübchen, alles eingerichtet, alles angefüllt mit Möbeln, Geräten und Kunstwerken aus entschwundenen Jahrhunderten. Dieses Schloß, von außen so häßlich und kahl, ein viereckiger Kasten auf hohem Unterbau von zyklopischem Mauerwerk, mit plumpen Türmen, mit kleinen, unregelmäßigen Fenstern, barg in seinem Innern einen Reichtum an köstlichen Altertümern, der heutzutage den Stolz jedes Museums ausmachen würde. Damals legte man auf die Reliquien der Vorfahren geringen Wert; man ließ sie an ihrer Stelle stehen, weil sie seit undenklichen Zeiten dastanden und niemand genierten. Liebe für diese Sachen besaß nur die Kastellansfamilie, in der sich die mit ihnen verknüpften Traditionen von Kind auf Kindeskind vererbt hatten. Unsere Führerin offenbarte jedoch höchst widerwillig ihre Kenntnis der Geschichte des gräflichen Hauses. Jede Auskunft, nach der man verlangte, mußte ihr abgerungen werden. Es hieß, sie habe zwischen ihrem verstorbenen Mann, der ein Schwätzer gewesen, und ihrer stummen Tochter das Sprechen verlernt. Auf meine Fragen antwortete sie gewöhnlich nur mit einem Nicken, auf die Ankas mit Ja oder Nein. Und dabei neigte ihre große, schattenhafte Gestalt sich ehrfurchtsvoll und feierlich, ihre blassen Lippen zitterten leise, und sie schien in Demut zu erstreben vor ihrer jungen Gebieterin, dem Sprößling so vieler Generationen, deren tote Schätze zu hüten ihre Lebensaufgabe war. Diese Huldigungen hatten etwas Unheimliches, wie das Weib, das sie spendete, und wie die Umgebung, in der wir uns befanden; ich freute mich immer, wenn Anka sich endlich müde gegangen und geschaut hatte und wir in unsere doch auch nichts weniger als heitere Wohnung zurückkehrten. Am liebsten hätte ich aber wieder einmal frische Waldluft geatmet, und ich empfand es wie ein Gnadengeschenk des Himmels, als wir eines Morgens bei hellem Sonnenschein erwachten. Es war gerade der für die Abreise der Schloßgäste bestimmte Tag. Den jungen Herren brannte schon, wie ich durch Anka hörte, der Boden unter den Füßen. Sie wissen ja, in welcher Zeit wir damals lebten. Österreich bereitete sich zu neuem Kriege gegen Napoleon vor. Man hat ihn später den Koalitionskrieg genannt; warum weiß ich nicht, da wir ihn doch ganz allein ausfechten mußten. Eine Kampfbegeisterung ohnegleichen war im ganzen Lande entbrannt, alle Provinzen rüsteten. Was jung war oder sich so fühlte, arm und reich, niedrig- und hochgeboren lief zu den Fahnen, die jüngsten Knaben wünschten Männer zu sein, um zu den Waffen greifen zu können gegen den Zwingherrn der Welt. Am wütendsten gehaßt in unserm Hause wurde dieser von der legitimistisch gesinnten Francine. Sie blies ihre Gefühle auch der kleinen Anka ein, die nur noch von der Vernichtung des Emporkömmlings träumte, zu der ihre drei jungen Oheime das meiste beitragen sollten. Die Brüder der seligen Gräfin waren im Begriff, sich in Wien für die Dauer des Feldzugs anwerben zu lassen, Graf Stephan begab sich zu seinem Regiment.

Die Stunde der Abreise kam, die Wagen fuhren vor, und Anka wurde zum Grafen gerufen, um Abschied von ihren Verwandten zu nehmen. Sie hatte unser Zimmer kaum verlassen, als ich im Vorgemach die Stimme des Grafen Stephan hörte, der eine Frage an die Kammerfrau richtete, ohne die Antwort abzuwarten vorwärts eilte und plötzlich vor mir stand. ›Wo ist Anka? Ich möchte ihr Lebewohl sagen‹, sprach er, und als ich erwidert hatte, sie sei bei ihrem Vater, stieß er mühsam das Bekenntnis hervor, das habe er gewußt und eben deshalb sei er gekommen. Er wolle nicht mehr lügen, er sei fertig mit der Lüge für alle Zeit. Er wisse, wie schlecht meine Meinung von ihm sei, und würde sie gern verbessert haben, nicht durch Worte, sondern durch seine Lebensführung. Dazu brauche es aber Zeit, und so wolle er jetzt dennoch sprechen. ›Ich bin nicht so verworfen, wie Sie denken. Mein ganzes Unrecht war, daß ich nicht den Mut hatte, einer – glauben Sie mir! – unschuldigen Jugendschwärmerei ein Ende zu machen, zu sagen: Es ist aus!… Die Ehre eines andern habe ich nie verletzt. Glauben Sie mir!… Ich stehe vielleicht bald vor Gott. Glauben Sie mir auch, daß ich einen Ekel an meinem Treiben empfand von der Stunde an, in der ich Sie kennengelernt habe. Leben Sie wohl, Fräulein Helene. Wenn ich wiederkomme, werde ich ein Besserer geworden sein. Erlauben Sie mir, Ihnen dann in Ehrfurcht zu nahen. Wenn ich nicht wiederkomme, wenn Sie hören, daß ich tot bin, beten Sie ein Vaterunser für mich.‹ Er schwieg und bot mir die Hand. Unwillkürlich zog ich die meine zurück … Ich sah ihn erbleichen, und bevor ich mich besann, bevor ich ein Wort des Abschieds sprechen konnte, hatte er das Zimmer verlassen.«

»Das wird Ihnen doch leid gewesen sein«, fiel ich der Hofrätin ins Wort, »denn der bleibt, der arme, junge Mensch, das sieht man voraus, der bleibt bei Eckmühl oder Regensburg.«

»Leid?« wiederholte die Hofrätin und strickte emsig fort. »Ich will Ihnen aufrichtig gestehen – nein. Im ersten Augenblick empfand ich nichts als die Wohltat, von einem Menschen, dessen Nähe mich beängstigte, befreit zu sein. Es gibt nichts so Hartherziges wie ein junges Mädchen dem Manne gegenüber, den es gerichtet hat; und gerichtet hatte ich ihn. Was wußte ich damals von einem Verrat, der dem Nächsten an die Ehre geht oder nicht geht. Verrat ist’s einmal, und ich litt für den, an dem er verübt, dem das Herz seiner Frau entwendet worden war. So wenig ich diese Frau begreifen konnte, so unverzeihlich ihr Vergehen in meinen Augen war, bedauerte ich sie doch. Sie hatte gewiß viel gelitten und wenige Tage vor ihrem Ende noch die demütigende Eifersucht auf ein untergeordnetes Wesen kennenlernen müssen, vielleicht sogar geahnt, daß Stephan mit ihr nur gespielt hatte. All dies war nicht geeignet, Mitleid für den Scheidenden in mir aufkommen zu lassen, und ich befand mich, nachdem er gegangen, keineswegs in weicher Stimmung. Dennoch berührte es mich peinlich, als Anka bald darauf hereinlief und mit übermütiger Lustigkeit auf die Melodie des ›Pulverstofferl‹ die selbsterfundenen Worte sang: ›Sie fahren fort, sie fahren fort, sie fahren in den Krieg.‹«

»Was machte sie denn gar so lustig?« warf ich ein.

»Ich glaube, nur der Ernst, den sie auf allen Gesichtern sah. Ja, sie war ein merkwürdiges Kind und ist doch eine so wenig merkwürdige Frau geworden … Ich sagte Ihnen, daß die Antwort, die sie mir einst in bezug auf ihre Puppe gab, prophetisch gewesen ist. In der Tat hat meine Anka auch später nie etwas anderes geliebt als ihren Vater und einen Popanz. Der zweite freilich war lebendig, war ihr Gemahl; er wurde von ihr unter einer Schar von Bewerbern, die der Majoratskomtesse nicht fehlten, auserkoren. Ihr Vater widersetzte sich ihrer Verbindung mit dem schönen, aber ganz hohlen, fischblütigen Menschen. Anka bestand auf ihrem Willen, und er geschah. Ob sie unglücklich geworden ist, weiß ich nicht, aber daß sie unglücklich gemacht hat, davon hatte ich Gelegenheit mich zu überzeugen. Ihr Tod war eine Erlösung für ihre Kinder und ist als solche von ihnen empfunden worden, obwohl diese Kinder brave und warmherzige Menschen sind. Ja, warmherzig! die Kinder Ankas und ihres fürstlichen Clovek des Zweiten. Die Gelehrten erklären uns, wieso in gewissen Fällen Licht zu Licht gefügt Dunkelheit erzeugt; vielleicht vermögen sie auch Auskunft darüber zu geben, wieso aus der Verbindung von Kälte und Kälte – Wärme entspringen kann. Jetzt aber den Kaffee«, sagte die Hofrätin und zog den Glockenstrang: »Fortsetzung folgt.«