Kapitel 2
»Ich muß im Gegensatz zu so vielen meiner ehemaligen Standesgenossinnen sagen, daß mir die Gouvernante an der Wiege gesungen worden ist. Von Kindheit an hörte ich: Lerne, damit du lehren kannst; gehe den rechten Weg, um ihn andern weisen zu können. Der Wohlstand, den du jetzt genießest, erlischt, sobald sich die Augen deines Vaters schließen. Dann heißt es, selbst für dein Brot sorgen. Die Erinnerung an die Ratschläge und an das Beispiel deiner Eltern ist der ganze Reichtum, den du auf deinen Lebensweg mitbekommst.
Ich war achtzehn Jahre alt, als meine Mutter starb; bald darauf folgte der Vater ihr nach, und ich stand vereinsamt in der Welt. Ich bin eine uralte Frau, mein Gedächtnis fängt an mir untreu zu werden, aber die Empfindung, mit der ich nach dem Begräbnis meines Vaters unsere verlassene Wohnung wieder betrat, gehört zu den Dingen, die ich heute noch nicht vergessen habe.«
Ich blickte zu ihr hinüber. Sie hatte nicht aufgehört zu stricken, fleißig und lautlos wie immer. Kerzengerade, die Arme fest an den Leib geschlossen, saß sie da in ihrem eng anliegenden schwarzen Kleide, mit ihrer hohen, weißen Haube und den Locken an beiden Seiten der Stirn, die sich nur durch den Silberschimmer, der auf ihnen lag, von ihrer schneeigen Umrahmung unterschieden.
»Man ließ mir keine Zeit, meinem Schmerze nachzuhängen«, fuhr sie fort. »Wenige Wochen nach dem Tode meines Vaters brachte mich der Vormund, der mir bestellt worden war, als Erzieherin in eines unserer vornehmsten Häuser. Die Stellung war in jeder Hinsicht glänzend. Nur ein Zögling, ein siebenjähriges Mädchen, unumschränkte Herrschaft in meinem Gouvernantendepartement, äußerst vorteilhafte Bedingungen in der Gegenwart und – wenn ich meine Aufgabe zu Ende geführt hätte – eine gesicherte Zukunft.
Die Eltern meiner kleinen Anka hatten auf mich, als ich ihnen vorgestellt wurde, einen ungemein günstigen Eindruck gemacht. Beide jung, schön, liebenswürdig. Beide von der gewinnenden Höflichkeit, die sich von selbst versteht, sich wenigstens damals in der feinen Welt von selbst verstand. Sie erschienen mir einfachem Bürgerkind inmitten ihres Luxus, der alles überstieg, wovon ich je gehört oder geträumt hatte, ein wenig halbgottmäßig. Ich fand es ganz natürlich, daß ein Wesen, das so völlig einem Engel glich wie meine Gräfin, nur im Fluge an uns vorüberrauschen könne, daß man einer so himmlischen Erscheinung nicht zurufen dürfe: Verweile, laß dich ansehen, recht nach Herzenslust. Es wäre mir gar nicht eingefallen, ihr zuzumuten, daß sie sich in die Kinderstube setzen möge und Puppenkleider zuschneiden, einen Kreisel peitschen oder nach der Schreiblektion ein tintig gewordenes Fingerchen abwischen. Sie schien mir zu dergleichen viel zuwenig irdisch.«
»Ich bitte Sie!« erlaubte ich mir einzuwenden, »das war jugendliche Schwärmerei. Wenn man irdisch genug ist, um ein Kind in die Welt zu setzen, ist man’s auch, um das Kind zu betreuen … Und was die Schönheit betrifft, ich wette darauf, daß Sie mindestens ebenso schön gewesen sind wie Ihre Gräfin.«
»Nein!« entgegnete die Hofrätin. »Es ist gewiß so manches minder hübsche Gesicht, als das meine damals war, bewundert worden, aber mit der Gräfin ließ sich überhaupt niemand vergleichen – Märchenprinzessinnen und Engel ausgenommen. Dennoch war etwas, das mir die Freude an ihrem Anblick trübte: eine kränkliche Blässe, ein Ausdruck von Müdigkeit, der sich täglich deutlicher in ihren Zügen aussprach. Freilich war diese Müdigkeit eine natürliche Folge des Lebens, das die Gräfin führte. Eine angespannte, aufreibende Tätigkeit, wirkliche Arbeit schwerster Art hätten die junge Frau nicht mehr in Anspruch genommen als die Vergnügungen, denen sie sich hingab. Es war das Jahr der Vermählung des Kaisers Franz mit der Erzherzogin Luise von Este. Ein Taumel der Lust hatte das leichtsinnige Wien ergriffen. Die gute Stadt entschädigte sich für die Trauer, in welche sie durch die Schicksalsschläge versetzt worden war, die kurz vorher das Reich getroffen hatten. Meine Gräfin durfte bei keinem Feste fehlen; sie war im höchsten Grade, was man zu jener Zeit in der Gesellschaft ›répandiert‹ nannte, und ich dachte oft mit stiller Erbitterung: Du wirst dich so lange ›répandieren‹, bis dein letzter Lebensatem im Dienste nichtiger Zerstreuungen verhaucht sein wird.
Niemals rollte der Wagen, der die Herrschaften nach Hause brachte, vor drei oder vier Uhr morgens in die Einfahrt. Das Rasseln der Karosse, das Getrappel der Pferde weckte jedesmal die kleine Anka aus dem Schlaf. Sie stellte sich auf in ihrem Bette und spähte in den Hof hinab, in den unsere ganze Fensterreihe sah. Bis herauf stoben die Funken, qualmte der Rauch der Fackeln, die von den Läufern an den Ecksteinen ausgeschlagen wurden. Laut und lärmend ging es dort unten zu, indessen drüben im gegenüberliegenden Trakte des Palais zwei hohe Gestalten lautlos an den breiten Bogenfenstern des Ganges vorbeiglitten, in die hellerleuchtete Halle traten und hinter den Flügeltüren verschwanden, die voraneilende Lakaien geöffnet hatten.
Regelmäßig begann Anka dann zu weinen und verlangte nach dem Vater, für den sie überhaupt mehr Zärtlichkeit äußerte als für die Mutter. ›Aber ich will ihm gute Nacht sagen! Aber ich will ihm nur einmal – aber ich will ihm nur ein bißchen gute Nacht sagen!‹ jammerte sie und war nicht zu beschwichtigen. Ich sprach ihr zu, ich bat, befahl, schalt und drohte … ja, das half! – mir zu dem Gefühl meiner Ohnmacht der Kleinen gegenüber, sonst zu nichts. Sie schwieg nicht eher, als bis ihr die Stimme ausblieb, und schlief erst vor Erschöpfung ein.
Ratlos saß ich an ihrem Bette, ich fühlte: Dir bin ich nicht gewachsen. Sie war verwöhnt, herrisch und klug, sie hätte Strenge gebraucht, zu der ich mich aus dem einfachen Grunde nicht brachte, weil ich meinen Zögling nicht liebzugewinnen vermochte. Durchaus nicht lieb, sosehr ich danach strebte. Meiner Strenge würde das Gegengewicht gefehlt haben; sie hätte leicht in Härte ausarten können. Unter allen Umständen jedoch wäre es eine schwere Aufgabe mit dieser Kleinen gewesen. Sie wurde merkwürdig gehalten. Sie durfte über einen förmlichen Hofstaat die Herrschaft führen. Ich muß vorausschicken, daß es einen unglaublichen Luxus an Dienerschaft im Hause gab. Die geringste Mühewaltung, und wenn sie auch noch so kurze Zeit in Anspruch nahm, war einer eigens dafür bestellten Persönlichkeit übertragen. Da war zum Beispiel Ankas ehemalige Bonne, die hatte in der Gotteswelt nichts zu tun, als des Abends in unserm Schlafzimmer die Nachtlampe anzuzünden. Da war die alte Wartefrau des Kindes, deren ganze Obliegenheit darin bestand, die Puppengarderobe in Ordnung zu halten. Für die Garderobe des lebendigen Püppchens sorgte wieder eine Kammerkatze, der zwei weibliche Adjutanten beigegeben waren. Wir hatten sechs Dienerinnen und einen Diener zu unserer Verfügung – für mich die bösen Sieben! Sie bildeten ein Völkchen, über das meine Anka wie eine junge Sklavenhälterin die Peitsche schwang oder mit dem sie, je nachdem ihr die Laune stand, viel zu vertraulich verkehrte. Alle Leute im Hause waren Erbdiener, Urenkel, Enkel und Kinder von Untertänigkeiten, die schon bei den Altvordern der jetzigen Gebieter die Pferde gelenkt, die Tafel gedeckt, die Perücken frisiert hatten. Sie feindeten mich an, wenn ich sie in Schutz nahm gegen die Tyrannei der ›kleinen Komteß‹. ›So ein Kind‹, sagten Wartefrau und Bonne, ›hat ja noch keinen Verstand.‹ Ja, wenn es von ihnen abgehangen hätte, wäre das Kind nie zu Verstand gekommen, indessen sein länglicher Kopf mit der großen, hohen Stirn ein so vollgerüttelt Maß davon beherbergte, daß ich oft darüber erschrak. Wir führten einen stillen Krieg, sie und ich. Eigentlich konnte sie mich nicht ausstehen, aber sie unterhielt sich mit mir besser als mit irgend jemandem. Sie lernte gern und ausgezeichnet gut, und ich war die einzige, die sie etwas lehren konnte. Sie hörte gern Geschichten erzählen, und ich wußte so schöne! Sie spielte ebenso gern, als sie lernte, und über welchen unerschöpflichen Vorrat von Hilfsmitteln dazu hatte ich zu verfügen! So warb sie denn um meine Gunst, so wenig ihr daran lag, mein Herz zu gewinnen, und so erpicht sie eigentlich darauf war, mir einen Verdruß, eine Kränkung zuzufügen, für die sie nicht verantwortlich gemacht werden konnte. Die Schlauheit und Tücke, die sie bei solchen Gelegenheiten entwickelte, erweckten in mir oft ein der Verzweiflung verwandtes Gefühl. Ich hätte alles darum gegeben, mich nur einmal bei ihrer Mutter Rats erholen, nur einmal mit der Gräfin über das Kind sprechen zu dürfen. Allein mein Vormund hatte mich gerade davor dringend gewarnt. ›Strafen Sie, nachdrücklich, wenn es sein muß, tätlich, wenn es nicht anders geht, tun Sie, was Sie für gut halten, nur – klagen Sie nie, das wird unverzeihlich gefunden; man will keine Klage über seine Kinder hören‹, waren die Worte gewesen, mit denen er mich verließ, nachdem er mich in mein neues Amt eingeführt hatte.
Ich befolgte seine Warnung ziemlich lange Zeit; einmal jedoch ließ ich sie außer acht, einmal, als die Gräfin unerwartet bei uns erschien, während ich Anka soeben wegen eines ihrer Streiche zur Rede stellte. Ihre Mutter hörte mir gelassen zu, blickte mich aber dabei mit so frostiger Überraschung an, daß es mir wie eine physische Empfindung von Kälte zum Herzen drang. Als ich zu Ende war, lächelte die Gräfin, nickte ein wenig mit dem Kopfe und wandte sich zu der Kleinen, um ihr zu sagen, daß sie nach Tisch in den Salon gerufen werden würde, um ihre Großmutter zu sehen, die heute da speise. Sie reichte dem Kinde die Hand zum Kuß und entschwebte.
Vernichtet blieb ich zurück.
Haben Sie nicht auch einmal in frühen Mädchenjahren einen Fanatismus der Liebe und Bewunderung für eine etwas ältere Frau in sich genährt, die Ihnen der Inbegriff aller Herrlichkeit schien? Er kommt oft vor in den Ausläufern der Backfischzeit. Einen solchen Götzendienst trieb ich im stillen mit meiner Gräfin. Ich hätte mich auf die Folter spannen lassen, um ein freundliches Wort von ihr zu verdienen, und nun wollte mein Unstern, daß ich mir ihre Ungnade zuzog; denn Ungnade, äußerste Ungnade, leuchtete mir mit grausamem Glanze aus den Augen entgegen, mit denen sie mich, während ich sprach, unverwandt ansah und zu fragen schien: Was tun Sie denn? Was fällt Ihnen ein?!…
Meine Reue und meine Bestürzung waren bitter und groß. Einen Trost hatte ich aber doch. Wenn ich in Ungnade bei der Gebieterin stand, im Lichte ihrer Gunst durfte sich niemand sonnen. Sie war gleich unnahbar für alle ihre Untergebenen. Anschwärzungen hatte man nicht zu fürchten, es wäre ihnen kein Gehör geschenkt worden.
Der Sommer nahte heran, und wir reisten aufs Land. Drei Tage und zwei Nächte waren wir unterwegs, in sechs Kaleschen, mit je vier Postpferden bespannt. Der Graf und die Gräfin voran, dann Anka und ich, in den vier folgenden Wagen ›die Kammer‹, das heißt die Leute, die einen unmittelbaren Dienst bei der Herrschaft versahen. Das Küchenpersonal fuhr voraus und besorgte die jeweiligen Mahlzeiten in den Wirtshäusern, in denen haltgemacht wurde. Wir hatten das schönste Wetter, und die Freudigkeit ist nicht zu schildern, die mich überkam, als wir so mit sechzehn Füßen in das freie, grüne Land hineinliefen. Alle Poesie der Eisenbahnen in Ehren, ich bin durchaus nicht abgeneigt, sie gelten zu lassen; aber denken Sie, ob die Eindrücke, die ich auf späteren Reisen empfing, die heitere Erinnerung an die erste verlöschen konnten. Nun freilich, daß es eben die erste war, trug nicht wenig dazu bei, sie mir besonders entzückend erscheinen zu lassen. Und dann – ich kannte nur die glatte Oberfläche des Lebens, ich hatte noch keinen Blick in die Tiefen seines Elends und seiner Schlechtigkeit getan, ich konnte mich unbefangen an dem Genuß ergötzen, der mir zufiel bei dem Zuge – er glich einem Triumphzuge – eines großen Herrn nach seinen Gütern.
Vor jedem Posthause, an dem wir anlangten, standen schon die vierundzwanzig Pferde bereit, die uns weiterbefördern sollten. Die Postillone sprangen von den Wagen, spannten ihre dampfenden, müdegejagten Gäule aus, und sie wurden durch frische, gut ausgeruhte ersetzt. Der Kurier öffnete die Geldkatze, die Silbergulden blinkten, sechs vergnügte Gesichter lachten uns an; der Postmeister trat mit der Kappe in der Hand an den Wagen des Grafen heran; unsere Diener liefen von einem Viergespann zum andern: ›Kein Koller dabei?‹ – ›War nicht übel!‹ antworteten die Postillone, und vorwärts, was die Pferde laufen konnten, und lustig dazu ins Horn geblasen, was die Brust nur hergab an Atem. Und so ging’s vorbei an Feldern und Wäldern, an blühenden Wiesen, am blinkenden Strom. Klein-Peterl, der Page auf dem Bock unseres Wagens, machte sich die Reisefreiheit zunutze und erlaubte sich unaufgefordert hie und da ein Späßchen.
Da hatte Anka Stoff zum Lachen während der ganzen Fahrt, und wenn sie lachte, war sie mir noch am liebsten; so befanden wir uns beide in bester Stimmung und freuten uns der Freude, mit der wir allenthalben empfangen wurden.
Mir fiel es nicht ein, daß der Schlüssel zu dem Glück, das wir durch unser Kommen verbreiteten, an dem Riemchen der Ledertasche hing, die unser Kurier umgeschnallt hatte.
Am dritten Tage, demjenigen, an dem wir unser Reiseziel erreichen sollten …«
»Wo lag denn dieses?« unterbrach ich die Hofrätin. »Ich fahre da mit Ihnen, Verehrteste, wie in einem Feenmärchen, ohne Ahnung, wo ich mich befinde und wohin Sie mich führen.«
»Das sollen Sie, von mir wenigstens, auch nicht erfahren«, war ihre Antwort. »Im Gegensatz zu allen guten Erzählern, die ihren Geschichten einen deutlich gezeichneten Hintergrund, eine prägnante Lokalfarbe zu geben suchen, tue ich mein möglichstes, um Sie in Ungewißheit über den Schauplatz zu erhalten, auf dem mein kleiner Roman sich abspielte. Und noch etwas ganz Ungehöriges und von allen Kunstkennern Verurteiltes will ich mir zuschulden kommen lassen, ich will von einem Fatum wie von einer ausgemachten Sache sprechen.
Über meiner Jugend waltete offenbar ein Fatum. Seinen ersten bedeutungsvollen Wink hat es mir im Angesicht eines abscheulichen, höchst prosaischen Posthauses gegeben – und unter dem Dach desselben Posthauses hat es sich erfüllt.