Kapitel 10

 

Acht Tage noch, dann sollten auch wir das Schloß verlassen. Unser Weg war gemeinsam bis zu dem Städtchen, in dessen Posthause wir auf der Reise nach unserm früheren Wohnort Mittagsrast gehalten hatten. Dort teilte er sich. Der Graf gedachte mit Anka nach dem Gute seiner Schwiegermutter zu fahren, der Doktor mit mir nach einem kleinen Badeorte unweit von Wien, wo mein Vormund mit seiner Familie vor den Kriegsereignissen Zuflucht gesucht hatte.

Acht Tage noch! – Eine lange und – eine kurze Zeit. Lang, weil ich sie in Erwartung eines schrecklichen Augenblicks zubrachte, kurz, weil mir schien, daß es die letzte sei, die ich zu leben habe, und als könne nach ihr nur der Tod noch kommen.

Anka bemühte sich, mir den Abschied leicht zu machen. Sie verbarg ihre Freude darüber nicht, daß sie eine Zeitlang ohne Gouvernante sein sollte. Sie brauchte keine. Francine blieb vorläufig allein bei ihr, Großmama liebte die neuen Gesichter nicht.

Am Abend nach der Abreise der Gräfin, als Anka ihrem Vater gute Nacht sagte, empfahl ich mich zugleich mit ihr. ›Sie kommen doch wieder?‹ rief der Graf. Er war unzufrieden, als ich es verneinte, und erwiderte kaum meinen Gruß. Am nächsten Vormittag erschien er bei unserer Unterrichtsstunde und hörte seiner Anka, die ihm alle Reiche Deutschlands an den Fingern herzählte und auf der Karte nachwies, mit stiller Bewunderung zu. Sie nahm eine kluge Miene an und fragte ihn: ›Weißt du das auch?‹ Er behauptete, gar nichts zu wissen als das, was sie ihn soeben gelehrt hatte; da jubelte die Kleine und wiegte sich in der Wonne ihrer befriedigten Eitelkeit. Sie lachte ihn aus und war dann wieder ein wenig zärtlich mit ihm, um ihn zu trösten. Man mochte ihr gut sein oder nicht, man mochte die Veranlassung zu ihrer Freude billigen oder nicht, das stand fest: sie sprühte von Geist und Lebendigkeit, sie war herzig, sie war fast hübsch in diesen Augenblicken. Und der Graf küßte ihre mageren Händchen – und sie verstanden einander, und sie liebten einander und gehörten zusammen wie der Schatten zum Licht. Er selbstlos und sie selbstsüchtig, er die anbetende Unterwürfigkeit und sie die verkörperte Tyrannei. Wehe dem Dritten, der sich hätte eindrängen wollen in ihren festgefügten Bund. Wehe dem Billigen und Gerechten, der gesucht hätte, ihre schreienden Gegensätze auszugleichen, der dem starren Geiz zugerufen hätte: Gib auch du einmal! und dem überquellenden Reichtum: Halte Maß!

Ich saß neben ihnen und fühlte mich ihnen so fern, als schwebten sie durch den Weltraum auf einem andern Gestirn. Ich blickte in das schöne, offene Gesicht des Vaters und dachte: Nie wirst du ein Weib lieben wie dieses Kind. Ich sah das Kind an und dachte: Dir den Vater entwenden, hieße die einzige lebendige Empfindung in deiner Seele ertöten.

Die Zeit verging. Der Abend des letzten Tages kam heran. Als ich mich mit Anka entfernen wollte, ersuchte mich der Graf zu bleiben.

›Ich habe mit Ihnen zu sprechen‹, sagte er und gab dem Doktor ein verabschiedendes Zeichen, das dieser übersah. ›Allein zu sprechen!‹ fügte der Graf streng und herrisch hinzu, und dem Alten blieb nichts übrig, als sich, langsam freilich und mit offenbarem Widerstreben, zurückzuziehen.

Die Überwachung, der er sich unterworfen sah, hatte den Grafen verstimmt; wenigstens war der Ton durchaus nicht freundlich, in dem er zu mir sprach: ›Sie sind meiner Schwiegermutter zu Dank verpflichtet, Fräulein, sie bemüht sich sehr um Sie. Da hat sie Ihnen schon einen vortrefflichen Platz als Erzieherin ausfindig gemacht, im Hause der Herzogin v.P., einer Österreicherin von Geburt, aber an einen Franzosen verheiratet. Sie lebt in Paris … Reflektieren Sie auf einen solchen Platz, Fräulein? Wünschen Sie auszuwandern?‹

Ich antwortete, daß ich dazu bereit sei, und er rief ungeduldig: ›Machen Sie ein Ende. Wie lange soll denn die Komödie noch dauern?‹

›Komödie?‹ wiederholte ich, und der Graf fuhr gereizt fort: ›Jawohl, Komödie! Meine Schwiegermutter können Sie über die Gründe täuschen, die Ihnen eine Trennung von Anka wünschenswert machen, aber nicht mich. Ich kenne Sie besser, kenne Sie so gut, daß Sie wohltäten, wahr gegen mich zu sein. Ich bitte also um Aufrichtigkeit: Warum wollen Sie fort?‹

›Weil ich mir bewußt bin, meiner Aufgabe nicht gerecht werden zu können.‹

›Es ist zum Lachen!‹ rief er, erhob sich, trat an das Fenster, und nachdem er eine Weile dort gestanden und in die Nacht hinausgeblickt hatte, kam er zurück, setzte sich mir gegenüber und begann ruhig und ernst: ›Ich begreife, daß Sie sich dagegen sträuben, einige Zeit in der Nähe meiner Schwiegermutter zuzubringen. Die Gräfin ist Ihnen nicht angenehm, kann es nicht sein. Auch sind Sie der Gefahr ausgesetzt, Stephan bei ihr zu begegnen. Sie tun klug, ein Haus zu meiden, von dem man ihn nicht fernhalten kann. Ich sehe das ein, ich freue mich dessen sogar, ja – daß ich es nur gestehe! – ich hätte Sie selbst gebeten, für die Dauer meiner Abwesenheit Urlaub zu nehmen, wenn Sie mir nicht zuvorgekommen wären.‹

Ich nahm alle meine Selbstüberwindung und Kraft zusammen, um dem Grafen jetzt zu sagen, daß ich nicht um einen Urlaub, sondern um eine Entlassung ersucht habe.

›Die bekommen Sie nicht!… Ich habe eine wahre Freude gehabt, als ich erfuhr, daß Sie meine Schwiegermutter nicht begleiten wollen, aber Sie verstehen es, mir diese Freude zu vergällen. Sie sind edel und charaktervoll, ich ehre Sie, man muß jedoch nichts übertreiben, nicht einmal die Tugend. Was ist das für ein Opfermut und für eine Lust, sich selbst und andere zu quälen, wenn Sie, nur damit ich Ihren Fluchtversuch nicht vereitle, Ihren Wert in meinen Augen verringern?‹

›Das war nicht meine Absicht‹, entgegnete ich.

›Dann hatten Sie unrecht, einen Vorwand zu ersinnen, der diese Folge haben und der mich nebenbei tief verletzen mußte.‹

Ich gab keine Antwort. Ich kämpfte mit meinen Tränen, aber wacker; denn mir blieb der Sieg!

›Kein Verständnis für Anka?‹ nahm der Graf wieder das Wort. ›Keine Neigung für Anka? Sie haben soviel für das Kind getan und behaupten, daß Sie es nicht lieben?‹

›Fragen Sie doch, Herr Graf, ob das Kind mich liebt‹, sprach ich, mir mit unsagbarer Mühe soviel Atem abringend, als ich brauchte, um meine Stimme vernehmbar zu machen. Ich wählte den mildesten Ausdruck, den ich fand: ›Wir sind einander gleichgültig. Sie wollen Wahrhaftigkeit von mir – ich gebe sie …‹

›Helene!‹ rief der Graf.

Zum erstenmal nannte er mich Helene … und so genannt, mit diesem Ausdruck, mit dieser Leidenschaft, dieser Liebe – klang mein eigener Name mir fremd.

›Helene, ich bat Sie um Wahrhaftigkeit, jetzt möchte ich Sie beinah um eine barmherzige Lüge bitten. Indessen – nein! besser hoffnungslos als getäuscht. Der geirrt hat – leide!… Ich habe geirrt, als ich glaubte, in Ihnen die einzige gefunden zu haben, die meinem armen verwaisten Kinde die Mutter ersetzen könnte!‹

Damit wandte er sich und verließ nach kurzem Gruße das Zimmer.

Am frühen Morgen brachen wir auf, die beiden Herren im ersten Wagen, Francine, Anka und ich im zweiten. Anka war wieder von ihrem Reisetaumel erfaßt. Bis an ihr Ende soll ihr die Lust am Reisen geblieben sein, die so viele Menschen haben, in deren Seele nichts vorgeht. Unbewußt fühlen sie sich getrieben, den Mangel an innerer Bewegung durch äußere zu ersetzen.

Bei den Haltestationen kam der Graf zu uns, schritt auch wohl, wenn es langsam bergan ging, neben unserm Wagen, sprach mit Anka und bedauerte Francine, die an einer heftigen Migräne litt. An mich richtete er nicht ein einziges Mal das Wort.

Am letzten Tage vor einem Abschied für das Leben demütigte er mich vorsätzlich durch die Hartnäckigkeit, mit der er mich übersah.

Und Anka wurde immer toller. – ›Du bist ja sehr lustig‹, sagte er zu ihr. – ›Ja, sehr lustig und froh.‹ – ›Worüber denn?‹ Sie warf einen vielsagenden Blick auf mich, beugte sich aus dem Wagen, drückte den Mund an das Ohr ihres Vaters und flüsterte ihm etwas zu; dann warf sie sich zurück, um den Eindruck zu beobachten, den ihre Worte gemacht hatten.

Es war ein tiefer und peinlicher. Der Graf wurde feuerrot, seine Lippen zuckten. ›Anka!‹ sagte er in drohendem Tone und verließ uns.

Wir sahen ihn erst im Speisezimmer des Posthauses wieder, vor dem wir mit einbrechender Nacht anlangten. Das Abendessen erwartete uns. Francine nahm daran nicht teil; sie hatte sich, aus dem Wagen steigend, sogleich ein Zimmer anweisen lassen, nachdem sie einen raschen Abschied von mir genommen. Beim Souper wurde wenig gesprochen und noch weniger gegessen. Wäre Anka nicht gewesen, man hätte die Speisen unberührt abgetragen.

Plötzlich erhob sich der Graf: ›Geh schlafen, Anka! Fräulein, ich sage Ihnen Lebewohl. Sie reisen früher als wir, Sie haben einen weiteren Weg, ich sehe Sie morgen nicht mehr‹, sprach er rauh und bestimmt; seine Worte klangen wie eine Kriegserklärung. ›Ich danke Ihnen im Namen Ankas für die Sorgfalt, die Sie ihr angedeihen ließen. Ihr Verdienst ist um so größer, als alles, was Sie taten, für Menschen geschah, die Ihre Freundschaft nicht zu gewinnen vermochten.‹

Er verneigte sich, und ich wollte sprechen, wollte stark bleiben bis ans Ende. Aber der Abschied zerriß mir das Herz. Ich war erschöpft von den Qualen dieses Tages, ich vermochte nicht länger die Tränen zu unterdrücken, die mich erstickten …

›Sie weinen?‹ rief der Graf voll Bestürzung und gleich darauf mit seltsamer Freudigkeit: ›Nun, Gott sei Dank, daß Sie doch weinen können!‹

Der Doktor näherte sich mir und wollte meinen Arm ergreifen. ›Sie bleibt!‹ befahl der Graf. ›Führen Sie Anka indessen auf ihr Zimmer. Geht!‹

Der Alte und das Kind gehorchten nach einigem Zögern, und wir waren allein.

Finster und schweigend stand der Graf eine Weile vor mir, dann begann er mit erregter Stimme: ›Ich bitte Sie, Fräulein, zeigen Sie sich einmal, wie Sie sind! Würdigen Sie mich eines Einblicks in Ihre Seele. Seien Sie ehrlich gegen mich. Sie waren es bisher nicht. Sich schlimmer machen, als man ist, sich hart und gefühllos zeigen – gleichviel aus welchem edelmütigen Grunde –, ist das ehrlich?‹

Eine große Verwirrung und Angst erfaßte mich. Was verlangte er?…

Ehrlich sein ihm gegenüber, das hieß mein schmerzlich bewahrtes Geheimnis verraten und meinen Stolz aufgeben, der allein mir geholfen hatte, die schwerste Prüfung zu bestehen, die einem jungen Menschenherzen auferlegt werden kann: den stillen Kampf mit seiner ersten Liebe.

Er schien zu erraten, was in mir vorging; plötzlich erhellte sich sein Gesicht, er machte einen raschen Schritt auf mich zu – unwillkürlich trat ich zurück.

›Was fürchten Sie?‹ fragte er. ›Sie stehen unter meinem Schutz – vertrauen Sie mir, Helene … Wenn ich Ihnen wert bin, so fassen Sie den Mut … was sag ich – den Entschluß, es auszusprechen.‹ Er faltete die Hände. ›Lassen Sie sich bewegen, lassen Sie sich herab, es auszusprechen: Sind Sie mir gut? Wollen Sie mein Weib werden – mit einem Worte: Lieben Sie mich?‹

Bangende Hoffnung, bittende Erwartung sprachen aus seiner Stimme – und ohne mich länger zu besinnen, ohne zu denken, was ich tat, gab ich in einem Augenblick die Frucht meines langen Kampfes preis und antwortete: ›Ja!‹ Da faßte er mich in seine Arme. ›Endlich!‹ jauchzte er. ›Törin, Selbstquälerin!‹

Er legte seine Hand auf meinen Scheitel und blickte mir lange schweigend in die Augen.

›Und ich, Helene, habe für Sie die tiefste und innigste Liebe. Der Quell dieser Liebe – ich will Sie nicht täuschen – war Dankbarkeit für die Sorgfalt, mit der Sie Anka umgaben. Und Anka muß auch in Zukunft das Erste und Letzte für uns sein.‹ Er unterbrach sich, ein Schatten flog über seine Stirn. – ›Meine Liebe zu Ihnen, die – ich fühle es – wachsen wird von Tag zu Tag, darf den Rechten Ankas keinen Eintrag tun. Anka darf nicht verarmen, weil ich reicher geworden bin, reicher, als ich glaubte jemals wieder werden zu können. Ich hatte auf alles Glück verzichtet, und nun erblüht es mir von neuem. Ich blickte in die Zukunft wie in trübes, einförmiges Dunkel, und nun steht sie in lichter Schönheit vor mir.‹

Er begann diese Zukunft auszumalen. Nicht alles war sonnig darin. ›Wir werden uns vereinsamen oder kämpfen müssen um unser Glück‹, sagte er. ›Versöhnung mit unserm Bunde ist von den Meinen nicht zu hoffen – ich ertrage ihren Tadel, ich weiß, was ich gewinne und was ich verliere, ich kenne die Welt und habe ihre Freuden genossen und deren Wert gewogen. Aber du –‹

Er wollte mich nicht betrügen, er sprach offen mit mir, er schilderte mir getreulich alle Bitternisse, die mir bevorstanden. Ich gedachte der Großmutter Ankas, und wie ihr niedriger Verdacht gegen mich nun gerechtfertigt sei in ihren Augen und in denen der vielen, die durch diese Augen sahen. Sie war ja die größte Egoistin und darum die Herrin in der Familie. Frei von diesem tyrannischen Einfluß fühlte sich nicht einmal der Mann, der um mich warb, den Vorurteilen seines Standes zum Trotz.

›Ist dir bange?‹ fragte er. ›Du wirst manches erleiden, gegen das ich dich nicht zu schützen vermag; es ist ja nicht zu greifen, nicht zu erweisen, es hat keinen Namen und verwundet doch bis in die innerste Seele. Willst du es um mich erleiden?‹

Erleiden!… O Gott, alles um ihn – und mit himmlischer Wonne!«

Die Greisin erhob das Haupt, ihr Gesicht erschien mit einem Mal verjüngt und verklärt.

»Noch sehe ich das Leuchten seiner Augen, ich fühle seinen reinen glühenden Kuß noch auf meinen Lippen. Ich habe lange Jahre in einer zufriedenen Ehe gelebt, ich habe Kinder geboren und Freude an ihnen gehabt – jenen einzigen Augenblick hat nie ein andrer überboten, kein dauerndes Glück hat die Erinnerung an dieses flüchtige verlöscht …

›Und du wolltest uns verlassen? Das Kind und mich? Und mit welchem Mißklang‹, begann er plötzlich, ›mit welcher Täuschung, mit welcher Verleumdung deiner selbst!… Du konntest sagen, daß du mein Kind nicht liebst?!‹

Er hielt inne – er sah mich zagend und staunend an. Ich hatte mich erbleichen gefühlt, die Arme waren mir gesunken, und wie ein Hauch des Todes überlief es mich.

›Helene‹, fuhr er fort, ›es war eine Ausflucht, ich bin davon überzeugt, ich schwöre dir: ich zweifle nicht – aber schwör auch du, daß ich nicht zu zweifeln brauche! Es ist nur eine Laune, eine Grille – aber aus Liebe zu mir, aus Erbarmen gib ihr nach!‹

Nun – – ich konnte nicht. Ich konnte nur weinen und flehen: ›Erlaß es mir!‹

Er fuhr heftig auf: ›Die Stunde trennt uns oder vereinigt uns für immer … Die mein Kind nicht liebt, liebt mich nicht … Helene, so war es keine Lüge?… Nun, dann war alles, was mich rührte, was Ihnen meinen Dank gewann, Heuchelei! Lieblosigkeit im Gewande der Liebe, dem kalten Herzen mühsam abgerungene Pflichterfüllung?… Sagen Sie mir, wie kann man bei Ihnen unterscheiden zwischen Liebe und ihrem Gegenteil – der Pflicht?… Sie sind furchtbar … Der Mann, der am Altar Ihren Schwur empfängt, wird sich ewig fragen müssen: Folgt sie dem eigenen Herzenszug, oder hält sie nur gewissenhaft ein gegebenes Wort?‹

Was jetzt folgte, was er sprach, was ich erwiderte – nicht einmal in Gedanken vermag ich dabei zu verweilen.

Meine schwer erkämpfte Ruhe, Selbstüberwindung und Selbstverleugnung – zu meinem Unheil hatte ich sie ausgeübt. Was ich für das Beste an mir gehalten, erhob sich gegen mich und klagte mich an. Wie hätte ich mich gegen diese Zeugen verteidigen sollen?

Er sah, was ich litt, und in der letzten Sekunde noch hatte er eine Regung des Mitleids. ›Wir trennen uns, aber wir gehen nicht aus der Welt. Prüfen Sie sich … Wenn Ihre Gesinnungen sich ändern sollten, wenn Ihnen die Abneigung gegen Anka vielleicht doch in einiger Zeit nicht mehr so unbesiegbar scheinen sollte wie jetzt, wenn Sie noch einen Versuch wagen wollten – dann geben Sie mir ein Zeichen! Ich werde es begrüßen wie einen Boten des Lichts. Helene! werden Sie mir das Zeichen geben können? Glauben Sie es? Darf ich darauf hoffen?‹

Noch einmal zog er mich an seine Brust, aber ich empfand nur Qual, Beschämung und Reue. Wie ein Raub erschien mir jedes Wort der Zärtlichkeit, das er an mich verlor, und Schrecken flößte die stürmische Heftigkeit mir ein, mit der er mich plötzlich umfaßte.

Angstvoll entzog ich mich seiner Umarmung … Auf seine letzte Frage hat er keine Antwort erhalten – mein letzter Blick hat den seinen vergeblich gesucht. Stumm, unbeweglich stand er da und starrte mit düsterer Entschlossenheit vor sich nieder.

Auf halbem Wege nach meinem Zimmer kam mir der Doktor entgegen. ›Es bleibt doch dabei? Wir reisen?‹ sprach er hastig. ›Sie haben Abschied genommen für immer? Nun, Gott sei Dank! Ein Freund sagt Ihnen das, ein Vater!‹

Er geleitete mich durch sein eigenes Gemach, das von dem Anka und mir bestimmten nur durch ein leerstehendes getrennt war. Einen andern Eingang schien unsere Stube nicht zu haben. Auf der Schwelle blieb der Alte stehen, empfahl uns, sogleich zur Ruhe zu gehen, und schloß die Tür.

Anka war noch hellmunter und spielte Fangball mit ihrem Clovek. Als ich eintrat, näherte sie sich mir, betrachtete mich von unten hinauf, das Gesichtchen gesenkt, die Augen erhoben.

›Sie haben geweint, Fräulein?‹ fragte sie, und wie innerlich abgestoßen, zog sie sich vor mir zurück und begann von einer Ecke in die andre zu hüpfen. Auf einmal blieb sie in der Nähe des geöffneten Fensters stehen und rief ganz erschreckt: ›Hören Sie, Fräulein, hören Sie! – Es wohnt jemand neben uns.‹

›Was liegt daran, Anka?‹

›Ich höre jemand auf und ab gehen.‹

›So mag er doch.‹

›Wenn er aber hereinkäme?‹

›Wie denn? – Durch die Wand?‹

›Da herein! Da ist eine Tür … Sehen Sie den Schlüssel?‹

Sie hatte recht. Am Ende des Zimmers, in der dunkeln Ecke, welche die Wand gegen das Fenster bildete, befand sich eine Tapetentür. Anka glitt auf den Fußspitzen an sie heran, legte das Ohr an den Spalt und schrie laut auf: ›Es ist Papa! Der neben uns wohnt, ist Papa!‹ und bevor ich’s verhindern konnte, hatte sie die Tür geöffnet und war in das Nebenzimmer eingedrungen.

Ich hörte den Ausruf der Überraschung, mit dem der Graf sie empfing. Sie wechselten einige Reden, die Kleine erschien wieder, ich schloß hinter ihr die Tür und legte den Schlüssel auf den Tisch.

Anka ließ sich auskleiden. Sie half dabei, so gut sie konnte, wich meiner Berührung soviel als möglich aus, vermied, mich anzusehen, und kniete endlich unaufgefordert in ihrem Bett zum Abendgebet nieder. Dann legte sie sich hin, drückte den Kopf in das Kissen und sagte vergnügt: ›Wenn ich morgen erwache, sind Sie nicht mehr da.‹

›Wird Sie das sehr freuen, Anka?‹

Sie lachte ein wenig verlegen. ›Warum fragen Sie? – Sie wissen schon, Sie wissen recht gut.‹

Jawohl, ich wußte!… Was ich von ihr zu erwarten hatte, wußte ich.

Eine Weile verging, das Kind schlief. Ich saß an seinem Bett und sann – und sann – und in mir nagte der Schmerz!… Was ich empfand, war einzig darum nicht Verzweiflung, weil ich noch nicht wußte, wieviel man überlebt, und mich wie jedes junge Geschöpf, das unter einem schweren Schicksalsschlag zusammenbricht, tödlich getroffen wähnte.

Ich sah mich als eine Sterbende an, und als solche gab ich mir Rechenschaft von den verhülltesten Vorgängen in meiner Seele. Im Begriff zu scheiden, brauchte ich vor der vollen Erkenntnis meiner Liebe nicht mehr zu zagen, durfte sie gelten lassen in ihrer Unermeßlichkeit. Hatte sie nicht, bewußt und unbewußt, all mein Denken und Empfinden gelenkt? Nicht mit eifersüchtiger Qual jede Äußerung der Zärtlichkeit des Vaters gegen sein Kind bewacht? Hatte sie ihn nicht beherrschen wollen, wie sie mich beherrschte? Im stolzen Gefühl ihrer Echtheit und Größe sich an die Stelle von allem setzen wollen, was ihm bisher teuer gewesen?… Und war das nicht ihr heiliges Recht? War sie nicht ohne Falsch und bot ihm echte Treue und wirklichen Wert für eingebildeten? Aber sie gab nicht nur, sie forderte auch. Forderte gebieterisch, was der geliebte Mann nicht mehr geben durfte: ein ganzes Herz.

›Prüfen Sie sich!‹ hatte er zu mir gesagt. Es war geschehen und der letzte Zweifel getilgt, die letzte Hoffnung erloschen. Ich wollte nichts mehr als hingehen und sterben und ihn dem Kinde lassen – ich dachte nicht mehr: er wird enttäuscht werden. An Göttern kann man zweifeln, aber an Götzen nicht. Die schafft man und schmückt man täglich neu, die liebt man wie der Künstler sein Werk; sie bleiben gut und schön, solange das Auge offen ist, das in ihnen das Gute und Schöne sieht.

Anka bewegte sich, murmelte einige Worte; ich blickte in ihr kleines, unerbittliches Gesicht … herausfordernd schien der halbgeöffnete Mund noch im Schlafe zu sagen: Was fragen Sie? Sie wissen schon.

Eine Regung des Hasses zuckte in mir auf. Ich erhob, ich wandte mich und trat an das geöffnete Fenster.

Es war eine gewitterschwüle Julinacht. Über dem Städtchen lag Dunkel und Stille, eine bleierne Schwere in der Luft. Kein Licht schimmerte auf Erden und kein Stern am Himmel. Ich beugte mich hinaus, nach Erquickung lechzend …

Da pochte es … leise pochte es an der Tür, und eine bange, gedämpfte, sehnsüchtige Stimme flüsterte: ›Helene … Helene … Hören Sie mich!‹

Und es lag ein Ton in dieser Stimme, der an jenen mahnte, vor dem ich einmal schon zurückgebebt … Ich hielt den Atem an, umklammerte das Fensterkreuz mit aller Gewalt meiner Arme … Da stehst du und regst dich nicht! Schweige, Herz – schweig oder brich … Herrgott im Himmel, beschütze mich, beschütze mich vor mir selbst. So betete ich, und dennoch – unwillkürlich, unwiderstehlich streckte meine Hand sich aus, und ich hielt den Schlüssel in meiner Hand – eine Bewegung nur noch, und alles war vorbei, und das Flehen dessen war erhört, der immer heißer beschwor: ›Helene – öffnen Sie!‹

Nein, nein! – Um seinetwillen nicht. Was du für dich nicht könntest, tu’s für ihn, erspare ihm Zwiespalt und Reue, rief es in mir, und ich schleuderte den Versucher, den Schlüssel, hinaus in die Nacht.

Er flog, er klirrte und schlug im Auffallen einen kleinen Funken aus dem Stein. Nun war’s geschehen, und was ich nachher empfand – am besten ist es, darüber zu schweigen. Es gibt seltsame Dinge in der Menschenseele, die klarste hat ihre dunklen Stunden …

Am Bett des Kindes sank ich zusammen und vergrub mein Gesicht in die Decken und wünschte taub zu sein oder bewußtlos oder am liebsten tot! Beim ersten Morgengrauen verließ ich das Haus, begleitet von meinem alten Freunde.«

»Und der Graf machte keinen Versuch, Sie zurückzuhalten, Sie wenigstens noch einmal zu sprechen?«

»Keinen, Gott sei Dank!«

»Und Sie haben ihn nie wiedergesehen?«

»Nie wiedergesehen, aber noch oft durch die Herzogin von ihm gehört. Er hat sich nicht wieder verheiratet und seine Tochter auch dann nicht verlassen, als sie einen eigenen Hausstand gegründet hatte. Laut wurde es auf seinen Schlössern nur noch, wenn sie mit ihrem Gefolge dort verweilte. Manche haben gefunden, sie sei gegen ihn nicht rücksichtsvoll genug gewesen, indessen – die beiden gehörten wahrlich zueinander. Anka war in ihren Gemahl verliebt, hat ihn aber um viele Jahre überlebt. Ihrem Vater ist sie bald nachgestorben. Sie war erst im vierzigsten Jahre«, schloß die alte Frau und lehnte sich erschöpft zurück; ihr durchgeistigter Blick schien in weite Ferne zu schauen.

Ich war ergriffen von dem Ausdruck stiller Hoheit in ihren edlen Zügen, stand auf und nahm ihre Hand. Da fühlte ich sie leise in der meinen zittern.