Zwanzigstes Kapitel

Zu Weinsheim klangen die Abendglocken über die anmutige Gegend, das reiche Dorf mit seinen frischen, kühlen Gärten und dem weißen, herrschaftlichen Schlosse darüber lag schon vom Gebirge verschattet, während die Abendsonne weiterhin die fruchtbare Ebene und den gewundenen Strom noch heiter beleuchtete. Auf allen Feldern war ein fröhliches Erntegewimmel, bis weit hinaus hörte man singen, rufen und jauchzen und das Rasseln der Wagen dazwischen. Mitten durch die bunte Wirrung ritt ein schöner, schlanker Mann mit gebräuntem Gesicht langsam dem Schlosse zu, nach allen Seiten für den folgenden Tag Befehle erteilend und manchem scheuen, glänzenden Blick der Bauermädchen begegnend. Es war der junge Baron Manfred, dem diese Landschaft in doppeltem Sinne angehörte, denn er hatte sie wüst ererbt und durch Umsicht und verständige Anregung in einen blühenden Garten verwandelt.

In solcher Erntezeit haben die Landschlösser etwas unbeschreiblich Einsames. Auch Manfred fand Hof und Haus noch leer, alle Diener schwärmten noch draußen im Tale, nur die gegenüberstehenden Waldberge schauten ernst durch die offenen Fenster herein. – Ermüdet setzte er sich auf das Fenstergeländer, um sich in der Abendkühle zu erfrischen, als er auf der Straße, die vom Gebirge kam, einen wunderlichen Zug sich zwischen den Walnußbäumen langsam heranbewegen sah. Ein elegantes Kabriolett, das aber der Steinweg übel zugerichtet zu haben schien, wurde auf drei Rädern von einem Pferde mühsam fortgeschleppt. Ein Mann in seltsamer Reisetracht führte das Pferd am Zügel, eine junge Dame, mit einem Kornblumenkranz im Haar, schlenderte daneben, das Ganze gemahnte an ziehende Komödianten. Einige verspätete Jäger des Barons hatten sich dazugestellt, die Krüppelfuhre, wie es schien, mit derben Witzen gesegnend. Der Reisende aber blieb keine Antwort schuldig. Manfred konnte, da sie eben unter seinen Fenstern vorüberzogen, deutlich vernehmen, wie er den Jägern sehr eifrig demonstrierte, bei ihrer Kunst sei, außer den Frischlingen, nichts Frisches mehr, das Elend hätten sie aus den Wäldern verjagt und hegten’s zu Hause, von der Blume des Ganzen dürfe man vor gebildeten Löffeln gar nicht mehr sprechen, überdies sei Diana längst eine alte Jungfer geworden, es lohne nicht mehr, Hörner zu tragen. – So kamen sie alle mit großem Rumor und Gelächter oben an.

Hier warf der Fremde dem Jäger die Zügel zu und befahl ihm ohne weiteres, alles aufs beste unterzubringen, das Wägelchen wiederherzustellen und das Pferd reichlich zu füttern, das heute mehr die Sonne als der Hafer gestochen habe. »Das sieht hier gar nicht schlecht aus«, sagte er dann, sich zufrieden nach allen Seiten umsehend, »wem gehört das Schloß?« – Die Antwort des Jägers aber schien ihn aufs höchste zu überraschen. »Was! dem Baron Manfred?« rief er aus und flog sogleich nach dem Schlosse, wo er den eben heraustretenden Baron beinah übergerannt hätte. – »Waren Sie«, sagte er hastig und ohne alle Einleitung, »waren Sie nicht vor einiger Zeit auf Reisen? So sind Sie ohne Zweifel der gewesene Bräutigam der ehemaligen Gräfin Juanna, der damals auf dem fürstlichen Schlosse erwartet wurde!« – Manfred bejahte kurz und trocken. – »Aber heiraten!« rief der Reisende aus, »wer wird eine wildschöne Diana gleich heiraten wollen?!« – »Wer sind Sie?« unterbrach ihn hier Manfred, den Aufdringlichen mit etwas ernsten Blicken messend. – »Ja so!« – erwiderte dieser – »haben Sie vielleicht schon einmal von einem gewissen Dryander gehört?« – »Dem bekannten Dichter?« – »Der bin ich, ich reise eben auf Volkslieder, und jenes Frauenzimmer dort ist meine Frau.«

Nun stellte er die junge Dame mit dem Kornblumenkranze vor, die soeben an einem Ecksteine noch ihre Schuhe festband und ihnen, als sie sich nennen hörte, ein munteres, etwas trotziges Gesichtchen zuwandte, in dem wir sogleich Fräulein Gertrud als alte Bekannte vom fürstlichen Schlosse wiederbegrüßen. Die Kleine begann unmittelbar nach der ersten Verständigung, mit der Lebhaftigkeit eines jungen Sinnes, dem alles noch neu ist, von ihrer romantischen Fahrt durchs Gebirge, von dem Unfall mit dem Wagen und andern Abenteuern zu erzählen, wobei sie deutlich merken ließ, daß dem Baron eigentlich ein unverdientes Glück widerfahre, den berühmten Dichter Dryander bei sich beherbergen zu können. Der letztere aber, dem die Beschreibung zu schön und zu lang zu werden schien, war schnell wieder in den Hof zurückgeeilt, um Pfeife und Tabaksbeutel aus dem Wagen zu holen. – Und so sah sich denn Manfred allein mit der hübschen jungen Frau in einer seltsamen Lage; denn wenn er sie, nach ihrer ganzen Erscheinung, als ein lebenslustiges, verliebtes Landfräulein zu nehmen geneigt war, so wandelte sie nun auf einmal die Farbe und brach, zu seiner Verwunderung, ästhetische Diskurse vom Zaun. Und je länger er schwieg, je fröhlicher geriet sie, in der sichtbaren Lust, dem Landjunker zu imponieren, wie ein munterer Wasserfall unaufhaltsam in eine plauderselige Gelehrsamkeit, unbekümmert Zeiten, Autoren und Bücher durcheinander vermengend.

Ein Lachen hinter ihnen unterbrach hier plötzlich die sonderbare Unterhaltung. Es war Dryander, der sich unterdes wieder eingefunden und eine Zeitlang ungesehen alles mit angehört hatte. »Trudchen, Trudchen!« rief er immerfort lachend, »was geschieht dir? ich erkenne dich ja gar nicht wieder – dieses charmante Wesen und angenehme Klugsprechen, Attitüden und romantischer Shawltanz.: – Das resolute Weibchen aber schien nicht einen Augenblick betreten. Mit veränderter Stimme, die plötzlich wie der Absatz eines Pantöffelchens klang, erwiderte sie: »Solche Faxen leid‘ ich nun ein für allemal nicht von dir! Willst du ein Philister sein, so ist’s gut, ich werde auch sein, wie ich Lust habe!« – Dryander hatte sie unterdes umfaßt und walzte mit ihr auf dem Rasen herum. Sie aber schrie auf einmal laut auf und riß sich mit mehr Heftigkeit als Grazie von ihm los. »Du bist immer so ungeschickt«, sagte sie, »du trittst mir auf den Fuß.« – »Das ist nicht wahr«, rief Dryander. – »Wahr oder nicht wahr!« – entgegnete sie, »ich bin todmüde von deinem Herumziehen in dem dummen Gebirge, und ich will schlafen gehn, und das jetzt gleich!« – Nun geriet Dryander seinerseits in eine wunderliche Wut. »Um Gottes willen, nur keine Launen!« rief er aus, »Weiberlaune ist mir zuwider, wie das Pech am Pfropfen einer Champagnerflasche, ein ekelhafter Meltau auf Blumen, da ist offenbarer Wahnsinn noch herrlich dagegen mit seinem Abgrunde bodenloser Gedanken.« – »Und ich gehe doch schlafen!« unterbrach ihn Gertrud trotzig, machte Manfreden eine kurze Verbeugung und ging nach dem Schlosse, wo die alte Haushälterin des Barons, die den Spektatkel in der Haustür verwundert mit angehört hatte, die Erhitzte aufnahm und in ihre Zimmer führte.

»Ist sie nicht zum Küssen schön, wenn sie böse wird?« sagte Dryander zu Manfred gewandt. Manfred, ganz entrüstet über diese verkehrte, nichtsnutzige Wirtschaft, stellte ihn ernstlich zur Rede, daß er durch solche Tollheiten die Frau geistig vernichte. – »Ganz und gar nicht«, erwiderte Dryander, »faule Naturen werden erst in der Leidenschaft bedeutend und reizend, sie ist eigentlich sehr dumm.«

Unterdes war ein Tisch mit Erfrischungen im Garten aufgeschlagen worden. Dryander nahm ohne weiteres Platz, band sich eine Serviette unterm Kinne wie zum Rasieren vor und begann, so eifrig zu essen, wie Manfred noch niemals gesehen. Dazwischen erzählte er, von allen Schüsseln zugleich zulangend, wie in seinem Bräutigamsstande auf dem fürstlichen Jagdschlosse seine Aversion gegen eine feierliche Hochzeit ein unübersteigliches Hindernis geworden, wie er sodann einmal plötzlich vor dem hochaufgestapelten Hochzeitsbette erschrocken und davongegangen, Gertrud aber bald darauf aus Melancholie gleichfalls von dem Schlosse verschwunden sei.

»Aber auf dieser außerordentlichen Flucht«, fuhr er fort, »setzte mir die Liebe nicht wenig zu, ich kam ganz herunter, ich war fast nichts als Seele. In diesem Zustande hatte ich mich einmal des Abends im Gebirge verirrt, ich wußte durchaus nicht, wo ich mich befand, und war endlich, wie es mir vorkam, über die Trümmer eines umgefallenen Zauns in einen ehemaligen französischen Garten geraten. Durch die schnell vorüberfliegenden Wolken fielen nur einzelne Mondblicke zwischen finstern Laubwänden und künstlich verschnittenen Taxusbäumen über zerbrochene Statüen, die im hohen Grase lagen, aus dem Walde schlugen unzählige Nachtigallen. Nur eine Statüe in einiger Entfernung von mir schien noch wohlerhalten, es war eine sitzende Najade an einem steinernen Bassin, dessen klare Flut ihre Füße umspülte. – Ich bin eigentlich ein Schwärmer, mit über der Brust gekreuzten Armen lehnte ich mich nachlässig an einen neben mir stehenden antiken Opferaltar und sah eben unverwandt in den Mond, als der morsche Altar, den ich für Stein gehalten, hinter mir zusammenbrach. Daß ich mit umfiel, war das Geringste dabei. Aber denkt Euch mein Entsetzen! Über dem Gepolter wendet die Najade auf einmal den Kopf, richtet sich hoch auf und entflieht in den dunklen Garten. Trotz meiner Gänsehaut schreite ich doch auf das Bassin los und finde zwei der zierlichsten Pantöffelchen auf dem steinernen Rande. Ich lege sie sogleich an mein Herz zwischen Frack und Weste und komme, beim weiteren Vordringen, an einen von hohen Bäumen tiefverschatteten Platz. Auf dem Platze war ein Schloß, und an dem Schlosse ein Altan und auf dem Altan sehe ich, wie hinter einem Schleier von Mondschein, Blüten und Laubgewinden, das weiße Gewand der Najade wieder hervorschimmern. Das kam mir auf einmal ganz spanisch vor mit dem Balkone, ich redete sie erst zierlich in Assonanzen an, sie verbarg sich halb furchtsam, halb neugierig, bald sah ich eine Locke, bald ein bloßes Füßchen, bald einen Arm, bald wieder gar nichts. Ich wurde immer verliebter, die Reime flossen mir wie Lavendelwasser, ich sprach von des Mondes Zaubermacht, der das Lieben hat erdacht, von einer süßvalenz’schen Nacht, vom Kosen und vom Flüstern sacht, bis daß die erste Lerche erwacht! Sie schwieg immerfort, und wie auf der Himmelsleiter meines eigenen Wohllauts stieg ich endlich ohne weiteres auf den nächsten Baum, schwang mich mit der einen Hand auf den Balkon und hielt mit der anderen der Erstaunten ihre Pantöffelchen entgegen. In demselben Augenblicke aber entriß sie mir’s plötzlich und schlug mir damit tüchtig um beide Ohren. »Also das ist deine Treue!« rief sie, »ich erkannte dich gleich anfangs, o ich unglückseliges Mädchen!« – es war Gertrud selbst. Ich stand ganz verblüfft. Vergeblich sagte ich, daß ich sie eigentlich auch gleich anfangs erkannt hätte, und beschwor sie, nur jetzt das Maul zu halten. Aber sie glaubte und hörte nichts, sie schimpfte und weinte dazwischen immerfort. Über dem Lärm und Gezänke steckte die alte Amme, die ich noch vom fürstlichen Schlosse her kannte, ihr Gesicht aus der Schloßtüre und verschwand sogleich wieder, ein großer Hund schlug im Garten ein paarmal an, und eh‘ ich mich noch besinnen kann, tut sich die Balkontüre weit auf, und ein verworrener Haufe von Vettern, Lichtern und Dienern stürzt plötzlich hervor, voran ein großer, starker Mann in einem damastenen Schlafrock, mit kleinem dreieckigen Hut und langem Haarzopf, in der einen Hand eine Pistole, in der andern einen bloßen Degen. Die alte Amme, der vor den Folgen ihres Verrats bange wurde, wollte den Wütenden von hinten am Zopf aufhalten, darüber ringelte sich das Band los, und die langen Haare umflatterten ihn wunderlich wie ein phantastisches Hirngespinst. »Kopuliert sie in drei Teufels Namen!« donnerte er, mit dem Pistol nach mir zielend, denn es war niemand anders als Gertruds Vater. Ein alter Geistlicher, der nicht wußte, wie ihm geschah, trat aus dem Gefolge, und ich und Gertrud wurden auf der Stelle kopuliert.«

Hier stand Manfred, der schon mehrere Male den beredten Dichter unterbrechen wollte, entrüstet auf. »Schändlich!« sagte er, »mich friert innerlichst bei der Geschichte.« – Dryander sah ihn mit den geistvollen Augen ein Weilchen groß an, dann sprang er plötzlich auf und fiel dem Baron um den Hals. »Sie haben ganz recht«, rief er aus, »das ist die verruchte Doppelgängerei in mir, ich kann nichts Großes ersinnen, ohne ihm sogleich von hinten einen Haarbeutel anzuhängen, ein tragischer, wahnsinniger König und ein Hanswurst, der ihm fix ein Bein unterstellt, die hetzen und balgen sich Tag und Nacht in mir, daß ich zuletzt nicht weiß, welcher von beiden Narren ich selber bin.«

Manfred schwieg unwillig, Dryander aber war an den Abhang des Gartens getreten und schaute in das dunkle Tal hinaus; man unterschied nur noch einzelne Massen von Wald, Feldern und Dörfern, durch die weite Stille kam der dumpfe Schlag eines Eisenhammers herüber. – »Das ist schön!« sagte er, »es ist mir, als hört‘ ich den Pendul der Zeit einförmig picken. – Ich bleibe hier«, wandte er sich schnell zu Manfred: »ich habe das wüste Treiben satt; Profession vom Dichten machen, das ist überhaupt lächerlich, als wenn einer beständig verliebt sein wollte und noch obendrein auf öffentlicher Straße – ich will hier bei Euch die Landwirtschaft lernen!« – »Sie?« – erwiderte Manfred erstaunt, »das gäbe eine schöne Wirtschaft!« – Aber Dryander hörte nicht darauf. »Ich will mich«, fuhr er fort, »ich will mich hier wie auf den Grund des Meeres versenken, daß ich von der Welt nichts mehr höre – aber Ihr müßt mir die Hand darauf geben, daß Ihr so lange kein Wort von Literatur mit mir reden wollt.«

Er sprach so eifrig, daß er endlich auch den ungläubigen Manfred um so mehr mit sich fortriß, als dieser selbst überzeugt war, daß nur die Einsamkeit und eine eisern geregelte Tätigkeit den wirren Geist heilen könnte. Und mehr bedurfte es nicht, um ihn mit Leib und Seele für den Gedanken zu gewinnen.

Sie besprachen nun noch bei einer Bowle Punsch ausführlich den neuen Plan. Dryander faßte alles begeistert auf, richtete sich in Gedanken schon völlig hier ein, war beruhigt, fast weich, und in diesem ungewohnten Zustande unwiderstehlich liebenswürdig; und als sie endlich schieden, begab sich Manfred mit dem Gefühle eines begonnenen Werkes zur Ruhe und überdachte noch lange, wie er es am besten vollführen und gestalten wollte.

Wie sehr war er daher erstaunt, als er am folgenden Morgen vernahm, daß Dryander, der von dem übermäßig genossenen Punsch vor Hitze nicht schlafen konnte, noch lange vor Tagesanbruch die Frau und den ganzen Hof aufrumort habe und soeben schon wieder abgereist sei. – In des Dichters Stube fand er mehrere vergessene Kleinigkeiten, Tücher und Strümpfe auf allen Stühlen zerstreut, das offene Fenster klappte im Winde, auf dem Tische lag ein, wie es schien, vor kurzem von Dryander beschriebenes Blatt. Er nahm es auf und las:

Vor dem Schloß in den Bäumen es rauschend weht,
Unter den Fenstern ein Spielmann geht,
Mit irren Tönen verlockend den Sinn
Der Spielmann aber ich selber bin.
Vorüber jag ich an manchem Schloß,
Die Locken zerwühlet, verwildert das Roß,
Du frommes Kindlein im stillen Haus,
Schau nicht nach mir zum Fenster hinaus.
Von Lüsten und Reue zerrissen die Brust,
Wie rasend in verzweifelter Lust,
Brech ich im Fluge mir Blumen zum Strauß,
Wird doch kein fröhlicher Kranz nicht daraus!
Wird aus dem Schrei doch nimmer Gesang,
Herz, o mein Herz, bist ein irrer Klang,
Den der Sturm in alle Lüfte verweht
Lebt wohl, und fragt nicht, wohin es geht!

»Sollte man nicht wirklich denken, er sei durch und durch verzweifelt«, sagte Manfred, indem er das Blatt mitleidig lächelnd weglegte, »und ich wette, da hat er in der Zerstreuung alles wieder rein vergessen, was wir gestern verabredet.« – Und als er hinausblickte, sah er draußen im Morgenblitzen das Wägelchen des Dichters, über dem ein durchlöcherter Sonnenschirm aufgespannt war, wie ein Schattenspiel zwischen den grünen Bäumen dahinschwanken.