»Principiis obstac, sagt Ovid.
Widerstehe dem Anfang des Bösen.

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Indem ich meiner Gewohnheit folge, nur wahre Begebnisse zu erzählen, wird diese Novelle vielleicht weniger pikant werden, als ich sie sonst hätte machen können, denn die Steigerungen des Wahren lassen sich oft nicht mit derselben Genauigkeit abstufen, wie die des Wahrscheinlichen. Aber der Leser wird dadurch einen anderen Vorteil haben, er wird herausfühlen, daß man häufig bei diesen Steigerungen nicht stehen bleiben darf, und daß in der Wirklichkeit Umstände eintreten können, die bewirken, daß ein Mensch, der seinem Untergang zueilt, oft nach dem ersten Schritt gleich in den Abgrund stürzt. Ganz so wird es der Heldin dieser Geschichte indessen nicht ergehen, sie geht allmählich zugrunde. Aber ich muß gestehen, daß sie meinem Zweck nicht ganz so dient, wie ich es gewünscht hätte. Ich hatte mir vorgenommen, ein Bild zu entwerfen, das Eltern und Kindern gleich nützlich hätte sein können, indem er beide über die Schliche der kleinen Mädchen aufklärte, über die Fallen, die diesen von den Lüstlingen gestellt werden, und über die grausame und verächtliche Behandlung, die sie nach ihrem Falle zu erleiden haben. Das ist mir nicht ganz gelungen. Ich hätte meine Phantasie zu Hilfe rufen können, aber dann wäre es besser gewesen, gleich von A bis Z eine Geschichte zu erfinden, was gegen meine Absicht verstoßen hätte. Diese Vorrede ist etwas lang, sie war aber nötig, um der Kritik Böswilliger von vornherein den Stachel zu nehmen und nicht diejenigen gegen den Verfasser einzunehmen, die ihm wohlwollend gegenüberstehen.

In einer der beiden Rues du Plâtre zu Paris – ich weiß nicht mehr, in welcher von beiden – wohnte eine sehr hübsche Person, namens Elise Reidid, ein sehr talent- und verdienstvolles junges Mädchen. Sie hatte viel Leid erfahren und mußte, nachdem sie mehrere sehr gute Partien ausgeschlagen hatte, sich damit abfinden, entweder alte Jungfer zu werden, oder eine sehr gewöhnliche Ehe einzugehen. Sie glaubte sich für letzteres entschließen zu müssen. Der Mann, dessen Antrag sie annehmen wollte, hatte eine junge Nichte, die er aufzog, sie war vierzehn Jahre alt und von sehr sinnlichem Äußeren. Der Onkel schlug Elise vor, seine Nichte, Fanchonnette Geti mit Namen, zu sich zu nehmen, um sie zu erziehen. Elise nahm dieses Amt an. Fanchonnette zog also zur zukünftigen Frau ihres Onkels, und in wenigen Tagen verband die beiden jungen Mädchen eine innige Freundschaft. Das dauerte drei Jahre, das heißt, solange die kleine Fanchonnette mit dem lachenden Munde, dem Stupsnäschen und dem herausfordernden Blick noch ein Kind war.

Elise war so unvorsichtig gewesen, bei sich einige Freunde des Mannes zu empfangen, dem sie eines Tages angehören sollte, und sah auf diese Weise mehr Männer bei sich, als es einem Mädchen ihres Alters und ihres Standes, das mit einer alten Mutter allein wohnte, erlaubt ist. Für Fanchonnette war das ein großes Unglück. Sie war an und für sich schon zu lebhaft, anziehend und kokett, und hatte schon im Hause ihrer Eltern zu viel Freiheit gehabt. Man begegnet in der Pariser Gesellschaft nur allzuoft zynischen Männern, die es sich zur Aufgabe machen, ihre Sittenverderbtheit selbst den Unschuldigsten beizubringen. Sie suchen sich dazu besonders junge Mädchen aus und verlangen von ihnen, wenn sie mit ihnen allein sind, allerlei Unzüchtigkeiten. Aus Unerfahrenheit und Unschuld oder durch kleine Geschenke verführt, geben die Mädchen sich dazu her und gehen dann zu allerlei Berührungen über, die, ohne gerade verbrecherisch zu erscheinen, die Vorläufer der größten Zügellosigkeiten sind. Man muß in Häusern, wo man gezwungen ist, viele Leute bei sich zu sehen, die strengste Beaufsichtigung der kleinen Mädchen walten lassen und hauptsächlich auf die Männer acht geben, die sich ihnen nähern, besonders wenn sie ein angenehmes Äußere haben. … Man darf auch nicht so verfahren, wie ein Handwerker, den ich kenne, der im übrigen durchaus ehrenwert war und der seine beiden allerliebsten Töchter im Alter von zehn und zwölf Jahren seine Arbeiten zu den Kunden tragen ließ. Sie wurden des öfteren belästigt, ohne aber darüber zu sprechen. Erst als sie älter waren und wieder mal ein Kunde Gewalt anwenden wollte, um bei ihnen etwas zu erreichen, erzählten sie, was ihnen fast täglich passierte. So war es auch Fanchonnette ergangen. Ihr Vater war, wenn ich nicht irre, Schwertfeger und sandte seine Tochter stets zu den Kunden, die sich gegen sie Freiheiten erlaubten, über die sie nicht weiter sprach, weil sie sich dagegen sträubte und dachte, daß alle Männer so mit den Mädchen umgingen. Sie war also schon verdorben, als sie Elise anvertraut wurde. Leider sollte dieses neue Heim sie in ihren ersten Ansichten bestärken. Sie sah viele Männer bei der Herrin des Hauses und fand es ganz natürlich, daß alle ihr den Hof machten. Es war vielleicht nicht einer unter allen diesen, der sich nicht schon in petto vorgenommen hatte, eines Tages diese zarte Blume zu pflücken.

Mit sechzehn Jahren war Fanchonnette, wenn nicht schön, so doch so hübsch, daß sie selbst über Schönheiten den Sieg davontrug, da ihr Gesicht dem Geschmack unserer Zeit für unregelmäßige, aber doch reizvolle Züge entsprach. Der erste, der ihr bestimmte Anträge machte, war ein Student der Medizin, ein strammer Bursche, der von Gesundheit strotzte und, wie die meisten der jungen Männer von heutzutage, schamlos, unverschämt und spöttisch war. Er war der intimste Freund des ersten Geliebten Elisens und hatte geheime Absichten auf diese, die er sicherlich, wenn er ihren Charakter besser gekannt hätte, schnellstens aufgegeben haben würde. Demgemäß machte er ihr eifrigst den Hof, fiel aberglänzend bei ihr ab, und Elise nahm sich vor, in Zukunft den schönen Worten der Männer etwas weniger zu trauen. Ihre Zurückhaltung nahm dem Großtuer jede Hoffnung, und so beschloß er denn, sich an Fanchonnette schadlos zu halten, die weniger erfahren war. Aber es war schwer, sie allein unter vier Augen zu sprechen. Er machte täglich seinen Besuch im Haufe und suchte das junge Mädchen durch sein tadelloses Benehmen zu bestricken. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich ihm schließlich doch einmal eine günstige Gelegenheit bot. Eines Tages war Elise ausgegangen, und der Student fand Fanchonnette allein zu Haufe. Er fing an, ihr Komplimente zu machen, die der Eitelkeit der Kleinen schmeichelten, sie lächelte ihm zu und spielte die große Dame, indem sie Haltung und Manieren ihrer zukünftigen Tante annahm. Im Grunde war sie es zufrieden, einen Verehrer dieser Art zu haben, denn d’Est*** – das war der Name des Studenten – stellte alle anderen Besucher Elisens in den Schatten. Er beherrschte sie und unterwarf sie sich durch seine imponierende Haltung oder machte sie durch seine beißende Ironie lächerlich. Das sind aber gerade die Männer, die die Frauen gern haben. Als er sah, daß er angenehmen Eindruck gemacht hatte, wagte er eine ziemlich leichtfertige Erklärung, die von kühnen Liebkosungen begleitet war. Fanchonnette stieß ihn zurück, aber so schwach, daß er daraus erkennen konnte, sie verlange nichts Besseres, als ihm nachzugeben. Die Dinge gingen daher bei diesem ersten tête-à-tête so weit, als es möglich war. Am nächsten Tage machte d’Est* ihr ein Geschenk. Er begegnete Fanchonnette auf der Treppe, als sie gerade vor ihm zu Elise hinaufgehen wollte. Er umfaßte ihre Hüften und sagte zu ihr:

»Wie schön sind Sie gewachsen!«

Die Kleine drehte sich um, und er raubte ihr einen Kuß. Sie errötete und wollte sich losmachen. D’Est*, der in ihren Augen keine Strenge sah, legte ihr einen sehr hübschen Schmuck um den Hals und sagte zu ihr:

»Teure Fanchonnette, tragen sie dieses zum Andenken an mich.«

»Ich trage es nicht.«

»Doch, es muß sein.«

»Was wird Fräulein Reidid dazu sagen?«

»Was sie will! Hat sie nicht auch von ihren Geliebten Geschenke angenommen? Glauben sie, daß sie von allen ihren Besuchern nichts erhält? Nur merken sie es nicht, denn sie ist schlauer als sie.«

»Dann … darf ich es auch tun. Ich werde Ihr Geschenk gut verschließen, damit sie es nicht sieht.«

»So ist’s recht, teure Fanchonnette.«

So nahm sie also das erste Geschenk des Verführers an. D’Est* küßte sie noch einmal und ließ sie dann vorangehen.

Er selbst folgte einen Augenblick später nach.

In Elisens Gegenwart nahm der Verführer sich zusammen und stellte sich, als ob er nur ihretwegen gekommen wäre. Elise beging einen großen Fehler. Sie hatte mit ihrem ersten Geliebten gebrochen und durfte daher dessen Freunde nicht mehr empfangen. Aber so sind die Frauen, sie sehen in den meisten Fällen falsch. In einer Anwandlung unangebrachten Ehrgefühls fuhr sie fort, die Freunde des Mannes zu empfangen, den sie hinausgewiesen hatte, nachdem sie nicht mehr hoffen konnte, seine Frau zu werden. Ohne es sich selbst einzugestehen, handelte sie wahrscheinlich so, um ihn zu kränken, aus Eigenliebe und kleinlicher Rachsucht, Motive, die uns automatisch leiten, ohne daß wir uns genau Rechenschaft davon geben. Die Besten lassen sich oft von Rachsucht leiten, obwohl sie behaupten und sogar glauben, sie fühlten keinerlei Zorn gegen den Menschen, der sie beleidigt hat. Man soll niemandem Böses tun und wäre es auch nur einer unschuldigen Taube, denn früher oder später wird man darunter zu leiden haben.

D’Est* hatte also sein Auge auf Fanchonnette geworfen, und da er sich auf dem besten Wege zum Erfolg sah, zähmte er seinen zänkischen Charakter, um sich bei Elise einzuschmeicheln. Dieser Mensch verfolgte eine Politik, wie man sie oft bei solchen Spottgeistern findet: niemals zu viel den Frauen nachgeben, die man gewinnen oder für seine Zwecke ausnützen will, im Gegenteil stets über sie eine Art Überlegenheit bewahren, um sie beherrschen und in Abhängigkeit halten zu können. Diese gefährlichen Charaktere wollen als Geliebte nur eine Sklavin und finden deren, selbst in unserer Zeit, so viel sie nur wollen , haben sie aber genug von einer Frau, und liegt es in ihrem Interesse, ihrer zu schonen, dann werden sie unterwürfig und glatt wie der Filinte Molieres oder der Hickmann Richardsons. Diese Haltung beobachtete d’Est* jetzt auch Elisen gegenüber, die davon entzückt war, und sich bereits überlegte, ob sie ihm nicht ihr Herz schenken sollte. Zum Glück erinnerte sie sich aber beizeiten ihres ersten Entschlusses, bei dem zu beharren sie sich vornahm.

So standen die Sachen, als der frühere Geliebte Elisens sie eines Tages durch d’Est* dringend um eine Unterredung bat. Er bestand so sehr darauf, daß sie nicht glaubte, sie ihm verweigern zu dürfen, sie verlangte aber, daß ihr gemeinschaftlicher Freund und Fanchonnette derselben beiwohnen sollten. Als aber der Unbeständige erschien, verlangte er, mit ihr unter vier Augen zu sprechen. D’Est* setzte es durch, daß Elise sich damit einverstanden erklärte, wofern die Unterredung in demselben Zimmer, am äußersten Ende, in der Fensternische statthaben könnte. so geschah es, und dort stellte der Ungetreue der Verlassenen den sonderbarsten und beleidigendsten Antrag, nachdem er ihr in einer langen Einleitung zu beweisen gesucht hatte, er sei gezwungen, eine reiche Frau zu heiraten, die sein Onkel für ihn bestimmt habe. Er fügte hinzu, daß er nichts für seine Zukünftige empfände, und wenn ihre Herzen noch füreinander schlügen, dann würden sie noch glücklich sein können,

»Inwiefern glücklich?« unterbrach ihn Elise naiv.

»Gewiß glücklich. Ich werde großen Reichtum haben. Durch meine Heirat erhalte ich das Vermögen meines Onkels und das meiner Frau. Ich will meinen Reichtum mit Ihnen teilen.«

»Mit mir?«

»Ja. Sie sollen der einzige Gegenstand meiner Liebe bleiben. Wir werden fortfahren, uns zu sehen, und ich werde dafür sorge tragen, daß Ihre Mittel …«

»Halten sie ein mein Herr!« unterbrach ihn Elise, die endlich ihn begriff, »kein Wort weiter! Sie hatten nicht nötig, Ihrer Wortbrüchigkeit und Ihren falschen Eiden noch diese gemeine Beschimpfung hinzuzufügen! Gehen sie, sonst halte ich mich nicht mehr vor Fanchonnette und Ihrem Freunde zurück. Hinaus!«

Während dieser Unterredung hatte d’Est* eine andere mit Fanchonnette.

»Ich bringe Ihnen eine gute Nachricht,« hub er an, »Fräulein Reidid wird nicht Ihre Tante werden.«

»Wieso?«

»Es werden andere Vereinbarungen getroffen werden.«

»Oh! bitte, erzählen sie!«

»Ihr erster Geliebter wird sich verheiraten. Da er indessen durch diese Heirat sehr reich werden wird und Elise immer noch liebt, so schlägt er ihr jetzt vor, er wolle sie als seine Mätresse unterhalten. Wie es scheint, willigt sie ein, denn, wenn sie nicht wollte, würde die Unterhaltung wohl etwas stürmischer sein.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Mein Freund wird eine Witwe heiraten, die sein Onkel für ihn bestimmt hat. Er liebt sie nicht und wird daher Elisen, die er liebt, wie seine Frau behandeln. Er wird ihr alles geben, was sie verlangt, und sie wird seine Mätresse sein.«

»So etwas ist also möglich?«

»Natürlich! In Paris gibt es wenigstens zehntausend kleine Haushaltungen dieser Art.«

»Ah! Das wußte ich nicht.«

»Also, meine reizende Fanchonnette, da ich ungefähr in der gleichen Lage bin, wie mein Freund, so werden wir es auch so machen müssen. Sie werden meine kleine Frau, und ich werde Sie von Herzen liebhaben.«

»Wie stürmisch Sie sind! … Oh! ich bin noch viel zu jung, um an so etwas zu denken! … Und dann darf ich auch so ohne weiteres nicht über mich verfügen. Ich werde mich beraten.«

»Fragen sie niemand darüber um Rat. Solche Sachen müssen geheim bleiben. Ich würde Ihnen zürnen, wenn Sie darüber sprächen. Die Sache ist erlaubt, sie geschieht überall, davon können sie sich überzeugen, wann sie wollen, aber – man spricht nicht davon!«

»Schön, schön, und ich kann Ihnen vertrauen?«

»Gewiß. Ich liebe Sie, und der Geliebte sorgt stets für seine Mätresse, wie kein anderer.«

»Sie sind also mein Geliebter?«

»Gewiß bin ich das!«

»Bis jetzt habe ich noch nicht gewußt, daß ich Ihre Mätresse bin!«

»Seit heute sind Sie es, das ist eine abgemachte Sache.«

»Durch Sie allein abgemacht?«

»Natürlich! Denn weiß vielleicht ein Kind, wie Sie, was ihm nottut?«

»Das ist wahr. Und ich will Ihnen vertrauen. Beschließen sie über mich, Sie sind mein Vater!«

»Das bin ich durch meine Liebe für sie und den Wunsch, Sie glücklich zu sehen.«

»Ich danke Ihnen von Herzen für solche Gefühle, aber wirklich, Ihre Mätresse zu sein … das ist doch zu komisch!«

»Ihre verflossene Tante ist weniger schwer zugänglich!«

»Ihr Beispiel ist für mich nicht bestimmend …«

In diesem Augenblick hörte man Elise mit erhobener Stimme zu ihrem ehemaligen Geliebten sagen: »Gehen Sie!« Dieser verließ in der Tat das Zimmer. Sein Freund blieb. Da Elise kein Wort von dem erwähnte, was zwischen ihnen vorgegangen war, so blieb Fanchonnette davon überzeugt, daß d’Est* ihr die Wahrheit gesagt habe. Sie dachte über seine Vorschläge nach und fand im Grunde nichts dagegen einzuwenden. Nachmittags fand sie Gelegenheit, allein auszugehen. D’Est* begegnete ihr und lud sie ein, mit ihm den Jahrmarkt von Saint-Laurent zu besuchen. Er machte ihr verschiedene kleine Geschenke und drang dann solange mit Bitten in sie, bis sie nachgab und mit ihm zu Nicolet ging. Fanchonnette war entzückt von dem, was auf der Bühne vorging. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie lachte aus vollem Herzen und gab sich ganz dem Vergnügen hin, obwohl sie von Zeit zu Zeit eine Unruhe empfand, die sie auch d’Est* gegenüber ausdrückte. Doch dieser beruhigte sie und gab ihr, obgleich er wußte, daß es nicht wahr sei, zu verstehen, Elise dächte gar nicht an sie, sie sei mit ihrem Geliebten zusammen usw.

Hinter Fanchonnette saß ein schon älterer Herr, der gespannt ihr Gespräch belauschte. Er war reich, sah, daß er eine Unschuld vor sich hatte und nahm sich vor, das Wild dem Studenten abzujagen, den er kannte, dem er selber aber unbekannt war.

Als sie hinausgingen, folgte er ihnen und fuhr ihnen nach. Bald verließ der Fiaker, in dem das Pärchen saß, den Boulevard und durchfuhr dann die einsamen Straßen des Marais. In der Nähe der Rue des Rosiers hielt er. D’Est* stieg aus, versuchte aber vergeblich, Fanchonnette zu überreden, ein gleiches zu tun. Sie weigerte sich, den Wagen zu verlassen und gab ziemlich laut ihre Gründe dafür an, so daß der Herr, der ihnen gefolgt war und der seinen Wagen ebenfalls hatte anhalten lassen, alles hören konnte.

»Man würde mich ausschelten,« hörte er sie sagen, »es ist schon sehr spät, ich kann nicht, ich will nicht!«

»Doch, doch, Sie müssen, ich will Ihnen nur einen Augenblick meine Wohnung zeigen und Sie nicht lange aufhalten …«

Aber Fanchonnette blieb fest, und d’Est* mußte wieder zu ihr in den Wagen steigen. Man fuhr also weiter, aber kaum hatte man einige fünfzig Schritte zurückgelegt, als sich trotz dem Gerassel der beiden Wagen Geschrei des jungen Mädchens vernehmen ließ. Der Herr, der sich für Fanchonnette interessierte, befahl seinem Kutscher, dem anderen Wagen vorzufahren und ihm dann den Weg zu versperren. Dies getan, stieg er aus und riß, begleitet von seinen Leuten, die Wagentür des Fiakers auf, um der Dame, die danach zu verlangen schien, seine Hilfe anzubieten. D’Est * war sehr unangenehm überrascht und stammelte einige Worte. Fanchonnettens Kleider waren in Unordnung. Der Besitzer der Equipage ließ sie in seinen Wagen tragen. Er sagte laut, er wolle sie nach Hause fahren lassen und bat sie, ihre Adresse anzugeben. Man schlug sofort den Weg nach ihrer Wohnung ein, einen ganz anderen, als d’Est* genommen hatte. Der Befreier Fanchonnettes bezeigte ihr die größte Achtung. Das junge Mädchen erholte sich bald von ihrer Erregung und wollte d’Est* rechtfertigen, ja sie bat ihren Befreier sogar, sie wieder zu ihm zu bringen, da sie besonders Schlimmes gegen ihn nicht vorbringen könnte. Aber die beiden Wagen waren schon zu weit voneinander entfernt, so daß ihr Wunsch nicht befriedigt werden konnte. Man traf zu Hause ein, wo Elise schon von der größten Unruhe verzehrt wurde. Herr D.I.C., der Befreier, entschuldigte Fanchonnette, bevor sie noch ein Wort sagen konnte, und versicherte, daß sie keine Schuld träfe, und daß er sie aus den Händen eines Mannes befreit hätte, gegen den sie sich zu verteidigen gehabt hätte. Das junge Mädchen wollte als reine Unschuld dastehen und wagte daher kein Wort zur Verteidigung d’Est*s, den Herr D.I.C. mit Namen bezeichnet hatte. Als Elise diesen Namen hörte, stieß sie einen schweren Seufzer aus, sie sah darin, was gar nicht der Fall war, ein Komplott, sie und alles, was mit ihr zusammenhinge, in den Schmutz zu ziehen. Herr D.I.C. nannte sich, und da fand es sich, daß sie ihn als einen reichen Finanzmann kannte. Sogleich hatte sie Vertrauen zu ihm, erzählte ihm ihre ganze Geschichte und verhehlte ihm auch ihren Verdacht nicht. Herr D.I.C. hatte die beiden im Theater vertraulich beieinander gesehen und konnte daher nicht an irgendwelche Vergewaltigung glauben, doch stellte er sich so, bot den beiden Schönen seinen Schutz an und zog sich erst zurück, nachdem Elise dieses Anerbieten angenommen hatte.

Am anderen Morgen hatte Fanchonnette zufällig den Schmuckgegenstand angelegt, den d’Est* ihr zum Geschenk gemacht hatte. Elise fragte sie, woher sie ihn hätte, und, als sie darüber in Verwirrung geriet, erriet sie die Wahrheit, zumal da sie den Gegenstand schon im Besitze d’Est*s gesehen hatte, und machte Fanchonnette die lebhaftesten Vorwürfe über ihre Unvorsichtigkeit. Diese, die noch immer an die Fabel d’Est*s über das Verhältnis Elisens zu ihrem Onkel glaubte, erwiderte ihr mit einer Unverschämtheit, die ihr eine Ohrfeige einbrachte. Wütend über diese Zurechtweisung erspähte sie geschickt eine Gelegenheit, wo sie heimlich das Haus verlassen konnte, und eilte dann zu d’Est, diesem ihr Leid zu klagen. Der Verführer nutzte diese gute Gelegenheit aus und opferte das junge Mädchen seinen brutalen Gelüsten. Fanchonnette verließ ihn entehrt.

Die Kleine sah ihren Fehltritt ein und war so vernünftig, zu Elise zurückzukehren. Sie bat diese um Verzeihung und erzählte ihr, sie hätte soeben den Schmuck wieder zurückgegeben. Sie hatte ihn in der Tat bei d’Est* gelassen. Elise, die etwas lebhaft war, aber ein gutes Herz hatte, verzieh ihr und gab darauf dem Mädchen die klarsten Beweise dafür, daß sie die Vorschläge ihres ersten Geliebten, Herrn de R**, zurückgewiesen hatte. Sie beschlossen, Herrn d’Est* nicht mehr zu empfangen, und vereinbarten, daß Fanchonnette jede weitere Beziehung zu ihm abbrechen solle.

Die Heirat Elisens mit Geti, dem Onkel Fanchonnettens, kam bald darauf zustande. Einige Wochen nach diesem Ereignis zwangen Geschäfte den jungen Ehegatten, eine Reise auf drei Monate anzutreten. Frau und Nichte blieben allein im Hause. Die Freunde ihres ersten Geliebten hatte Elise nach ihrer Hochzeit nicht mehr empfangen, d’Est* war also nicht der alleinige Verbannte. Da er das Haus nicht mehr betreten konnte, so lauerte er davor, um eine Gelegenheit zu erspähen, wieder mit Fanchonnette zusammenzukommen. Das konnte denn auch nicht ausbleiben, und da er einen tiefen Eindruck auf die junge Schöne gemacht hatte, die ihn nur sehr gegen ihren Willen mied, so erreichte er es bald, daß sie wieder in seine Wohnung kam. So wurde die kleine Geti die Mätresse dieses schlechten Menschen, fast ohne es zu merken.

Aber auch Herr D.I.C. ließ Fanchonnette nicht außer Augen. Er rechnete auf ihren Bruch mit d’Est und beeilte sich vorläufig nicht, ihr Anträge zu machen, um sie nicht abzuschrecken. Doch stellte er sich endlich eines Tages in ihrer Wohnung ein, als er sicher war, sie allein anzutreffen. Er war dessen sicher, denn er selbst hatte Elise durch eine Dame seiner Bekanntschaft rufen lassen.

»Kennen sie mich noch, liebes Fräulein?« fragte er sie. »Oh ja! mein Herr, Sie sind mein Befreier, und ich werde Sie nie vergessen.«

»Ihre Gefühle, schönes Fräulein, sind mir schmeichelhaft, aber das genügt mir nicht. Sie sind reizend und verdienen ein besseres Schicksal. Ich bin imstande, Ihnen eine glänzende Zukunft zu bieten und stelle von heute ab alles zu Ihrer Verfügung, was sie sich nur irgendwie wünschen können, eine schöne Wohnung, Lakeien, Kammerzofen, Equipagen, Pferde. Sollten Sie Ärgernis befürchten, so will ich Ihnen monatlich eine bestimmte Summe für Ihre kleinen Bedürfnisse aussetzen, Sie bleiben bei Ihrer Tante, wir mieten eine Wohnung in der Nähe, wo wir uns sehen werden, Ihre Zofe wird dort wohnen, wir geben sie als Ihre Freundin aus, die Sie besuchen, selbst Ihre Tante könnte deren Bekanntschaft machen. Kleider, Schmuck, Geld, alles was sie wünschen, steht Ihnen nach Belieben zur Verfügung …«

»Mein Herr, ich weiß nicht … Ihre Anerbietungen sind ja glänzend …, aber, eine Sache, wie diese…«

»Ich zeige Ihnen den Weg zur Freude und zum Glück. Heute noch müssen sie Ihren Entschluß fassen, wer weiß, wann ich wieder einmal das Glück haben werde, Sie allein zu treffen. Seien sie vernünftig, liebes Fräulein, die Zukunft, die ich Ihnen biete, ist glänzend. So etwas wird einem nur einmal im Leben und nur in Ihrem jetzigen Alter geboten. Denken Sie an die schönen Kleider, den Schmuck, die Reichtümer, die ich Ihnen schenken werde, an Theater, Bälle, Vergnügungen aller Art, die ich Sie kosten lassen werde, sobald Ihre Kammerzofe Ihre Tante kennen gelernt hat, wofern sie nicht vorziehen, öffentlich mit mir zu verkehren. In diesem Falle werde ich Sie unter die Schülerinnen der Oper aufnehmen lassen, und dann können sie auf Ihre Verwandten und auf das ›was wird man dazu sagen‹, pfeifen …«

Fanchonnette verfiel in tiefes Nachdenken.

»Im Grund genommen,« dachte sie, »habe ich d’Est* alles gewährt, der sehr hart mit mir ist, äußerst anspruchsvoll mich am Gängelbande führt, als ob ich ihm alles verdankte, und der sich offenbar einbildet, ich könne Gott danken, einen so schönen Mann, wie ihn, mein zu nennen. Kleider und Schmuck würden mir mehr Relief verleihen … Alles würde geheim bleiben … Meine Zofe würde als meine Freundin gelten … Ausgezeichnete Idee … Die Tante würde nichts erfahren … Die Gefahr gewisser unangenehmer Folgen, die mein Verhältnis zu d’Est* mit sich bringt, bleibt dieselbe, wenn ich auch diesen noch hinzunehme …« Schließlich sagte sie zu D.I.C.:

»Sie drängen zu sehr, mein Herr, ein Mädchen in meinem Alter entschließt sich nicht so rasch.«

»Mein schönes Kind, tun sie mir den Gefallen und fassen sie einen schnellen Entschluß, ich werde darüber desto froher und dankbarer sein. Lassen sie alle Skrupeln beiseite und sagen sie ja. Sie sind nicht reich. Wenn sie durchaus an eine Heirat denken, so ist der Weg, den ich Ihnen eröffnen will, dazu der sicherste, denn ausgehaltene Frauen sind heute gesuchter, als andere. Sie kennen Ihren Nachbarn, den ***R**?«

»Ja.«

»Nun wohl, die Dame, die sein Haus, seine Börse und sein Herz beherrscht, ist nicht seine Gattin, sondern seine Geliebte, und doch sind sie geehrt, geachtet und gern gesehen! Ihre Tochter, diese impertinente Person, die man lateinisch lernen läßt, um sie ganz unausstehlich zu machen, wird sicher mal einen Edelmann heiraten, ein Bürgerlicher würde für sie nicht gut genug sein. Solche Beispiele mögen sie beruhigen, wenn sie aber wollen, kann ich noch hundert andere anführen, wie solche Frauen Heiraten gemacht haben, auf die sie niemals hätten hoffen können, wenn sie anständig geblieben wären, und wie sie die Dummköpfe, die sie eingegangen sind, an der Nase führen. Mätressen werden zudem stets bis in ihr spätestes Alter, wenn sie selbst abstoßend häßlich geworden sind, geehrt und geachtet.«

Alle diese Gründe, geschickt vorgebracht, bestimmten endlich Fanchonnette, zuzusagen, und der ***R** ist Schuld an ihrem Verderben, denn sein Betragen hat das junge Mädchen verführt, sich aus Interesse hinzugeben. Sie schlug die Augen nieder und antwortete, rot werdend:

»Sie scheinen mir ein ehrlicher Mann zu sein und flößen mir Vertrauen ein. Doch muß ich mir die Sache erst noch überlegen, denn sie ist zu wichtig für mich.«

Herr D.I.C. sah, daß sie ihm gehörte, ein schönes Geschenk war seine Antwort. Er sagte, daß eine Wohnung vom nächsten Tage an in der Rue des Anglais bereitstehen würde, in einem Hause, das er ihr näher bezeichnete. Er bat sie, sich dort einzufinden, damit er sie ihr übergeben könne.

Am darauffolgenden Tage fand Fanchonnette Gelegenheit, nachmittags gegen drei Uhr ausgehen zu können. Sie begab sich klopfenden Herzens in die bezeichnete Wohnung. Ein netter Diener erwartete sie, und D.I.C. stellte sie der Kammerzofe als Herrin des Hauses vor. Nach Tisch setzte D.l.C. sich in Besitz der Kleinen.

Es waren zwei Gründe dafür vorhanden, daß er nicht geliebt wurde: er zahlte und er war älter, als d’Est*. Dieser blieb also der Bevorzugte. Er stieg sogar noch in der Gunst Fanchonnettens, die allmählich alles Zartgefühl beiseite setzte und sich ihm rückhaltlos so zu sagen an den Hals warf. Er mißbrauchte sie, wie alle Männer seiner Art, mögen sie mit anständigen oder anderen Frauen zu tun haben. Er behandelte sie wie die gemeinste Dirne, beschimpfte sie, wo er konnte und mißhandelte sie, wenn sie das Unglück hatte, die Stunde zu verpassen, die er ihr zum Rendezvous bestimmt hatte.

Herr D.I.C., der sich für den Alleinbesitzer der jungen Schönen hielt, wußte es bald so einzurichten, daß deren Kammerzofe sich an Elise anschloß. Sie hatte sich ihr als eine Witwe vorgestellt, die von ihren Renten lebte. Frau Geti fühlte sich von ihrer Freundschaft sehr geehrt und aß oft mit ihrer Nichte bei Frau Deboussonville, die beide Damen auf das zuvorkommendste behandelte. Auch vertraute sie ihr Fanchonnette so oft an, wie sie darum ersuchte. Aber ein verbrecherisches Treiben ist nie von Dauer, man will andere täuschen, täuscht sich selbst, und alles kommt an den Tag. Die Vergnügungen, die Herr D.I.C. Fanchonnette verschaffte, Theater, Promenaden u.s.w. nahmen deren ganze Zeit in Anspruch und hatten oft zur Folge, daß sie die Rendezvous mit d’Est* verfehlte, oder vielmehr sich gegen seine Befehle verfehlte. Nachdem er es aufgegeben hatte, sie an mehr Pünktlichkeit zu gewöhnen, wollte er wenigstens wissen, was dahinter steckte. Er folgte ihr und es dauerte auch nicht lange, bis er entdeckt hatte, wohin sie stets ihre Schritte lenkte. Er zog in der Nachbarschaft Erkundigungen über Frau Deboussonville ein und sah, daß ihr von allen Seiten Weihrauch gestreut wurde. Er wußte nicht, was er denken sollte. Als Fanchonnette das nächste Mal zu ihm kam, wandte er ein stärkeres Mittel an, um hinter die Wahrheit zu kommen. Er schrie sie mit fürchterlicher Miene an:

»Ich weiß alles! Was tust du bei der sogenannten Frau Deboussonville in der Rue des Anglais? Lüge nicht, denn ich bin von allem unterrichtet.« Dann folgten die gröbsten Ausfälle. Fanchonnette wurde verlegen, glaubte, es sei alles entdeckt, und fing statt jeder Antwort zu weinen an. Die Tränen überraschten sogar d’Est*, darauf war er nicht gefaßt gewesen, denn er hatte angenommen, sie würde sich mit zwei Worten rechtfertigen können. Nun geriet er in maßlosen Zorn und drohte ihr, er würde, wenn sie ihm nicht selbst sofort die Wahrheit gestände, die er schon wüßte, überall erzählen, was vorginge, und bei ihrer Tante den Anfang machen. Fanchonnette schwieg. Eine Ohrfeige bekräftigte die Drohung. Nun wollte sie gerade unter Schluchzen ihre Beichte beginnen, als ein Freund von d’Est* dazu kam. Er verehrte das junge Mädchen heimlich, obwohl er ihr Verhältnis mit d’Est* kannte, der sich dessen gerühmt hatte. Er äußerte verblüfft:

»Wie? liebes Fräulein, Tränen?«

»Ja, das liebe Fräulein beträgt sich wie eine Straßendirne.«

»Ich glaube nicht ein Wort davon,« erwiderte der Freund, »und übernehme jede Garantie für sie.«

»Und doch ist es sicher. Sie geht zu einer gewissen Deboussonville …«

»Frau Deboussonville! Eine sehr ehrenwerte Dame! Ich kenne sie zufällig, eine äußerst achtbare Frau!«

»Aber das Fräulein gesteht selbst ein …«

»Was gesteht sie ein? Was haben sie gesagt, Fräulein?«

»Aber gar nichts, nicht ein Wort, ich konnte vor Weinen nicht sprechen, weil er brutal gegen mich war.«

»Ah! d’Est*, dein Betragen ist gemein, du verdienst nicht dein Glück!«

»Aber sie wurde doch bei dem Namen Deboussonville verlegen!«

»Weil sie sah, daß du bei jeder Gelegenheit Verdacht hast.« Nach weiterem Hin- und Herreden bot der Freund sich an, Fanchonnette nach Hause zu bringen. Sie nahmen einen Fiaker. Unterwegs stachelte er sie auf, sich an d’Est* zu rächen, der ihrer unwürdig sei. Sie weigerte sich dessen. Als sie zu Hause angelangt waren, wollte das Unglück, daß die Tante ausgegangen war, und da stürmte er mit aller Macht auf sie ein. Schließlich erhielt er von ihr das Versprechen, daß sie Mitleid mit seiner Pein haben und ihn zum Rächer für alle Brutalitäten d’Est*’s annehmen würde. Und so geschah es.

D’Est* war über die Persönlichkeit der Deboussonville doch nicht so ganz beruhigt. Bevor er aber noch näheres über sie erfahren hatte, geschah es, daß er eines Tages jenen Freund, der Fanchonnette nach Hause begleitet hatte, besuchen wollte. Da der Hausmeister gerade nicht anwesend war, so trat er bei ihm ein, ohne sich anmelden zu lassen. Im Vorzimmer hörte er Stimmen, und zwar besonders die Stimme einer Frau, die ihm sehr bekannt vorkam. Er wollte eintreten, fand aber die Tür von innen verriegelt. Nach einigen Sekunden öffnete sein Freund die Tür, er schien sehr erregt zu sein. D’Est* sagte zu ihm:

»Ich bitte um Entschuldigung, du bist wahrscheinlich mit einer hübschen Patientin beschäftigt, und da will ich nicht stören.«

»In der Tat, lieber Freund, du läßt dich übrigens ja gar nicht mehr sehen, komme nachher zum Diner wieder.«

D’Est* sagte zu und ging. Er verließ aber nicht das Haus, sondern trat beim Pförtner ein, bat um Feder und Papier und tat so, als ob er einen Brief zu schreiben hätte. Er blieb dort ungefähr eine Stunde. Diese Zeit hatte für die Konsultation Fanchonnettens genügt. D’Est*, den man weit vom Schuß glaubte, sah sie das Haus verlassen. Einige Minuten später ging er wieder zu seinem Freunde hinauf und sagte zu ihm:

»Man hat mir unten gesagt, du seist jetzt frei.«

»Ganz recht.«

»War die Patientin hübsch?«

»Reizend.«

»Nicht grausam?«

»Durchaus nicht, wirklich entzückend.«

D’Est* ließ das Thema fallen und speiste in heiterster Laune. Während der Mahlzeit sagte er seinem Diener, der ihm gefolgt war, etwas ins Ohr. Man war beim Dessert, als Fanchonnette plötzlich eintrat. Sofort rief d’Est* ihr zu:

»Mein Fräulein, mein Freund hat mir erzählt, was diesen Morgen zwischen ihm und Ihnen hier vorgegangen ist. Ich habe Sie hierher bitten lassen, um Sie zu behandeln, wie eine gemeine Dirne es verdient.«

Er wollte sich auf sie stürzen, wurde aber festgehalten, und die unselige Fanchonnette lief in schmerzlicher Verlegenheit davon. Der Diener, der sie geholt hatte, stieg mit ihr in den Wagen und wollte sie ohne ihr Wissen in die Wohnung seines Herrn bringen, wie dieser heimlich befohlen hatte. Als sie aber das Haus erkannte, weigerte sie sich, auszusteigen. Der Diener stellte ihr vor, er werde fortgejagt werden, im Grunde wisse sein Herr gar nichts, sie habe nichts zu befürchten, und es sei doch besser, sie setze sich mit ihm auseinander, als sich mit ihm zu verfeinden. Sie gab nach und ging mit ihm die Wohnung. Dort schloß sich der unverschämte Lakei mit ihr ein und machte ihr klar, daß jeder Widerstand vergeblich sein würde! … So mußte sie auch diesen höchsten Schimpf über sich ergehen lassen. D’Est* kam mit seinem Freunde dazu, und Fanchonnette stand vor diesem im häßlichen Lichte da. D’Est* versicherte ihm, sie sei schon seit langem in seinen Diener verliebt, und endlich sei jetzt sein Verdacht bestätigt worden. Darauf jagte er sie mit Schimpf und Schande zum Hause hinaus.

Der Freund folgte ihr nach und bot ihr seinen Wagen an.

»Nein,« erwiderte sie empört, »nein, alle Männer sind Ungeheuer. Was ich heute erlebt habe, beweist mir, daß sie nur wilde Tiere sind. Gehen sie, lassen Sie mich!«

»Wie? Sollten sie unschuldig sein ?«

»Haben sie diese Niederträchtigkeit geglaubt? Dann sind Sie nicht mehr wert als Ihr unwürdiger Freund!«

»Erklären sie mir alles, ich bin geneigt, Ihnen Glauben zu schenken … Aber kommen sie mit in meinen Wagen.« Sie sträubte sich eine Zeitlang sehr heftig, dann stieg sie doch ein. Im Wagen brach sie in Tränen aus, dann klärte sie ihn über die gemeine Handlungsweise des d’Est* auf und bewies ihm, daß alles auf dessen Befehl geschehen sei. Der junge Mann war empört und schwur, mit d’Est zu brechen.

»Rächen sie mich,« flehte Fanchonnette ihn an.

»Ja, liebe Freundin, von Herzen gern, wenn Ihnen nur nicht die Geschichte mit dem Lakei passiert wäre!«

Das war zu viel, das ging über die Kräfte des jungen Mädchens. Sie bekam einen Wutanfall, zerschlug eines der Wagenfenster und verlangte, auszusteigen. Zum Glück waren sie in der Nähe ihrer Wohnung, und es war schon spät. So konnte sie unbemerkt eintreten.

Als sie zu Elise ins Zimmer trat, fiel sie in Ohnmacht. Frau Geti war so erschrocken, daß sie kaum imstande war, ihr zu Hilfe zu eilen. Als sie wieder zu sich gekommen war, bat ihre Tante sie, ihr zu erzählen, wer sie in solchen Zustand versetzt habe. »D’Est*,« war die Antwort, »der mich gewaltsam verführt hat.« Zugleich bat sie ihre Tante, ihn nicht anzuzeigen, denn sonst würde sie entehrt dastehn. Tags darauf fühlte sie sich wieder besser, und die Wunden an der Hand, die das Fenster eingeschlagen hatte, heilten. Sie besuchte Frau Deboussonville, und diese zeigte ihr einen Brief d’Est*’s, worin er ihr schrieb, sie empfange eine Dirne usw.

»Er kennt mich nicht, wie Sie sehen,« bemerkte die Kammerzofe, »also weiß er von nichts. Es liegt daher in Ihrer Hand, und erfährt Herr D.I.C. niemals, daß Sie einen anderen Geliebten gehabt haben: schließen Sie mir den Mund und teilen sie mit mir!«

Fanchonnette willigte darein ein und lebte fortan mit Herr D.I.C. allein, ohne d’Est* oder dessen Freund wiederzusehen.

So verlebte sie acht Tage in aller Ruhe, als sie eines Morgens ihre Wohnung ausgeräumt fand. Die Türen standen offen, und kahle Wände stierten sie an. Sie erkundigte sich erstaunt bei den Nachbarn und erfuhr, daß Frau Deboussonville und ein Mann am frühen Morgen den Umzug besorgt hätten, nachdem sie die fällige Miete bezahlt hätten. Fanchonnette verlor dadurch nicht nur alles, was sie geschenkt bekommen hatte, sondern auch viele Sachen, die ihr gehört hatten und die sie dort aufbewahrte. Man händigte ihr einen Brief ein, den der Mann für sie bei der Wirtin abgegeben hatte. Sein Inhalt lautete:

»Ich kenne Ihre Aufführung. Sie haben so niedrige Gelüste, daß ich Sie meines Tadels und meiner Rache für nicht würdig halte. Leben sie wohl.«

Es war Fanchonnette nicht schwer zu vermuten, woher dieser neue Schlag kam. Verzweifelt kehrte sie zu ihrer Tante zurück. Sie traf sie gerade beim Lesen eines anderen Briefes an, der alle Einzelheiten ihrer Aufführung mit den nötigen Weisungen enthielt, wie man sich von der Wahrheit der Behauptungen überzeugen könnte. »Da lesen sie, Fräulein!« Damit gab sie Fanchonnetten den Brief zu lesen. Da hier nichts mehr abzuleugnen war, fing sie an zu weinen. Die Tante sagte dann :

»Sie haben sich wie eine Elende betragen. Ihres Bleibens bei mir kann nicht länger sein. Wohin kann ich Sie bringen lassen?«

»Ich flehe Sie an, behalten sie mich bis morgen.«

Elise antwortete nicht. Im Grunde sah sie keine Möglichkeit, sie wegzuschicken, und hatte so nur gesprochen, um ihr ihren ganzen Abscheu wegen ihrer Aufführung zu bezeigen. Die untröstliche arme Fanchonnette wußte am anderen Tage nicht, was sie anfangen und wohin sie gehen sollte. Sie war noch nicht verdorben genug, um bis zur letzten Stufe zu sinken. Sie rief das Mitleid ihrer Tante an, diese ließ sich rühren und versprach, ihrem Mann alles zu verheimlichen, wofern sie sich von nun an musterhaft aufführen würde.

Die Ärmste versprach alles. Sie kleidete sich bescheiden, nicht einmal ihrem Stande gemäß, wie eine gewöhnliche, kleine Arbeiterin. Drei Monate lang betrug sie sich so, daß Elise sie vollkommen geändert glaubte und ihr wieder ihre Freundschaft zuwandte, obwohl sie dabei immer noch eine gewisse Zurückhaltung beobachtete. Der Onkel war zurückgekehrt. Er hielt seine Nichte für eine Frömmlerin und machte sich oft über sie lustig, bis Elise ihn bat, mit ihr nicht zu vertraulich zu werden.

Die Ruhe tat Fanchonnette gut. Sie wurde wieder frisch und blühend, und bald war sie in ihrer einfachen Tracht wieder so anmutig wie früher. So sah sie ein alter Lüstling, der ihr bald durch eine jener Händlerinnen Anträge machen ließ, die von Haus zu Haus gehen, um ihre Waren abzusetzen. Diese Vorschlage waren glänzend. Fanchonnette fing an, das traurige Leben, das sie führte, satt zu bekommen, und nahm an. Aber sie zog vorher Erkundigungen ein. Durch ihre traurigen Erfahrungen gewitzigt, wollte sie von einer Dame Deboussonville nichts mehr wissen. Sie suchte sich selbst eine Kammerzofe aus und behielt die Schlüssel ihrer neuen Wohnung.

Elise bemerkte bald, welche Veränderung mit ihrer Nichte vorgegangen war, und hielt sich für verpflichtet, ihren Mann darauf aufmerksam zu machen, und ihn zu bitten, sie zu beobachten. Bald kam man hinter die Wahrheit, und da es sich um einen so schweren Rückfall handelte, so beschloß man, sie in eine Besserungsanstalt zu bringen. Man sprach mit jemandem, der die geeigneten Schritte dazu tun mußte, und benachrichtigte Fanchonnette. Am selben Tage, als der Befehl dazu ausgeführt werden sollte, fand sie trotz strenger Beaufsichtigung Gelegenheit, durchzubrennen und sich nach der Neuen Halle zu flüchten, wo sie ein kleines möbliertes Zimmer mietete. In die Wohnung, die der alte Herr ihr gemietet hatte, getraute sie sich nicht aus Furcht, dort entdeckt zu werden. Dort blieb sie einige Zeit und ging nur in der Dunkelheit aus, um ihre Einkäufe zu machen.

Eines Abends sprach ein Herr sie an und machte ihr Anträge. Da Fanchonnettens Mittel zu Ende gingen, fühlte sie sich versucht, darauf einzugehen, und antwortete halb zögernd. Der Herr hielt ihre halbe Zurückweisung für eine Zusage und begleitete sie auf ihr Zimmer. Dort wurde die schwache Fanchonnette behandelt, wie ein Mädchen der Gattung, der sie anzugehören schien und ebenso verächtlich verlassen. Am folgenden Tag das gleiche Abenteuer … Endlich verfiel sie der Gewohnheit, obwohl sie sich täglich vornahm, ihre Zuflucht zu dem alten Herrn zu nehmen, sobald sie ohne Gefahr sich wieder in ihrer Wohnung zeigen könnte.

Während sie dieses Leben führte, wurde sie von einer Nachbarin beobachtet, die ein gleiches führte. Als diese bemerkt hatte, daß sie Herren empfing, näherte sie sich ihr und machte ihr Komplimente über ihr anständiges Aussehen und die Vorsicht, mit der sie sich aufführte.

»Sie tun recht daran«, fügte sie hinzu, »und ich werde Ihrem Beispiel folgen. Aber einen Rat will ich Ihnen doch geben. Man läuft zweierlei Gefahr, wenn man mit Herren verkehrt: erstens droht die Polizei, und zweitens kann man krank werden. Folgen sie meinem Beispiel …«

Ihr Rat ging dahin, sie solle sich in den Öffentlichen Gärten zeigen. Dort, meinte sie, wäre man mit einiger Vorsicht sicher gegen alle Gefahren.

Fanchonnette folgte zitternd diesem gefährlichen Rat und verfiel in den tiefsten Grad von Herabgekommenheit … Doch empfand sie Scham drüber und verzichtete ganz auf diese schimpfliche Erwerbsquelle, als sie einmal beinahe von der Polizei erwischt wurde, wie es ihrer Nachbarin geschah, während sie selber ihre Rettung nur ihrem ehrbaren Äußeren verdankte.

Am darauffolgenden Tage verließ sie ihre Wohnung aus Furcht, ihre Gefährtin könnte sie angegeben haben, und begab sich endlich in die Wohnung, die ihr der alte Herr gemietet hatte. Dort traf sie ihre Zofe an, die bei ihrem Anblick wie eine Närrin lachte und sie aufforderte, einzutreten. Sie ging geradenwegs in ihr Zimmer und wollte mit ihrem Schüssel öffnen, aber das Schloß war geändert. Beim Geräusch, das sie verursachte, wurde die Tür plötzlich geöffnet, und sie sah ein junges Mädchen ihres Alters vor sich, das ebenso hübsch und noch frischer und blühender war, als sie und sie fragte:

»Was wünschen sie, Madame?«

»Was ich wünsche? Ich bin hier bei mir zu Hause!«

»Das ist sonderbar, denn auch ich bin hier in meiner Wohnung! …«

Fanchonnette bemerkte, daß sie eines ihrer schönsten Kleider anhatte. Entrüstet darüber, schrie sie sie an:

»Wie? Sogar meine Kleider tragen sie! Ah! Das ist zu stark, und wir wollen doch einmal sehen …«

»Toinette,« unterbrach die neue Herrin des Hauses sie, »holen sie Herrn ****, er soll mir sagen, was diese Verrückte will.«

Toinette hörte zwar nicht auf den Befehl, Fanchonnette aber, empört über das, was sie erleben mußte, warf sich auf ein Sofa und weinte bittere Tränen. Dann stand sie auf, um in den Kommoden nachzusehen, wurde daran aber von ihrer Nebenbuhlerin verhindert. Toinette schüttelte sich vor Lachen während dieses Streites. Endlich kam der alte Herr ungerufen. Er war starr vor Staunen, als er Fanchonnette erblickte, die er in einer Besserungsanstalt glaubte. Sein Herz sprach zu ihren Gunsten. Er gab zu, daß die Wohnung ihr gehörte, versprach aber, der anderen eine gleiche einzurichten und ihr alles zu ersetzen, was sie Fanchonnette überlassen würde. Bei diesem Vorschlage kam Fanchonnette der Gedanke, darin läge die Möglichkeit für sie, sich in Sicherheit zu bringen, wenn sie die neue Wohnung nähme und ihrer Nebenbuhlerin die ihrige überließe. Ihr Vorschlag wurde angenommen. Der alte Herr bat die Mädchen, den Tag wie zwei Schwestern miteinander zu verleben, abends würde er dann Fanchonnette in die neue Wohnung geleiten.

Fanchonnette war mit der neuen Anordnung sehr zufrieden. Da sie den Alten nicht liebte, war sie gern bereit, ihn mit einer anderen zu teilen. Aber die Nebenbuhlerin war verletzt, weil dieser seine Vorliebe für seine frühere Geliebte zu deutlich gezeigt hatte und weil sie fühlte, daß Fanchonnette sie aus dem Sattel heben würde. Doch ließ sie sich nichts anmerken und plauderte mit Fanchonnette über ihre eigenen Erlebnisse, um dadurch auch diese zu veranlassen, näheres über ihr Schicksal zu erzählen. Dieser Plan gelang ihr allerdings nicht, aber am Nachmittag erhielt sie Besuch von einer Bekannten.

»Mein Gott,« äußerte diese, »wie traurig ist doch unser Gewerbe! Ich war früher Näherin und verdiente täglich zehn Sous, grade genug, um barfuß gehen und Hungers sterben zu können. Da verspricht mir ein älterer Herr eine gesicherte Zukunft, ich denke, nun bin ich reich: jawohl! Er läßt mich sitzen. Ein anderer folgt ihm, der war noch schlimmer! Wenn mich nun dieser wieder verläßt, dann weiß ich nicht mehr, wohin ich soll! In die Öffentlichen Gärten … denn ich würde niemals wagen, bei mir Herren zu empfangen … Aber auch die Gärten … Ich war gestern in den Tuilerien und habe zugesehen, wie man zwei Damen aufhob, die eine sah sehr anständig aus, übrigens Ihnen ähnlich …, doch, ich irre mich nicht, Sie waren es, Madame! Sind Sie wieder entlassen worden?«

»Sie befinden sich im Irrtum,« erwiderte Fanchonnette, rot werdend.

»Nein, nein, Sie waren es! Dasselbe Kleid, dieselbe Frisur, ich sehe Sie ganz so wie gestern vor mir. Übrigens muß ein jeder zusehen, wie er sich durchbringt, und wenn man keine anderen Mittel hat …«

Fanchonnette fuhr fort, zu leugnen, die andere ließ sich aber nicht davon abbringen, bis der alte Herr dazwischen trat. Die Desrays teilte ihm mit, worum es sich handelte, aber der Gutmütige hielt die Geschichte für eine Falle und nahm Fanchonnette mit sich. Am nächsten Tage gab er der Nebenbuhlerin ihren Abschied, und diese befand sich nunmehr in derselben Lage wie Fanchonnette tags vorher. So endigen drei Viertel aller ausgehaltenen Mädchen. Nur wenige behalten Oberwasser und machen ihren Weg. Es ist ein Spiel, eine Art Lotterie, und es grenzt an Wahnsinn, dabei auf einen Gewinn zu rechnen. Bei der ungeheuer großen Anzahl dieser Mädchen in Paris ist die Gewinnaussicht eins zu hundert.

Fanchonnette fühlte sich fast glücklich in ihrer neuen Lage, wenn sie sie mit der verglich, aus der sie entronnen war. Aber eine grausame Enttäuschung harrte ihrer! Eines Tages bemerkte sie, daß sie sich eine scheußliche Krankheit zugezogen hatte … Sie begab sich, der Verzweiflung nahe, in ärztliche Behandlung und hoffte schon, daß diesmal noch alles gut abgehen würde, als ein neuer Schlag sie traf. Eines Tages kam der alte Herr vor Wut schäumend zu ihr und schrie sie an:

»Sie sind mir ja eine nette Person! Soeben erfahre ich von meinem Arzt, daß Sie sich mit Lakeien und mit Studenten der Medizin belustigt haben, und ich hielt Sie für …«

Fanchonnette bat ihn, sich zu beruhigen und wenigstens ihre Verteidigung zu hören. Sie erzählte ihm dann ausführlich ihre Geschichte, und wie niederträchtig gemein dieser d’Est* gegen sie gehandelt hatte. Auch wegen ihres Verkehrs mit seinem Freunde strich sie sich heraus, so daß sie den Alten zu ihren Gunsten stimmte. Am anderen Morgen aber war dieser von ihrem Abenteuer mit D.I.C. unterrichtet. Sie leugnete, konnte sich aber doch nicht ganz rein waschen. Endlich sahen zwei Freunde des alten Herrn diesen mit ihr auf der Promenade und erkannten in ihr das Mädchen, das sie in der neuen Halle auf ihrem Zimmer besucht hatten. Sie machten ihm in ihrer Gegenwart Vorwürfe wegen seiner unpassenden Wahl, und voller Entrüstung und Scham ließ er sie stehen und setzte mit seinen Freunden den Spaziergang fort.

Fanchonnette verlor nicht den Kopf. Sie fuhr nach Hause, kam dort vor dem alten Herren an, packte alles Geld, alle Schmucksachen und die besten Sachen ein und flüchtete damit in eine kleine Wohnung in der Rue Saintonge im Marais, wo sie vor ihren Verfolgern in Sicherheit war. Abends ging sie aus, um sich durch ihr schändliches Gewerbe die nötigen Mittel zu verschaffen, und gab sich dem ersten besten hin. Doch die Katastrophe blieb nicht aus.

Eines Abends hatte sie das Unglück, daß niemand für ihre Reize empfänglich sein wollte, so blieb sie etwas länger auf der Straße und war weniger vorsichtig. Da bemerkte sie auf der anderen Seite der Straße einen Herrn und überschritt den Fahrdamm, um ihm entgegenzugehen. Wie groß war ihre Überraschung, als sie ihren Onkel erkannte! … Sie hüllte sich in ihren Schal, verdoppelte ihre Schritte, überschritt ein zweites Mal den Damm und hoffte schon, sich aus der Klemme gerettet zu haben, als ein Polizist sie ansprach und sie fragte, was sie da so spät noch mache. Sie gab genügende Auskunft, und der Polizist ließ sie wieder los. Aber der Onkel hatte gesehen, daß der Polizist das Mädchen anhielt, war zu ihnen getreten und hatte eine ihm bekannte Stimme zu hören geglaubt. Er folgte dem Mädchen unbemerkt und ging ihr ins Haus nach. Sie öffnete ihre Türe, ohne sie wieder zu schließen, da sie erst Licht machen wollte, und diesen Augenblick benutzte der Onkel, um ebenfalls leise ins Zimmer zu treten. Dort blieb er unbeweglich stehen, auf den Lichtschein wartend, der ihm seine Vermutung bestätigen oder ihn eines anderen belehren sollte. Endlich flammte die Kerze auf, und Fanchonnette drehte sich um. Beim Anblick ihres Onkels stieß sie einen gellenden Schrei aus und sank ohnmächtig um.

»Schandweib,« schrie Geti, »dich verdirbst du und mich entehrst du, wenn deine Aufführung bekannt wird. Aber das soll nicht sein! Dies ist dein letzter Augenblick!« Und außer sich vor Zorn und Empörung wollte er sie, anstatt ihr zu helfen, erwürgen. Doch bald nahmen ihn menschlichere Gefühle gefangen. Er verließ das Zimmer, schloß es ab, ging hinunter, fuhr nach Hause und holte seine Frau, die sofort, nachdem sie alles erfahren hatte, der Ärmsten zu Hilfe eilte. Vor dem Hause fanden sie eine Menge Menschen vor. Man teilte ihnen mit, ein junges Mädchen habe sich aus dem Fenster gestürzt, und man habe sie schwerverletzt wieder in ihr Zimmer getragen. Entsetzt eilten sie zu ihr. Sie lag im Sterben, aber erkannte noch ihre Verwandten. Mit schwacher stimme flüsterte sie:

»Verzeiht mir den Kummer, den ich euch durch meine Lebensweise verursacht habe. Ich bin dafür bestraft worden, ich leide furchtbar … Ich wollte mich eurer Strenge und euren Vorwürfen entziehen. Aus Verzweiflung darüber, daß ich nicht hinauskonnte, habe ich mich aus dem Fenster …«

Elise bat sie, zu schweigen und sich zu beruhigen. Sie schickte ihren Mann um Hilfe fort. Ein Arzt eilte herbei, ließ die Sterbende zur Ader, gab ihr einen Wundbalsam und versicherte, daß sie gerettet wäre, wenn sie vierundzwanzig Stunden aushielte.

Seine Voraussage war richtig. Die treue Pflege Elisens gab die Unglückliche dem Leben wieder zurück, und ihr Leid verschaffte ihr die Verzeihung der Tante. Diese behielt sie bei sich und bezeigte ihr die herzlichste Freundschaft. Fanchonnette wurde allmählich wieder hergestellt. Zugleich wurde die üble Krankheit behandelt, deren Symptome an ihr bemerkt worden waren. Sie wurde wieder reizend, war sie doch erst zwanzig Jahr alt. Der furchtbare Schlag besserte sie. Jetzt hatte Sie einsehen gelernt – allerdings etwas spät –, daß das Laster, entweder im natürlichen Verlauf oder durch Zufälle, die es hervorruft, nur zum Unglück führt. Sie verlebte nun vier Jahre in vollständiger Zurückgezogenheit. Sie ging auf keine Promenade, in kein Theater, und nur tief verschleiert in die Kirche. Ihr Onkel hatte ihretwegen die Wohnung gewechselt, und in dem neuen Viertel kannte niemand ihre Geschichte. Nach Ablauf der vier Jahre bat ein ehrenwerter Mann, der sie nach ihrer Wiedergeburt kennen gelernt hatte, um ihre Hand. Fanchonnette war unschlüssig, aber Onkel .und Tante redeten ihr zu, so daß sie schließlich einwilligte. Sie heiratete also und führte zuerst einen ehrbaren Lebenswandel. Aber unmerklich kehrte ihr Hang zu Vergnügungen zurück. Ihr Mann nahm sie mit auf die Promenade, ins Theater, sie sah Menschen, man fand sie schön, man sagte es ihr. Ein Galan machte ihr eine Erklärung. Fanchonnette nahm sich vor, vernünftig zu sein, aber sie hatte keinen inneren Halt mehr und konnte nicht, wie Frauen, die immer anständig geblieben sind, zu sich sagen: »ich habe mir nichts vorzuwerfen«, so fiel sie leichter, als eine andere, fast ohne es zu merken. Dem ersten Fall folgten andere … und schließlich führte sie ein tolleres Leben denn zuvor.

Eines Tages traf sie in einer Gesellschaft mit dem Freunde d’Est*s zusammen, ihr Mann war bei ihr. Da sie Indiskretionen befürchtete, so beeilte sie sich, dem zuvorzukommen und sprach ihn freundlich an. Der Freund sah, daß sie die Frau eines achtungsvollen Mannes war und antwortete in ehrerbietiger Weise, da er unfähig gewesen wäre, ihr ein Unrecht zuzufügen. Bei seiner ersten Begegnung mit d’Est* aber konnte er sich nicht enthalten, ihm mitzuteilen, daß er Fanchonnette gesehen habe und daß sie anständig verheiratet sei.

»Verheiratet,« war die Antwort, »das ist möglich, anständig, das ist ein ander Ding. Sie wäre nicht die erste, die einen ehrlichen Burschen hineingelegt hätte. Doch dahinter will ich kommen.«

Noch am selben Tage sandte er ihr durch seinen Diener, denselben, der sie geschändet hatte, einen Brief des Inhaltes: »Herr d’Est* grüßt Madame*** und bittet sie, sich morgen 11 Uhr Rue ****, im neuen Hause, benannt zum ***, einzufinden und nach dem Sekretär zu fragen. N. S. Madame**** wird die Güte haben, zu kommen, sie kennt Herrn d’Est und weiß, daß mit ihm nicht zu spaßen ist.«

Hätte Fanchonnette ein reines Gewissen gehabt, so würde sie den d’Est* mit Verachtung gestraft haben, so aber hatte sie Angst vor seiner Drohung. Sie ging zu ihm. D’Est* sagte ihr, daß der Makel, den sein Lakei ihr aufgedrückt habe, durch ihre Heirat ausgewischt sei, und daß er sie nun wieder begehre. Was sollte sie machen? Sie war ihm gefügig. Doch nicht damit zufrieden, sie zu knechten, verfügte er auch über ihre Börse und verursachte ihr solche Kosten, daß sie bald das Vermögen ihres Mannes, der ihr blind vertraute, vergeudet hatte. Als er es endlich bemerkte, war die angerichtete Verwüstung kaum wieder gut zu machen. Er beobachtete seine Frau, entdeckte bald alles, erfuhr auch ihre Vergangenheit und brachte sie schließlich in eine Anstalt.

So wird es jedem Mann gehen – ich sage es, weil ich es erlebt habe –, der eine Dirne heiratet. Nie wird eine gefallene Seele sich wieder so weit erheben können, daß sie imstande wäre, fest bei ihrer Pflicht zu bleiben. Man darf daher nicht erstaunt sein, wenn Männer, welche galante Frauen ehelichen, Ehre, Vermögen und Glück verlieren. Die Frau muß zwei Dinge in die Ehe mitbringen: Schönheit und Ehrbarkeit. Diese aber ist das wesentliche, obwohl Schönheit von nicht zu unterschätzendem Werte ist. Eine Frau, die aller Ehrbarkeit bar ist, muß der Gesellschaft und dem heiligen Bunde der Ehe ferngehalten werden, deren Zweck und Ziel ist, dem Staate gute Bürger zu schenken. Denn wie könnte eine leichtfertige Mutter ihren Kindern Gefühl für Ehre und Pflicht beibringen? Schon im Mutterleibe wird den Kindern solcher Weiber die Seele vergiftet, denn sie sind das Erzeugnis niedriger Leidenschaften ihrer Väter, die nur ihren verächtlichen tierischen Gelüsten folgten.