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Ein braver Mann, namens des Glands, begegnete eines Tages in der Rue d’Anjou im Faubourg Saint-Honoré, einer kleinen, mageren und buckligen Frau, die ein hübsches Mädchen von ungefähr 13 Jahren an der Hand führte, das sehr unanständig, wenn auch geschmackvoll, gekleidet war. Herr des Glands konnte sich nicht enthalten, ihr mit den Augen zu folgen. Da bemerkte er, daß die Alte, erfreut über sein Interesse, ihm verstohlen zulächelte, und der brave Mann trat näher.

»Welch reizendes Geschöpfchen!« bemerkte er zu der Buckligen.

»Nicht wahr, mein Herr, sie ist reizend!«

Das Kind gab ihm ohne jede Schüchternheit die Hand.

»Ist das Ihre Tochter, gute Frau?«

»Freilich!«

»So? Und was denken sie aus ihr zu machen?«

»Sie soll einen braven Mann glücklich machen.«

»Sie ist noch sehr jung!«

»Und die Unschuld selbst …!«

Herr des Glands war innerlich empört, doch unterdrückte er seine Gefühle, denn er wollte die Unglückliche retten.

»Haben sie schon jemand in Aussicht?« fragte er weiter.

»Ja. Wir kommen gerade von einem Herrn in der Chaussee d’Autin, aber der ist leider krank.«

»Welches Schicksal will er denn dem Kinde bereiten?«

»Oh! … sein Glück machen.«

»Hat er schon bestimmte Versprechungen gemacht?«

»Nein, gerade heute wollten wir die Sache abschließen. Er hat Psyche, so heißt sie, erst ein einziges Mal gesehen, gesprochen noch gar nicht, weil gerade einer seiner Freunde dazu kam, dem er die Sache verheimlichen will, aber er ist entzückt von ihr.«

»Wie alt ist er?«

»Oh! Er ist alt, sehr alt.«

»Wenn Fräulein Psyche mich ihm vorziehen will, so werde ich die gleichen Verpflichtungen ihr gegenüber eingehen, wie dieser greise Wüstling.«

»Von Herzen gern,« mischte sich da die Kleine ein, »denn der Alte ist mir zuwider.«

»Sie haben es eilig, kleines Fräulein,« fuhr die Alte auf.

»Also lassen sie mal Ihre Vorschläge hören,« forderte des Glands sie auf.

»Nur bei mir zu Hause,« entgegnete die Alte.

Sie begaben sich sofort in ihre Wohnung, die ein sehr ärmliches Aussehen hatte. Des Glands sah dort alte Kleider Psyches, die zwar verschlissen waren, aber einst sehr schön gewesen sein mußten und darauf deuteten, daß Psyche früher einem höheren Stande angehört haben mußte. Des Glands hatte nicht die Absicht, das Laster zu belohnen. Er wollte vor allem die Wahrheit entdecken und war entschlossen, der Alten eine kleine Pension auszusetzen, wenn sie Psyches Mutter wäre, oder aber sie bestrafen zu lassen, wenn sie eine Kindesräuberin oder Kupplerin wäre. Aber es war nicht so leicht, sich Klarheit zu verschaffen. Er mußte erst geduldig die Alte anhören, wie sie all die schönen Sachen der Reihe nach anführte, die der alte Krösus ihr geben wollte.

»Ich kann das alles auch geben, Madame, aber ich will der guten Aufführung Psyches sicher sein, und deshalb muß sie bei mir wohnen.«

Dieser Vorschlag entlockte der Alten eine kleine Grimasse.

»Sie selber,« fuhr des Glands fort, »mögen nach Ihrem Belieben sie begleiten oder bleiben, wo Sie sind. In beiden Fällen setze ich Ihnen eine kleine, lebenslängliche Pension aus. Also entweder behalte ich Psyche unter meinen Augen oder ich verzichte.«

»Sie scheinen ja sehr eifersüchtig zu sein!« bemerkte die Kleine.

»Das nicht, mein Kind, aber ich will Dein Bestes!«

Die Alte war sehr unschlüssig, obwohl das Angebot einer Pension verlockend war. Herr des Glands hielt es für gut, ein wenig durch Angstmachen nachzuhelfen, und erwähnte daher unauffällig seine Bekanntschaft mit einflußreichen Leuten, Beamten und Ministern. Die großen Namen wirkten in der Tat auf die Alte. Als des Glands sie gehörig bearbeitet glaubte, gab er ihr zu verstehen, daß er entschlossen sei, von Psyche nicht mehr abzulassen, und sprach, zwar höflich, aber in einem so befehlenden Ton, daß der Alten nichts weiter übrig blieb, als sich deutlich auszusprechen und nachzugeben. Sie gestand, daß das Geschäft mit dem alten Herrn bereits abgeschlossen sei und daß sie eine Abschlagssumme erhalten habe. Diesen Morgen hätte sie Psyche ihm zum ersten Male zuführen wollen, habe ihn aber krank angetroffen und sei deshalb wieder mit ihr fortgegangen. Unterwegs hätten sie einen so gut aussehenden, freundlichen Herrn gesehen, und da habe sie Psyche vorgeschlagen, sich von ihm ansprechen zu lassen. Da er dem jungen Mädchen gefallen habe, so wäre es damit einverstanden gewesen. So ständen die Dinge. Herr des Glands sah wohl, daß sie Ausflüchte machen wollte, kümmerte sich aber nicht darum, sondern erklärte ihr kurz und bündig, er sei nur deshalb mit ihr gegangen, um Psyche vor dem Untergang zu retten. Dem jungen Mädchen streckte er die Hand entgegen und sagte zu ihr:

»Ich will Ihnen ein Schicksal in Ehren bereiten und Sie dem wahren Glück entgegenführen. Eine Frau, die Sie verderben will, kann nicht Ihre Mutter sein. Betrachten sie mich als Ihren Vater, der sie wie eine Tochter lieben wird, wenn sie sich dessen würdig zeigen.«

Die Alte wollte auffahren, aber Herr des Glands drohte ihr mit der Polizei und versicherte ihr, daß ihr nach ihren eignen, eben gemachten Aussagen das Gefängnis sicher sei, er fügte hinzu, daß er vielleicht in der Tat am besten täte, sich gleich an die Polizei zu wenden, um zu erfahren, inwieweit sie schon Mißbrauch mit ihrem Kinde getrieben habe. Diese Drohungen versetzten sie so in Schrecken, daß sie ihm zu Füßen stürzte und ihn anflehte, sie nicht ins Unglück zu stürzen. »Gut denn, aber unter der Bedingung, daß ich Psyche sofort mit mir nehme!« entschied Herr des Glands. Die Alte erhob lebhaften Einspruch gerade gegen diesen Punkt, aber der brave Mann blieb fest und wirkte so geschickt durch Furcht auf das Weib und durch freundliche Überredung auf das Mädchen ein, daß er seinen Willen durchsetzte. Er ließ einen Wagen holen. Psyche machte noch einige Schwierigkeiten, einzusteigen, da er ihr doch immerhin unbekannt war, aber schließlich gab sie seiner Entschlossenheit nach.

Als der Wagen sich in Bewegung gesetzt hatte, hörten sie Geschrei hinter sich. Es war die Alte, die sich auf einmal überlegt hatte, ein Schurke könnte sie angeführt haben, der Psyche Gott weiß wohin brächte, und die nun schrie, man entführe ihre Tochter. Der Kutscher wollte anhalten, aber des Glands befahl ihm, weiterzufahren und wußte sich Gehorsam zu verschaffen. Man stieg vor dem Hause des Ehrenmannes aus, und dieser sagte zum Kutscher:

»Mein Freund, dies ist meine Wohnung. Wenn sie von den Behörden befragt werden sollten, dann geben Sie meine Adresse an. Von der Frau, die hinter uns herschrie, kann Ihnen das Fräulein sagen, ob sie ihre Mutter ist.«

Psyche schwieg. Sie zitterte vor Erregung, sich in den Händen dieses entschlossenen und offenbar hochangesehenen Mannes zu sehen.

Herr des Glands wies Psyche eine sehr hübsche Wohnung an und stellte ihr zwei Zofen zur Verfügung, denen er befahl, stets um sie zu sein, ohne sie nur eine Sekunde zu verlassen. Er selbst nahm sich vor, sie nicht außer Augen zu lassen und ihr vor allem eine geeignete Erzieherin zu verschaffen, die ihr Vertrauen zu gewinnen und ihren Charakter zu bilden vermöchte. Er wandte sich zu diesem Behuf an eine sehr ehrenwerte Dame seiner Bekanntschaft, und durch sie an eine Witwe aus guten Kreisen, die durch Unglück in die Lage geraten war, von anderen abhängig sein zu müssen, und die in einem Kloster von der Pension lebte, die einige brave Männer ihr ausgesetzt hatten. Herr des Glands suchte sie auf und war so glücklich, sie für sich zu gewinnen. Frau Saint-Didier wollte am nächsten Tage eintreten, aber des Glands hatte seine Gründe, sie zu ersuchen, noch am selben Abend ihre Schülerin zu sehen und die Nacht bei dieser zuzubringen. So geschah es.

Psyche hatte in seiner Abwesenheit zwei Fluchtversuche unternommen, aber die Zofen hatten es bemerkt und waren so glücklich gewesen, sie zu vereiteln. Des Glands und Frau Saint-Didier fanden sie in Tränen schwimmend. Sie trösteten sie, und besonders die neue Gouvernante bewies ihr eine so zärtliche Freundschaft, daß Herr des Glands darüber hocherfreut war. Es kostete ihm daher auch keine Mühe, sie zu veranlassen, bei ihrem Zögling zu bleiben, sie selber bat darum.

Nun war Herr des Glands außer Sorge und konnte sich ganz der köstlichen Wonne hingeben, in seinem Hause eine junge und rührende Schönheit heranwachsen zu sehen, deren Retter er war.

Am anderen Morgen benutzte Frau Saint-Didier einen Augenblick, wo ihre Schülerin, ohne spielen zu können, auf dem Klavier klimperte, um Herrn des Glands nach den näheren Umständen zu fragen, unter denen er Psyche aufgefunden hätte. Als er die alten Kleider Psyches erwähnte, äußerte die Gouvernante den lebhaftesten Wunsch, diese zu sehen. Er versprach ihr, dafür Sorge zu tragen und bat sie, vor allem aus Psyche herauszubringen, ob die Elende ihre Mutter sei. »Sobald ich drüber im klaren bin,« fügte er hinzu, »werde ich weitere Anordnungen treffen.«

»Ich glaube, Ihnen versichern zu können,« äußerte darauf Frau Saint-Didier, »daß sie es nicht ist.«

»Hat das Mädchen es Ihnen bereits eingestanden?«

»Nein, ich wollte sie auch noch nicht danach fragen. Heute werde ich es tun, und seien sie sicher, daß ich die Wahrheit gesagt habe.«

Als die Erzieherin mit Psyche allein war, fragte sie sie:

»Mein liebes Kind, kennen sie Ihre Eltern nicht? Denn es ist doch nicht möglich, daß diese Elende, die Sie verderben wollte, Ihre Mutter ist!«

»Doch, doch, sie ist es, und ich möchte sie gern wiedersehen.«

»Sie ist es? Ich glaube eher, daß sie Sie gefunden oder vielleicht sogar geraubt hat.« Psyche seufzte und erwiderte:

»Nein, sie ist meine Mutter. Ich muß es am besten wissen!«

»Allerdings sollten sie es wissen.«

»Und sie war so gut zu mir!«

»Oh! Ich werde noch besser zu Ihnen sein, mein liebes Kind!«

»Hören sie, ich habe, wenn ich offen sein soll, Ihre Manieren nicht so gern, Ihr ewiges Geseufze gefällt mir nicht.«

»Dann werde ich es lassen.«

»Frau Blondelat war dagegen stets heiter und lustig. Nie sagte sie, wie Sie beständig zu mir: ›Du mußt dies, du mußt das‹. Bei ihr galt nur mein Wille.«

»Mein liebes Kind!« …

»Da fangen sie schon wieder an!«

»Ich möchte, daß Sie mich lieb gewinnen, Psyche!«

»Hören sie, ich weiß recht gut, was Ihre Schmeicheleien und Ihre Freundlichkeit bezwecken: nur daß ich zu Herrn des Glands so sein soll, wie er gern möchte: ich werde es mir gesagt sein lassen und verspreche es Ihnen, also strengen sie sich nicht so an und lassen Sie Ihre Verstellung beiseite.«

»Sie sind klug, meine Tochter, das sehe ich. Ich fühle, daß ich vorläufig mit Ihnen noch nicht über die einfachsten Dinge sprechen kann, die ich Ihnen doch naturgemäß sagen müßte. Sie wollen mich heiter sehen: gut, ich werde es sein und Herrn des Glands bitten, Ihnen Zerstreuungen zu verschaffen.«

»So ist’s recht! Ich habe ihn übrigens gern, doch auch ein wenig Furcht vor ihm, aber sie brauchen ihm das nicht wiederzusagen.«

»Wie Sie wünschen. Wollen wir irgend etwas spielen?«

»Gern. Wir wollen die Karten legen und sehen, ob ich heute jemandem ins Auge gefallen bin? Mama Blondelat belustigte mich damit, es war manchmal zum Totlachen. Sie erzählte so komische Geschichten.«

»Ich möchte wohl, aber ich verstehe davon nichts.«

»Oh! Ich kenne mich darin aus.«

»Nun erzählen sie mir mal ganz vertraulich, liebe Psyche, was Ihnen eigentlich passiert ist, alles, damit wir gegenseitig Vertrauen zueinander fassen. Ich werde Ihnen auch eines Tages meine Geschichte erzählen.«

»Später, später, wenn ich Sie näher kenne.«

»Sie sind sehr vorsichtig, aber sie haben recht, also warten wir damit noch, wenn sie es so wünschen.«

»Also die Karten … Gut!«

»Da Sie sich darauf verstehen, liebe Psyche, so sehen Sie mal nach, wie wir in einiger Zeit miteinander stehen werden.«

»Gern … Ich bin Pique Dame, da ist sie … Der Treffbube ist die Liebe … Carreau … Großer Gott, das bedeutet Blut …, aber es ist nicht schlimm! … Cœurdame … die Freundschaft.«

»Ah! die habe ich mir gewählt,« unterbrach sie Frau Saint-Didier.

»Nun gut, wir werden also, wenn sich nichts dazwischen stellt, Freundinnen sein … Treffkönig … Ein Liebhaber wird sich dagegenstellen … Pique … mit dem ich mich zanke … Cœur … Sie werden uns wieder aussöhnen … Treffdame … eine Nebenbuhlerin … Carreauzwei… Ich werde ihr oder sie mir die Augen auskratzen … Piquebube … Ich werde sie ihr auskratzen, denn der Bube ist mein Verteidiger … Piquekönig … Das ist offenbar Herr des Glands … Cœurbube … Ah! Er wird mich lieben, wenn meine Farbe darauffolgt … Piquezehn … da ist sie! … Cœurkönig … das ist Ihr Mann … Wo weilt er?… Man sollte meinen, er komme aus fernem Lande … Guter Gott, was haben sie denn, meine Beste? Sie weinen?«

»Mein Mann ist in der Tat in Amerika.«

»Sehen sie, wie richtig die Karten sagen? … Cœuraß … Er liebt Sie noch immer … Piqueaß … Er wird mich nicht hassen, da meine Farbe auf ihn folgt … Carreaukönig … Ah! Das bedeutet Unglück! Er trachtet danach, Sie oder mich zu töten … Sehen wir wen? Piquesieben … Mich! … Weiter, Cœurzehn … und Sie verhindern ihn daran, denn da ist Ihre Farbe, besonders wenn er Liebe empfindet … Wahrhaftig, denn da ist Treffneun! …

Das Eintreten des Herrn des Glands unterbrach dieses leichtfertige Spiel mit der Zukunft. Er nahm Frau Saint-Didier beiseite, während Psyche fortfuhr, Karten zu legen. Er zeigte der Gouvernante ein altes Kleid ihres Zöglings nebst verschiedenen Nippsachen, die er die Blondelat herauszugeben gezwungen hatte, und erzählte dann, was sich zwischen ihm und dem Weibe zugetragen hatte.

»Als ich zu ihr kam, begann sie zu heulen und jammern, obwohl ihre Augen ganz trocken waren. Ich befahl ihr unter Drohungen, ruhig zu sein. Großen Eindruck machte es auf sie, als ich ihr geradezu heraussagte, Psyche sei nicht ihre Tochter. Trotzdem blieb sie aber dabei und schwor, es beweisen zu können. Dann fragte ich sie:

›Sind das da frühere Kleider Psyches?‹

›Ja gewiß,‹ erwiderte sie.

›Vertrauen sie sie mir an, ich werde Ihnen diese Gefälligkeit hoch anrechnen.‹

›Was wollen sie damit?‹

›Sie können mir eines Tages nützlich werden.‹

›Herr, geben sie mir meine Tochter wieder.‹

›Sie erinnern sich doch, wozu Sie sie bestimmt hatten?‹

›Und Sie haben sich ihrer bemächtigt, damit Sie mir Ihre Versprechungen nicht zu halten brauchen.‹

›Sie sind im Irrtum, denn für die Mutter Psyches werde ich stets Sorge tragen, dessen können sie gewiß sein.‹

Sie schüttelte den Kopf und fing an zu weinen. Das rührte mich, und ich versprach ihr, ihr eine anständige Existenz zu sichern. Darauf gab sie mir die Sachen. Ich bat sie, 25 Louis anzunehmen, halb überzeugt, daß sie doch die Mutter Psyches ist.«

Des Glands zog sich darauf sofort wieder zurück, und Frau Saint-Didier machte sich eifrig daran, die Sachen zu untersuchen. Da war ein Kinderkleid aus Wollenstoff mit Gaze garniert, alles zerlumpt, eine kleine Schildpattschachtel, aus welcher zwei goldene Reifen herausgerissen waren, auf dem Deckel der Schachtel war ein Porträt, ein altes Etui, das mal mit Gold beschlagen gewesen war, ein kleines goldenes Herz von geringem Wert, ein altes Nähkissen, offenbar von einer Nonne gearbeitet, eine Brillantnadel, woraus der echte Stein entfernt und durch einen falschen ersetzt worden war, und noch verschiedenes anderes ohne Belang. Frau Saint-Didier untersuchte diese ärmlichen Gegenstände mit immer größer werdender Rührung und reichliche Tränen vergießend. Psyche gesellte sich zu ihr und rief beim Anblick der Sachen aus:

»Ah! Da sind ja meine Sachen! Liebste, Beste, ist denn Mama hier?«

»Ich bin da, liebes Kind: Ihr Beschützer hat die Blondelat aufgesucht und sie hat ihm alles mitgegeben. Sie war ziemlich vernünftig, und da hat Herr des Glands ihr 25 Louis geschenkt.«

»Gut! Das ist doch immerhin ein Anfang,« bemerkte darauf die Kleine lachend. »Die Karten hatten mir das übrigens schon gesagt, während Sie sich zusammen unterhielten.«

»Wessen Porträt ist dies, liebes Kind?«

»Ah! Mama hat auch meine Schachtel hergegeben? Und sie küßte das Bild, »Ich weiß es nicht, aber man hat mir stets gesagt, ich solle das Bild küssen, es sei meine Mutter.«

Frau Saint-Didier fühlte ihr Herz sich zusammenschnüren. Das Bild war halb verwischt, aber man konnte bei einiger Aufmerksamkeit die Züge doch noch unterscheiden.

»Ist es das Bild Ihrer Mutter Blondelat?«

»Nein« … Dieses Nein war ihr herausgefahren wie der Blitz. Nun errötete sie darüber, sich verschnappt zu haben, faßte sich und fügte hinzu: »Es ist das Bild meiner guten Mama.«

Frau Saint-Didier vermied es, weiter in sie zu dringen und sie mit Fragen zu beunruhigen. Sie hielt es für besser, damit zu warten, bis sie Psyches Freundschaft gewonnen hätte.

Dieses vernünftige Verhalten hatte Erfolg, aber es gehörten drei Monate dazu. Herr des Glands, dem die Gouvernante über alle ihre Schritte Bericht erstatten mußte, war voll Bewunderung für die Klugheit, mit der sie vorging, um sich die Liebe ihrer Schülerin zu erwerben. Endlich wurde Psyche von dem freundlichen Wesen ihrer Erzieherin gerührt und, besiegt von dem Luxus, mit dem ihr Beschützer sie umgab, den Vergnügungen, die er ihr verschaffte, den schönen Kleidern, die er ihr schenkte, und der zärtlichen Freundschaft, die er ihr bezeigte, fing sie allmählich an, sich einzugewöhnen. Man konnte es daran bemerken, daß sie zu suchen begann, was den anderen wohl Freude bereiten könnte. Dieser erste Schritt zum Guten war die Folge der unbegrenzten Freundlichkeit, die man ihr entgegenbrachte, und ihres Nachdenkens darüber. Man hatte sie sonst noch gar nicht unterrichtet, weil sie sich gleich anfangs gegen jede Belohnung empört hatte, so sehr war ihre junge Seele schon dem Laster verfallen gewesen. Hätte man gleich Zwang anwenden wollen, so wäre alles verloren gewesen, denn dann würde sie gelernt haben, die Ehrbarkeit zu hassen. So machte man sie ihr im Gegenteil liebenswert und erzielte damit den besten Erfolg.

Sobald es nun klar war, daß Psyche wirklich einige Anhänglichkeit für die Erzieherin und viel Dankbarkeit für Herrn des Glands im Herzen trug, fingen diese unmerklich wieder an, ihr Fragen zu stellen und einiges Interesse für ihre Vergangenheit zu bezeigen, ohne aber dringlicher zu werden.

Nach Verlauf von acht Tagen nahm Psyche plötzlich nach Tisch Herrn des Glands bei der Hand, führte ihn zu Frau Saint-Didier und sagte dann zu beiden: »Ich will nun nicht länger ein Geheimnis vor Ihnen haben und Ihnen alles erzählen. Mama Blondelat ist nicht meine Mutter … Ich will alles sagen … Ich habe andere Eltern, die, wie ich glaube, der guten Gesellschaft angehörten, aber durch Schicksalsschläge gezwungen wurden, ins Ausland zu fliehen. Mich ließ man in den Händen einer Dienerin meiner Mutter zurück, der man, wie ich habe sagen hören, auch alles übergeben hatte, was man vom Vermögen meiner Eltern retten konnte. Diese Frau hat mich bis zu meinem elften Lebensjahre behütet. Sie war es auch, die mir das Kinderkleidchen angefertigt hat. Sie starb vor zwei Jahren, und ich stand verlassen da, als Mama Blondelat, die gerade ihren Mann verloren hatte, mich sah, sich meiner aus Mitleid annahm und mir eine Freundschaft bewies, die ich ebensowenig jemals vergessen werde, wie die Ihrige. Sie sagte mir immer, sie wolle mich glücklich machen, viel glücklicher, als die verheirateten Frauen daran wären, die meistens in ihrer Ehe sehr zu leiden hätten, und sie wolle dafür sorgen, daß ich von einem reichen Manne ausgehalten werde. Um mir zu beweisen, daß sie recht habe, führte sie alle verheirateten Leute unserer Bekanntschaft an und besuchte mit mir das Kolosseum, sowie andere Vergnügungsorte wo sie mir die ausgehaltenen Damen zeigte, die alle reich geschmückt und zufrieden waren und nur dem Vergnügen lebten. Ich sah, daß sie recht hatte und folgte ihr daher in allem, was sie von mir verlangte, war es doch zu meinem Guten. Ich nahm die Haltung, den Schritt, den Blick und das Lächeln an, wie sie’s mir vorschrieb, um den Männern zu gefallen. Denn sie gab mir wohl zu verstehen, daß wir dazu geschaffen seien, den reichen Männern zu gefallen, denen wir durch unser Äußeres in die Augen fallen müßten, damit sie uns liebten und unterhielten. So kam es, daß ich auch Ihnen gefiel, mein guter Freund des Glands, und ich hoffe, daß Sie mich nun als Ihre Mätresse behalten werden. Denn ich selber fühle, daß ich Sie herzlich lieb haben werde, einmal weil Sie noch besser zu mir sind, als Mama Blondelat mich es jemals hatte hoffen lassen, und dann, weil ich Sie sehr liebenswert finde.«

»Was für schreckliche Dinge hat denn die Blondelat angeführt, die man von den Männern zu erdulden hätte?«

»Es würde zu weit führen,« erwiderte die Kleine lächelnd, »wenn ich alle Einzelheiten erzählen wollte, übrigens wissen sie das ebenso gut wie sie, aber schreckliche Dinge sind’s, die sie mir noch dazu empfahl, geduldig zu ertragen und sogar mit Liebkosungen zu erwidern. Daher kann ich auch gar nicht sagen, wie sehr ich meinen guten Freund des Glands liebe, der mir nichts Böses tut und mich dabei doch so lieb hat.«

»Hat die Blondelat Sie nie mit Männern zusammengebracht?«

Psyche lächelte wiederum und antwortete: »Ja, aber sie haben ihr alle gesagt, indem sie ihr Geld in die Hand drückten: ›Gebt gut acht auf den kleinen Engel, in einiger Zeit werden wir sehen.‹ Aber wenn es Ihnen Freude macht, zu wissen, daß keiner von ihnen wiedergekommen ist, so müssen sie den Zufall segnen, der sie gerade zur rechten Zeit in die Rue d’Anjou geführt hatte, denn an diesem Tage wollte mich Mama Blondelat, nachdem wir den alten Herrn, zu dem sie mich geführt hatte, erkrankt angetroffen hatten, einem anderen vorstellen, da begegneten wir Ihnen. Mama Blondelat hatte mir auch ein Fräulein Blondelat gezeigt, die Tochter ihres Mannes, der sie ebenfalls einen Herrn verschafft hatte, welcher sie unterhielt. Sie sagte immer, wie glücklich diese sei, aber ich glaubte es nicht, denn sie sah immer so traurig aus, und einmal hörte ich sie sagen: ›Ach! wenn Papa wüßte, was aus mir geworden ist!‹ … Ihr Vater war ein braver Mann, der viel Geist besaß und ein dickes Buch verfaßt hat. Er hatte Mama Blondelat geheiratet, die bei ihm Dienstmädchen war, und starb bald darauf. Sie brachte seinen Sohn ins Armenhaus, aber die Tochter, die sehr hübsch war, behielt sie bei sich, führte sie dann einem alten Herrn zu, und erhielt dafür eine Pension ausgesetzt. Oh! wie häßlich war der alte Herr, und ganz schwarz, so schwarz, daß man Furcht vor ihm hatte! So, nun wissen sie alles.«

»Sie ist noch unschuldig,« äußerte Herr des Glands zu Frau Saint-Didier, die ihre Tränen nicht zurückzuhalten vermochte und Psyche zweimal küßte, indem sie zu ihr sagte:

»Oh! mein liebes, liebes Kind, welchem Schicksal sind Sie entronnen! Aus Unerfahrenheit hätten sie sich, wie so manche andere, dem Laster ergeben und wären aus Gewohnheit darin geblieben. Die Elende! Wie schwer hat sie sich versündigt! Bald werden sie das begreifen, denn ich werde Sie aufklären, meine teuere Freundin, Ihnen die nötigen Begriffe von Sittenreinheit, Ehrbarkeit, Anstand und Scham beibringen. Diese Eigenschaften sind unserem Geschlecht angeboren, sie leben in uns fort, doch hat man sie bei Ihnen nicht aufkommen lassen. Wie werden sie staunen, wenn eines Tages die Binde von Ihren Augen fällt! Psyche, wie teuer bist du meinem Herzen! Oh! Wenn du für mich nur den hundertsten Teil von der Liebe hättest, die ich für dich empfinde, so wäre ich glücklich mein Lebelang! … Ich werde alles daran setzen, meine Tochter, dein Glück zu begründen, aber ein festes, dauerhaftes, auf Tugend beruhendes. Herr des Glands wird mir die Mittel dazu liefern. Wie dankbar wirst du ihm eines Tages sein, wenn du die ganze Größe seines Edelmutes erkannt hast! Er hat dir mehr als das Leben gerettet: du warst im Rachen des Wolfes, der dich verschlingen wollte, er hat dich daraus errettet!«

»Ich bin froh,« bemerkte Psyche zu ihrem Wohltäter, »Ihnen soviel zu verdanken, und wenn Ihnen meine Freundschaft etwas gilt, so betrachten sie mich als Ihre Freundin.«

»Ja, liebe Psyche, Ihre Freundschaft ist mir kostbar. Glauben sie dem, was Ihnen Ihre Gouvernante gesagt hat, oder vielmehr Ihre Mutter, denn Mutter wird sie Ihnen sein, solange sie lebt. Ihre andere Mutter, diese Elende, werden sie niemals genug verabscheuen können.«

»Verabscheuen? Das wird mir kaum möglich sein!«

»Welch liebenswürdige Unschuld!« sagte lächelnd der brave des Glands zur Gouvernante … »Nun, das war’s übrigens, was wir zu wissen wünschten. Also Frau Saint-Didier, ich vertraue Ihnen meine Psyche an, bilden Sie sie heran und machen Sie sie ihrer selbst würdig, dann wird sie auch Ihrer und meiner würdig sein.«

Psyche verstand kein Wort von dem, was man ihr sagte, da sie sich aber mehr und mehr an ihre neuen Beschützer anzuschließen begann, so nahm sie sich vor, ihren Ratschlägen zu folgen und alles zu tun, um ihre Zufriedenheit zu erwerben: das war die Folge der moralischen Freiheit, die ihre Gouvernante ihr gelassen hatte, denn Freiheit erzeugt Gutheit. Nichts ist wahrer, als jenes Wort Homers: Wen die Götter zum Sklaven machen wollen, dem nehmen sie die Hälfte seiner Tugenden. Damit soll nicht gesagt sein, daß man Kinder niemals zwingen dürfte, ohne Zwang würde die Mehrzahl von ihnen nichts lernen und eines Tages der Gesellschaft zur Last fallen, aber die Vernunft sollte sie zwingen, mehr als der Mensch. Statt dessen aber schwingen unsere verdammten Lehrer nur den Stock … Doch genug darüber. Psyche befand sich übrigens in einer weit gefährlicheren Lage als die unvernünftigen Kinder. Kinder wissen nicht, was gut, was schlecht ist: Psyche aber kannte nur das Gute nicht, während die niederträchtigste Gemeinheit in ihren unschuldigen Augen vollkommen berechtigt erschien. Nur Vernunft und gesunder Menschenverstand konnten die junge Seele retten und sie wieder auf den rechten Weg bringen, indem sie ihr verschrobenes Urteil wieder gerade richteten.

Psyche hatte nichts weiter gelernt, als Lesen. Frau Saint-Didier wollte dies ausnutzen, indem sie ihr Bücher zu lesen gab, die ihrer Auffassungsweise und ihrem Geschmack angepaßt waren. Sie besprach sich darüber mit Herrn des Glands, und dieser meinte:

»Ich sehe in diesem Augenblick nichts Besseres für sie, als den Roman: Die Frau als Mädchen, Gattin und Mutter. Der erste Teil desselben enthält eine Schilderung, für die sie Verständnis haben wird. Es ist darin von einem Mädchen die Rede, das wie sie ungefähr durch die gleichen falschen Lehren verdorben worden ist. Das wird ihr die Augen öffnen und ihr begreiflich machen, daß sie auf falschem Wege ist. Das Buch wird sie zudem durch die rasch aufeinanderfolgenden Episoden unterhalten. Auch von Moral ist darin die Rede, aber nur so nebenbei, und in Aussprüchen, die dem Munde eines Wüstlings unwillkürlich entschlüpfen, was noch überzeugender wirkt, kurz, ich halte diesen ersten Teil für sehr unterrichtend für ein junges Mädchen, wie Psyche, obwohl er allerdings für ein unschuldiges Wesen etwas zu frei ist. Der zweite Teil ist anderer Art, aber auch im Geschmack des Verfassers gehalten, der die Moral so ganz zufällig und wie gegen seinen Willen behandelt. Er wird Psyche vollends über ihre Lage aufklären und ihre Ansichten berichtigen und reinigen. Der dritte Teil enthält die Belohnung der Tugend. Das Buch paßt vorzüglich für Mädchen in Psyches Lage, aber auch nur für solche. Und so ein Buch brauchen wir gerade, um sie ehrbar zu machen. Der Verfasser desselben ist offenbar ein Mann, der mehr in schlechter, als in guter Gesellschaft gelebt hat, der also gerade deswegen bei Personen in der Lage Psyches volles Verständnis finden wird. Seine Werke können diesen von unendlichem Nutzen sein, unschuldigen Seelen dagegen, die niemals das schlechte gekannt haben, verderblich werden … Doch genug darüber, Madame. Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß ich diese Lektüre nicht unüberlegt anrate. Ein zweites Buch, das sie danach lesen könnte, wäre ›Der verführte Landmann‹. Die Schilderungen dieses Werkes werden auf Psyche Eindruck machen und sie veranlassen, Ihnen Fragen zu stellen, auf die Sie die nötige Antwort erteilen werden. Ich weiß noch nicht, ob es weiter notwendig sein wird, ihr erst noch andere Werke desselben Verfassers zum Lesen zu geben, bevor wir zu reineren Dingen übergehen. Er hat Bücher geschrieben, die eine wahre Schule der Tugend sind, so sein Neuer Abälard und Das Leben meines Vaters. Es wäre nicht schlecht, wenn Psyche an der Hand desselben Führers ihre sittliche Reinigung vollziehen würde. Wenn sie einen bestimmten höheren Bildungsgrad erreicht und Kenntnis von Gut und Böse erhalten haben wird, dann können sie ihr Die Neue Heloise in die Hand geben. Auch dieses Werk ist für ein unschuldiges Mädchen noch voller Gefahren, wird aber Psyche nur nützlich werden. Danach können sie den Emile 3

lesen lassen, wonach Sie dann ganz natürlich zu den moralischen Schriften kommen werden. Aber hüten sie sich wohl, mit letzteren anzufangen! Sie würden Ihrer Schülerin dadurch die Lektüre nur verhaßt machen.«

Frau Saint-Didier versprach, diesen Vorschriften in allem zu folgen und gab noch am gleichen Tage ihrem Zögling das erste Werk zu lesen.

Das junge Mädchen verschlang das Buch. Sie las auf ihrem Zimmer, die Erzieherin befand sich im Nebenzimmer, und hörte sie alle Augenblicke laut auslachen. Bisweilen kam sie auch zu ihr gelaufen, um ihr die Stellen zu zeigen, die sie am meisten belustigten. Sie lachte gerade hell auf, als Herr des Glands eintrat. Die Erzieherin sagte zu ihm:

»Der Inhalt des Buches muß sehr scherzhaft sein!«

»Hm, aber eigentlich nur, weil der Verfasser ein Original ist. Seine Romane sind aber wenigstens zu etwas gut, nicht wie so viele andere, die zu nichts taugen! Beobachten sie die Wirkung, die dieser da auf Ihren Zögling haben wird, und dann werden sie mir recht geben. Er interessiert sie, weil sie darin unter Bekannten ist, aber zugleich wird er ihr einen Widerwillen gegen die Blondelat einflößen und damit gegen das Laster … Da lacht sie wieder. Sie müssen herausbekommen, welche Stelle ihr so viel Spaß macht.«

Sogleich ging die Gouvernante zu ihr und fragte sie:

»Warum lachst du, Kind?«

»Weil da einem widerlichen Finanzmann eine famose Falle gestellt wird … Haha! Wenn Mama Blondelat das Buch gekannt hätte!«

»Dann würde sie darüber errötet sein, denn sie würde sich selbst und ihr infames Betragen darin wiedererkannt haben.«

»Wahrhaftig, darin haben sie recht! Sie hat mir fast dasselbe gesagt, was ich in einem anderen Kapitel gelesen habe.«

»Fahre nur fort, Kind, und du wirst bald sehen, wie Solche Weiber beurteilt werden müssen. Sei auch versichert, der Verfasser hätte die Geschichte dieser Elenden nicht niedergeschrieben, wenn sie in der Folge nicht den verdienten Lohn finden würde! Nur Tugend allein führt zum Glück.«

»Schön, ich will weiter lesen, das Buch interessiert mich, bitte, lassen sie mich allein.«

Frau Saint-Didier gab Herrn des Glands die Stelle an, über die Psyche so herzlich gelacht hatte, und er erwiderte:

»Sie lachte mehr aus jugendlicher Unerfahrenheit, als aus Verdorbenheit. Sie ist übrigens schon gegen den Finanzier eingenommen. Ich will ihr das nicht als Verdienst anrechnen, da es nur zu natürlich ist, aber sie fängt doch schon an, richtig zu empfinden. Achten Sie auf alle ihre Eindrücke bei der Lektüre. Da sehen Sie, jetzt ist sie sehr ernst … Sie muß beim folgenden Kapitel, Der Geliebte, sein. Das wird ihr zu denken geben, und sie wird mich für einen zweiten de Combleval zu halten geneigt sein. Im folgenden Kapitel, wo dieser der schönen Felizitas enthüllt, welch infames Weib die Verführerin ist, wird sie noch mehr aufgeklärt werden. Ich will mir doch das Vergnügen machen, in ihren Zügen die Erregungen ihrer Seele zu lesen, wenn sie an diese Stelle kommt …«

Als Psyche an dieses Kapitel gekommen war, las sie mit noch größerer Aufmerksamkeit. An einer bestimmten Stelle hörte sie auf, zu lesen, ließ ihre Blicke umherschweifen und sagte dann leise vor sich hin:

»Man läßt mich auch hier lesen, aber keine Bücher, die mich verderben sollen, dieses da klärt mich auf.«

Sie fuhr fort zu lesen. Aber kaum war sie zwei Seiten weiter, als sie aufsprang, mit dem Buch in der Hand zu ihrer Erzieherin eilte und ausrief:

»Ah! meine liebste Freundin, hat Herr des Glands denn dieses Buch eigens für mich schreiben lassen? Sagen Sie es mir, bitte, da lese ich gerade etwas, was mir Mama Blondelat stets zu sagen pflegte.«

Dann las sie mit Eifer weiter, bis sie an das Kapitel Moral kam. Die Tugendlehren, von denen es wimmelt, setzen in Erstaunen, denn man möchte kaum glauben, daß sie aus der Feder desselben Verfassers stammen, der in so manchen seiner Werke die Tugend in Freudenmädchen verkörpert, wenn man nicht seinen Stil und seine Schreibweise kennen würde. Psyche unterbrach oft die Lektüre, um nachzudenken. Als sie das Kapitel beendet hatte, kam sie zu ihrer Erzieherin gelaufen und sagte:

»Das ist ein ausgezeichnetes Buch, soweit ich es verstehe, vielen Dank dafür, daß Sie es mir zu lesen gegeben haben! Ich bin sehr gespannt darauf, was aus Felizitas geworden ist. Lassen sie mich morgen recht früh wecken, damit ich mehr Zeit zum Lesen habe.«

Ich will mich in weitere Einzelheiten, zu denen die Lektüre dieses Werkes Anlaß gab, nicht mehr einlassen, ich will nur noch anführen, daß, als sie beendet war, Psyche schon eine ganz andere zu sein schien. Sie fing an, zu begreifen, was für sonderbare Ansichten ihr bisher beigebracht worden waren, wie falsche Grundsätze die Blondelat gehabt hatte, mit einem Wort, sie verstand jetzt, daß es eine Tugend und viele Laster gäbe.

Die Lektüre des Verführten Landmanns klärte sie vollends auf. Psyche fand in Zéphire ein Mädchen, das in gleicher Lage war, wie sie, da sie ebenfalls über dieselbe aufgeklärt wird und dann Abscheu davor empfindet.

»Das bin ich,« sagte sie im Lesen, »großer Gott, wie gut ist doch Frau Saint-Didier und wie edel und nachsichtig Herr des Glands! Wie soll ich soviel Güte jemals lohnen?«

Später sind Mucker, Böswillige und Schafsköpfe über dieses Werk hergefallen, der Verfasser aber, der seiner Sache sicher war, ließ sich durch ihr Gebrüll nicht anfechten und erwiderte darauf einfach: »Nicht die geistig Gesunden, sondern die Kranken bedürfen der Medizin.«

Was die geistige Erziehung Psyches vollendete und ihr Geschmack an der Tugend beibrachte, war die Heloise von Jean Jaques Rousseau. Dann folgten die Romane Richardsons. Nach der Lektüre von Clarissa empfand sie endlich Abscheu vor dem Scheusal, das im Begriff gewesen war, sie zu verderben, und dessen Händen sie nur durch das Zusammenwirken verschiedener Umstände entronnen war. Ihr schauderte.

Nun ging es alle Tage besser mit ihr; sie wurde bescheiden, schüchtern, und da sie im Grunde einen ausgezeichneten Charakter besaß, von Natur aus sich zur Tugend hingezogen fühlte und nur aus Unerfahrenheit auf Abwege geraten war, so kehrte sie unmerklich auf den Pfad der Tugend zurück und wurde ein reizendes Mädchen. Frau Saint-Didier verfolgte mit einem Gemisch von Furcht und Hoffnung die Fortschritte ihres Zöglings und verdoppelte ihre Zärtlichkeit für sie. Endlich kam der Augenblick, wo sie offen über alles mit ihr sprach, ihr die ganze Größe ihrer Pflichten vor Augen führte und so durch das lebendige Wort und durch moralisches Beispiel beendete, was die Bücher begonnen hatten. Ich will hier eines ihrer Gespräche bringen.

»Liebe Frau Saint-Didier, ich habe Ihnen heute Morgen viel zu sagen! Schenken sie mir wenigstens eine Stunde und schicken sie mich nicht, wie sonst, wenn ich Sie etwas frage, gleich wieder zu meinen Büchern, denn ich habe sie alle gelesen. Also sagen sie mir, sind die Frauen nicht für die Männer geschaffen?«

»Gewiß, mein Kind.«

»Ah! Gut! denn sonst hätte ich mich nicht mehr ausgekannt … Warum hat man in dem, was ich gelesen habe, stets das größte Lob für den Widerstand, den sie dem Willen der Männer entgegensetzen?«

»Ihrem Willen? Nicht doch, nur dem Mißbrauch, den sie mit ihrer Macht treiben.«

»Was ist Mißbrauch? Ich verstehe das nicht recht. Denn wenn wir für die Männer da sind, dann ist es doch sonderbar, Mißbrauch zu nennen, was sie von uns verlangen, und es uns als Verdienst anzurechnen, wenn wir widerstehen?«

»Dein Erstaunen kommt daher, daß du die Begriffe verwechselst: in allem Erlaubten und Anständigen müssen wir ihnen zu Willen sein, das ist unsere Verpflichtung.«

»Aber was ist erlaubt?«

»Ihnen entgegenzukommen, freundlich zu ihnen zu sein, ihnen gefällig zu sein und Kummer zu ersparen.«

»Sehr gut! Sie sprechen beinahe wie die Blondelat!«

»Ich denke doch nicht! Denn es gibt Dinge, mein liebes Kind, in denen man ihnen nicht zu willen sein darf … sei still, ich will deinen Fragen zuvorkommen: gerade in ihren zügellosen, leidenschaftlichen Liebeswünschen, von denen deine Verführerin dir gesprochen hat, darf man ihnen nicht zu willen sein.«

»Und warum denn nicht?«

»Ich will es dir sagen, und alles, was ich dir darüber auseinandersetzen werde, ist in der Natur begründet und beruht auf Sitte und Moral. Die Natur lehrt unser Geschlecht, die Liebkosungen der Männer und die Freiheiten, die sie sich gegen uns erlauben, zu fliehen. Der Grund dafür ist ein doppelter: erstens, weil zu leichtes Sichergeben die Männer abstößt, ihr Gefühl für uns abstumpft und ihnen Verachtung und Abscheu gegen uns einflößt, und zweitens, weil die Frau bei diesen Liebesspielen viel, der Mann nichts verliert. Sie verliert Schönheit und Gesundheit, denn Schwangerschaft und Kindernähren hinterlassen stets verheerende Spuren. Deshalb verlangt die Natur, daß die Frau soviel als möglich widersteht. Damit aber die Fortpflanzung des Menschengeschlechtes nicht darunter leidet, hat sie andrerseits auch wieder gewollt, daß dieser Widerstand den Mann reizt, das Weib zu begehren, und so fort. Daraus folgt, daß eine leicht zugängliche, oder, wie die Männer sagen, schwache Frau, die alles über sich ergehen läßt und sich ihnen an den Hals wirst, ihr Mißfallen erregt, und die Gesellschaft hat als feststehenden Grundsatz angenommen, diese Frauen als minderwertig und entartet zu bezeichnen, indem sie sie liederliche, schamlose und wollüstige Weibsbilder nennt und aus ihrer Mitte ausstößt. Die Männer haben aus dieser Auffassung ein Gesetz gemacht, und dieses Gesetz muß jede Frau beobachten, wenn sie Anspruch auf das, was man Ehre nennt, machen will.«

»Ich fange an, zu begreifen! Das alles habe ich wahrhaftig nicht geahnt!«

»Alle jungen Mädchen, die etwas auf ihre Ehre halten, suchen daher auch wie einen kostbaren Schatz die Blume ihrer Keuschheit zu bewahren, weil man sie nur einmal und dann für immer verliert.«

»Aber wozu sie bewahren, liebste Freundin?«

»Meine liebe Psyche: wie man den Frauen zum Gesetz gemacht hat, den Wünschen der Männer zu widerstehen, hat man uns auch andrerseits die Möglichkeit gegeben, unserem natürlichen Drange folgen zu können, indem man die Ehe einrichtete, einen heiligen Stand, den Gesetze und Religion autorisieren, und in dem die beiden Geschlechter das Recht haben, sich miteinander zu vermischen. Ich will dir beweisen, liebes Kind, daß nicht eine bloße Laune oder der Wille der Männer allein diesen Akt in der Ehe zu einem erlaubten, selbst geweihten gestempelt hat, der nach denselben Gesetzen und derselben Religion sonst ein Verbrechen darstellt. Indem die Gesetze eine Frau einem Manne geben und erstere dazu verpflichten, diesem ihre Schönheit und Freiheit zu opfern, folgen sie dem Gebote der Natur, verpflichten aber gleichzeitig den Mann, die Stütze der Frau zu sein und sie in allen Übeln, die die Natur für sie fürchtet, der Schwangerschaft, der Niederkunft, der Kindesernährung usw. zu behüten. Da es aber nicht genügen würde, wenn die Frau, um alle diese Vorteile im Laufe eines langen Lebens zu genießen, sich nur einfach hingebe, so verlangen Gesetze und Religion, um sie dem Manne noch teurer zu machen, daß sie sich rein hingibt, das heißt, ohne vorher mit anderen Männern zu tun gehabt zu haben, ohne anderen ihre Reize dargeboten zu haben, ohne anderen das Vergnügen bereitet zu haben, das eine Folge der Liebkosungen zwischen Ehegatten ist. Du wirst verstehen, daß dies eine Frau noch wertvoller machen muß, gerade wie wir im gewöhnlichen Leben auch das höher bewerten, was nicht Gemeingut aller ist. Aus eben denselben Grundsätzen folgt, daß die Frau nach ihrer Hochzeit dem Manne treu bleiben muß, damit er sie beständig liebe, damit er sicher sei, die Kinder seien von ihm, und damit er diese liebe, beschütze, ernähre und für sie wie für die Mutter mit Freude und Zufriedenheit, in Ruhe und Frieden arbeite.«

»Jetzt begreife ich alles, beste Frau Saint-Didier, und sehe, daß die Blondelat mich irre geführt hat! Was sie mir gesagt hat, ist im Grunde auch wahr, aber sie hat es falsch angewandt. Ich sehe ein, daß die Vernunft auf Ihrer Seite ist, daß jene nur ihren Vorteil im Auge, und daß sie die Absicht hatte, von meiner Unerfahrenheit Gebrauch zu machen, indem sie mich allen Männern auslieferte. Danach wäre ich nicht mehr würdig gewesen, die Gattin eines einzelnen zu werden.«

»Es ist nun nötig, Psyche, daß du alles vergessest, was die Blondelat dir gesagt hat, auch die Frau selbst vergessest, deren Bild deine Phantasie nur beschmutzt.«

»Die neuen Bücher, die ich nun noch bekomme, werde ich jetzt mit noch größerem Interesse lesen. Zudem finde ich, daß ich Herrn des Glands noch viel mehr verdanke, als ich dachte. Aber ich vermute, daß er mich zur Frau wünscht, weil er sich soviel Mühe mit mir gibt ?«

»Nur aus reiner Menschlichkeit handelt er so, liebes Kind. Es ist keine Rede davon, daß er dich jemals heiratet, denn er besitzt ein großes Vermögen, und du hast nichts!«

»Ach! Darin gleiche ich Pamela, und wenn er mich heiraten will, dann werde ich ihn lieben, wie sie B* liebte, nachdem sie seine Frau wurde.«

»Liebe Psyche, es klingt nicht schicklich, wenn ein junges Mädchen laut verlangt, einen Mann zu heiraten.«

»Wie, meinen Wohltäter? Doch, doch! Sie übertreiben wirklich die Zurückhaltung!«

»Nein, liebes Kind, ich übertreibe nicht.«

»Oh, was wäre dann überhaupt erlaubt? Sie sagten selber, die einzige gesetzmäßige Art und Weise, einen Mann zu lieben, sei die Ehe?«

»Denk einmal nach, ob eines der Mädchen in deinen Romanen zuerst verlangt hat, einen Mann zu heiraten? Das ist unnatürlich, da unserem Geschlecht das Gefühl angeboren ist, den Mann zu fürchten und zu fliehen. Alle warten, daß man ihnen Anträge macht, und ergeben sich dann schüchtern und zurückhaltend.«

»Gewiß, das habe ich gelesen, aber nicht besonders darauf geachtet. Ich war sogar ein wenig ärgerlich auf sie, besonders auf diese Clarissa Harlowe, die nicht weiß, was sie will. Aber da Sie mir dies sagen, so will ich ihr verzeihen. Wie wäre es denn zu erreichen, daß Herrn des Glands der Gedanke kommt, mich zu heiraten, denn ich denke nur noch daran? Wie gern möchte ich seine Frau sein, um ihn so recht auf meine Art lieben zu können!«

»Ich kenne seine Absichten nicht, liebes Kind. Ich sehe auch vorläufig nicht, wie diese Heirat jemals zustande kommen könnte. Wie man ihn auf diesen Gedanken bringen könnte? Ich muß gestehen, das weiß ich selber nicht, glaube übrigens auch nicht, daß es mir erlaubt wäre, ihn darauf hinzuweisen. Es gibt übrigens einen Grund, der menschlich ist und ihn verhindern könnte, an eine Heirat mit dir zu denken.«

»Das verstehe ich nun wieder gar nicht.«

»Wer bist du, daß er dich zu seiner Gefährtin, zu seiner Gemahlin erwählen könnte, zu seinem anderen Ich, das ihn in seinem Hause vertreten könnte?«

»Oh, ich bin doch weiter nichts, als sein und Ihr Werk.«

»Mein liebes Kind,« erwiderte darauf Frau Saint-Didier, gerührt durch diese naive Bemerkung, »sei bescheidener und weniger ehrgeizig.«

»Ich wäre ehrgeizig? Ich weiß nicht, was Ehrgeiz ist!«

»Ich weiß es, du sprichst nur in deiner Unschuld so« …

Herr des Glands, der ihre Unterhaltung belauscht hatte, unterbrach sie hier. Er war von den Fortschritten seines Mündels gleich erfreut, wie von dem gefühlvollen Auftreten der Erzieherin, und die Tränen, die letztere bei der Antwort Psyches: »ich bin nichts weiter, als sein und Ihr Werk«, nicht hatte zurückhalten können, hatten ihn mit großer Genugtuung erfüllt.

»Madame,« sagte er bei seinem Eintreten, »wie finden sie unser Kind?«

»Sehr vernünftig, Herr des Glands, sie lernt aus allem.«

»Das hatte ich von Ihrer Sorgfalt für sie erwartet. Wäre es aber jetzt, wo wir sicher sind, daß sie sich zu einem ausgezeichneten Charakter heranbilden wird, nicht an der Zeit, Nachforschungen nach ihrer Geburt anzustellen?«

»Ich denke nicht, Herr des Glands, denn wer weiß, vielleicht gehört die Ärmste Leuten an, die noch viel unglücklicher sind, als sie selbst, und deren Auffinden für sie eine Schande und für sie eine Last wäre!«

»Weder das eine, noch das andere, seien sie dessen gewiß! Wenn sie solchen Standes wären, daß Psyche darüber erröten müßte, so würde ich dafür sorgen, daß sie nie kennen lernen sollte. Sind sie aber nur arm, so würde ihre Armut eine Last sein, die ich mit Freuden erleichtern würde.«

»Ich weiß, Herr, daß Sie edel sind! Aber wie die Ärmsten auffinden? Psyche kennt sie nicht.«

»Das Bild meiner Mutter«, mischte Psyche sich ins Gespräch, »ist auf dem Deckel der Schachtel, die Sie eingeschlossen haben.«

»Sind Sie sicher,« fragte darauf Herr des Glands, »daß es das Porträt Ihrer Mutter ist?«

»Man hat es mir immer gesagt, als ich noch Kind war.«

»Wie alt waren sie, als sie Ihre Eltern verloren haben?«

»Ich glaube, drei Jahre alt.«

»Wissen sie nicht, was sie waren?«

»Nein. Aber sie waren Edelleute, hatten Lakaien und eine Kammerzofe, dieselbe, bei der man mich zurückgelassen hat.«

»Hat diese Ihnen niemals etwas von Ihren Eltern erzählt?«

»Doch, aber sie hat mir nie ihren Namen genannt. Sie wollte es erst tun, wenn ich älter wäre, sie hätte ihre Gründe dafür und fürchtete meine Indiskretion, sagte sie.«

»Waren denn nicht irgendwelche Dokumente vorbanden?«

»Ich weiß es nicht gewiß, glaube es aber, denn die Blondelat sagte eines Tages zu mir: »Wenn wir recht viel Geld angehäuft haben, und dann ein junger Mann aus guter Familie sich in dich verliebt, dann habe ich etwas in Händen, das dir die Heirat erleichtern wird …« Sie schien es aber zu bereuen, so gesprochen zu haben, denn als ich sie aus Neugier einmal danach fragte, leugnete sie es ab und meinte, ich müsse geträumt haben. Doch ich versichere Ihnen, es war kein Traum.«

»Ich muß die Papiere haben, Frau Saint-Didier.«

»Ich werde mich damit befassen,« erwiderte diese.

»Nein, nein, Sie werden bei dieser Elenden nichts durchsetzen.«

Er ging, aber ohne zu sagen, daß er die Blondelat aufsuchen wolle. Er behandelte sie mit gewohnter Strenge, doch besänftigte er das Weib, indem er eine goldgefüllte Börse vor ihren Augen glänzen ließ. Er sagte ihr auf den Kopf zu, daß sie Dokumente in Händen habe, die Aufschlüsse über die Geburt Psyches geben könnten. Zuerst leugnete sie hartnäckig, so daß sie des Glands beinah überzeugte, daß solche Papiere nicht daseien. Bevor er sich aber ergab, wandte er noch ein letztes Mittel an, indem er seinem Anerbieten die Drohung hinzufügte, er müsse sonst die Polizei veranlassen, bei ihr in seiner Anwesenheit eine Hausuntersuchung vorzunehmen. Das wirkte. Das Weibsbild war wütend und schimpfte, des Glands wolle ihr, nachdem er ihr das von ihr so sorgfältig erzogene Kind entführt, nun auch die Beweismittel wegnehmen, die ihr eines Tages eine schöne Belohnung einbringen könnten.

»Jawohl!« unterbrach des Glands sie, »eine Belohnung! Sie sollen die verdiente haben, wenn sie sich nicht fügen.« Nachdem sie sich noch lange gesträubt hatte, lieferte sie ihm endlich ein Dokument aus und gab auch zu, daß er alle übrigen Papiere, die sie noch besaß, prüfte. Aber nur das eine bezog sich auf Psyche. Er übergab der Elenden die versprochene Summe und eilte dann nach Hause. Er begab sich sofort zu Psyche und Frau Saint-Didier und las ihnen das Schriftstück vor, es lautete:

»Wir, Alexander-Diomedes-Basil de S*** und Leonore Psyche de la F***, haben unserer Kammerzofe Claudia Julia Leclapart unsere einzige Tochter anvertraut, die uns in legitimer Ehe geboren und auf die Namen Theodora Psyche de S*** getauft wurde. Sie ist drei Jahre alt. Damit Sie sie gut erziehen könne, lassen wir ihr alles zurück, was uns ehrenwerte Leute in Paris noch schulden, im ganzen eine Summe von 25000 Franken. Wir hoffen, unser liebes Kind wiederzusehen, bevor das Geld aufgebraucht ist. Unterzeichnet von uns, damit Claudia Julia sich damit ausweisen und bezahlt machen könne.

Geschehen zu Paris, den 16. März 17**
**de S***
Leonore-Psyche de la F***
**de S****«

»Sie sehen, Frau Saint-Didier,« bemerkte des Glands nach dem Verlesen, »daß Psyche die Tochter vornehmer Eltern ist, die nach der unglücklichen Geschichte, welche vor zwölf Jahren soviel Staub auswirbelte, verschwunden sind. Wir haben ein kostbares Pfand in Händen und müssen jeden Augenblick bereit sein, darüber Rechenschaft ablegen zu können.«

»Sie haben recht, Herr des Glands,« erwiderte Frau Saint-Didier errötend.

Als sie mit Psyche allein war, wies sie sie auf ihre hohe Geburt hin, um sie noch mehr zur Tugend hinzuführen und sie anzuregen, mit Mut den beschrittenen Weg weiter zu verfolgen.

»Jedermann, liebes Kind,« meinte sie, »hat die Verpflichtung zur Tugend, da aber Edelleute und Reiche der Gesellschaft weit mehr schuldig sind, als die Armen, so sind sie auch desto mehr gehalten, die Tugend zu üben, die die Stütze derselben Gesetze ist, dank denen sie ihre Vorrechte genießen. Gewöhnliche Menschen machen sich schuldig, wenn sie sie verletzen, Edelleute aber werden dadurch zu Schuldbeladenen und Narren zugleich, die höchster Verachtung wert sind.«

Psyche fühlte die ganze Bedeutung dieser weisen Belehrung, und ihre Seele, die sich bei der Kenntnisnahme von ihrer sozialen Stellung erweitert hatte, legte nun vollends alles Niedrige und Gemeine ab, in das die Blondelat sie getaucht hatte.

Am nächsten Tage stellte des Glands heimlich Nachforschungen nach den Eltern seiner Schutzbefohlenen an. Er erfuhr auf Umwegen, daß Psyches Mutter nach Verlauf von sieben oder acht Jahren nach Frankreich zurückgekehrt sei und Zuflucht in einem Kloster gefunden habe, nachdem sie vergebens ihre Tochter gesucht habe. Nun handelte es sich nur darum, zu wissen, in welches Kloster sie sich zurückgezogen habe. Eine Person, die es wußte, führte ihn dahin, es war dasselbe, das auch Frau Saint-Didier aufgenommen hatte. Schwester*** wurde ins Sprechzimmer gerufen. Sie kam und erklärte, die betreffende Dame habe das Kloster verlassen, um eine Stelle als Erzieherin anzunehmen. »Aus welchen Gründen«, fügte sie hinzu, »erkundigen sie sich nach der ***de S***?«

»Nur, um sie zu Dank zu verpflichten, indem ich ihr ihre Tochter wiedergebe.«

»Aber es ist doch sonderbar, daß gerade Sie, der sie doch zu sich genommen hat, nach Frau Saint-Didier fragen!«

»Wie? Frau Saint-Didier wäre die ***de S***?«

»Sie selbst! … Wie? Sie wußten es nicht? Da war ich vielleicht zu voreilig!«

»Nein, Schwester, nein, denn diese Entdeckung erfüllt mich mit der höchsten Freude. Sollten sie Frau Saint-Didier sehen, so verschweigen sie ihr, ich bitte Sie darum, daß Sie mich von allem unterrichtet haben, denn sie soll von meiner Seite so schnell noch nichts erfahren.«

Darauf kehrte er nach Hause zurück, außer sich vor Freude, daß er seinem Zögling die eigne Mutter als Erzieherin gegeben hatte. Er konnte natürlich nicht daran zweifeln, daß Frau Saint-Didier ihre Tochter an dem Porträt auf der Schachtel sofort wieder erkannt habe, aber er wollte ihr Geheimnis achten, da sie selbst es gewahrt wissen wollte, nur nahm er sich vor, ihr von nun volle Autorität über Psyche zu lassen. Von diesem Augenblick an konnte er mit wahrem Vergnügen beobachten, mit welcher Geschicklichkeit die zärtliche Liebe einer Mutter zu handeln verstand, welche Besorgnisse sie für die Tochter hegte, und welche Anstrengungen sie machte, um ihr eine Tugend beizubringen, die sie mit Sicherheit in den Stand setzen sollte, ihr in allem gehorsam zu sein an dem Tage, wo sie ihr eröffnen würde, daß sie ihre Mutter wäre.

In der Tat gönnte Frau Saint-Didier sich keinen Augenblick Ruhe und machte sich jeden Umstand zu nutze, ihre Tochter zu unterrichten und auf ihr Herz einzuwirken. Wenn Psyche bisweilen wieder in Ideen zurückfiel, die nach der Blondelat rochen, dann konnte sie ihre Tränen nicht zurückhalten. Besonders geschah dies bei einer Gelegenheit. Die Elende hatte einstmals zu Psyche gesagt: »Wenn du zufällig erführest, du seist von vornehmer Geburt, wie ich es glaube, so wäre das um so besser. Du würdest dadurch noch größere Leichtigkeit haben, mit der Welt zu verkehren und eines Tages vielleicht eine zweite Ninon de Lenclos werden können.« Zu gleicher Zeit hatte sie ihr eine Lebensgeschichte dieser berühmten Kurtisane vorgelesen, aber dabei wohlweislich alles Anständige ausgelassen. Als Psyche ihr diesen Streich in naivster Weise erzählte, hatte Frau Saint-Didier vor innerer Angst gezittert und ihre Tränen vor Herrn des Glands nicht verbergen können. Doch brauchte sie jetzt keine Angst mehr zu haben, denn Psyche wurde täglich ihrer Mutter und ihrer selbst würdiger. Sie wurde schüchtern und zurückhaltend. Wenn sie früher Herrn des Glands, sobald sie ihn bemerkte, entgegengesprungen war, so errötete sie jetzt, wenn er ihr Zimmer betrat und grüßte ihn in bescheidener Verlegenheit. Sie schämte sich nun ihrer früheren Vorstellungen von den Männern und wurde in ihren Worten, Blicken und Bewegungen zurückhaltender, als jede andere.

Wenn Herr des Glands bisher nur Gefallen an ihr gefunden hatte, so erfaßte ihn jetzt die zärtlichste Neigung für sie. Als Frau Saint-Didier dies bemerkte, gab sie ihrer Tochter weitere Lehren. Sie sagte, die Frauen müssen es sich wohl merken, daß Kühnheit und ein gewisser Leichtsinn, der bisweilen bis zur Frechheit gehe, und wie ihn die Pariserinnen von heutzutage an den Tag legen, wohl Gefallen hervorzurufen vermögen, aber nie wahre Zuneigung und aufrichtige Liebe. Man brauchte, meinte sie, nicht weit zu suchen, um den Grund dafür zu finden, daß die leidenschaftlichen Gefühle, die die Frauen heute erwecken, so wenig lange andauern. Psyche, in ihrer schüchternen Bescheidenheit, flößte Achtung ein, und diese Achtung erzeugte eine Liebe, wie ein ehrlicher Charakter sie nicht heißer empfinden konnte. Sobald Herr des Glands sich über seine Gefühle klar war, beschloß er, Psyche zu heiraten. Er beglückwünschte sich, daß er Frau Saint-Didier nicht hatte merken lassen, daß er von allem unterrichtet sei, denn der Gouvernante gegenüber fühlte er sich weniger beengt, als angesichts einer Mutter. Zudem stand Psyche an Geburt über ihm, und wer konnte wissen, ob man ihm nicht die Hand des jungen Mädchens verweigern würde, wenn die Angelegenheiten ihres Hauses inzwischen wieder einen günstigen Aufschwung genommen hätten? Er nahm sich daher vor, die Heirat zu beschleunigen, was keinen Mangel an Edelsinn verraten konnte, da er ja seine junge Gattin zur glücklichsten aller Frauen machen wollte. Er war reich, liebenswert, hochangesehen, er war sogar Edelmann, allerdings ohne Titel. Er beeilte insgeheim die Vorbereitungen zur Hochzeit, nicht in der Absicht, sie der Mutter zu verheimlichen, sondern nur, um ihr zeigen zu können, daß alles bereit sei, und um unvorhergesehenen Ereignissen weniger Zeit zum Eingreifen zu lassen. Als alles bereit war, sprach er eines Morgens bei seinem Schützling vor, als sie gerade folgendes Gespräch mit Frau Saint-Didier gehabt hatte:

»Du urteilst richtig, liebes Kind,« hatte diese zu ihr gesagt, »wenn du meinst, daß ich von den zärtlichsten Gefühlen für dich durchdrungen bin, aber deine Lage beunruhigt mich. Schon lange habe ich mit dir sprechen wollen, aber es war noch zu früh. Heute will ich es tun. Wo bist du, wenn wir es richtig betrachten wollen? Du, das junge, schöne Mädchen wohnst bei einem Manne, bei einem ledigen Herrn, der für dich sorgt, und von dem du alles empfängst! Welche Stellung! Was würde die Welt dazu sagen, wenn du bekannt wärest und sie es erführe? Wofür würde man dich halten? Denn man kennt ja die näheren Umstände nicht und weiß nicht, aus welcher Lage er dich gezogen hat. Man darf es nicht einmal wissen! Wirst du daher nicht für ein ausgehaltenes Mädchen gehalten werden? … Und ich? … Der Gedanke ist furchtbar, er wäre noch furchtbarer, wenn du wüßtest, wer ich bin!«

»Liebste Freundin, Sie stimmen mich traurig, um so trauriger, als ich keinen Ausweg sehe.«

»Es gäbe einen: komm mit mir in ein Kloster, dort könnten wir von meiner Pension leben.«

»Oh! Wie grenzenlos undankbar wäre es, den zu verlassen, den sie stets meinen Retter, meinen Wohltäter nennen? Ihn ohne sein Wissen zu verlassen?! … Dazu bin ich unfähig! … Er liebt mich so zärtlich!«

»Ja, Psyche, er liebt dich! Er liebt dich heißer denn je, ich habe es wohl bemerkt, und das gerade macht mich zittern!«

»Beruhigen sie sich, Beste, er ist edel!«

»Ich weiß es, Kind, aber er hat ein Herz und du auch. Ist es da richtig, daß du bei deinem Geliebten wohnst und ihm auf Gnade und Ungnade ausgeliefert bist? … Das Mittel, das ich vorschlage, ist hart, aber ich betone, es ist der einzige Ausweg aus dieser Lage!« …

»Ach, liebste Freundin, das geht über meine Kräfte! … Aber warum quälen sie mich, da es doch nichts nützt? … Doch will ich Ihnen eins sagen mit all der Aufrichtigkeit, die Sie an mir kennen: hielte nicht die Furcht, undankbar zu sein, mich davon ab, so würde ich Ihnen ins Kloster folgen … Sagen sie mir, würden Sie sich nicht auch diesen Vorwurf machen?«

»Wenn du die Welt kenntest, liebes Kind, die Strenge, mit der so etwas beurteilt wird nach Brauch und Sitte, dann würdest du nicht zaudern.«

»Er liebt mich, tausendmal hat er es mir gesagt und versichert, daß meine Anwesenheit sein Glück sei, daß mein Fortgehen ihn zum beklagenswertesten aller Menschen machen würde … Oh! Ich Unselige, warum mußte ich seine Ruhe stören, indem ich mich hier eindrängte!«

»Du bist ihm mehr zugetan, als du denkst, liebe Psyche!«

»Mehr zugetan, als ich denke? Ich hänge an ihm, wie an einem Vater, dem ich das Leben verdanke, und an Ihnen, wie an meiner Mutter.«

Frau Saint-Didier küßte ihre Tochter zärtlich, und da Herr des Glands befürchtete, daß sie sich entdecken würde, so unterbrach er diese Szene, indem er eintrat.

»Psyche,« wandte er sich an seinen Schützling, »seit einiger Zeit beschäftige ich mich ernstlich damit, eine gute Partie für sie zu finden, seit Wochen arbeite ich daran. Sie kennen mich, ich kenne Sie. Ich glaube, unsere Charaktere passen zu einander, und so biete ich Ihnen denn meine Hand und meinen Namen an. Sprechen sie. Alles ist bereit! … Wenn ich nicht früher gesprochen habe, so geschah dies nur – denn Ihrer, reizendes Mädchen, war ich sicher, Sie würden mich nicht Lügen gestraft haben –, um Ihnen und Frau Saint-Didier jede Mühe und Unruhe zu ersparen, und weil wir uns sonst, wenn sie meine Heiratsabsichten gekannt hätten, hätten trennen müssen, obwohl Sie hier bei einem Freunde, einem zweiten Vater wohnen. Mein Vorgehen hat diese Unannehmlichkeit vermieden, worauf mich auch der Pfarrer unserer Gemeinde, der uns trauen wird, aufmerksam gemacht hat. Teure Psyche, sind Sie damit zufrieden, daß ich alles vorbereitet habe, was Ihr Schicksal an das meine ketten soll? … Reden sie, teures Mädchen.«

»Sie sehen, liebste Freundin, wie er handelt! … Lieber Herr des Glands, alles, was mich fester an sie ketten kann, macht mein Glück aus!«

»Oh, Psyche! Sie sind mein Glück, mein alles! … Ihre Liebe macht mich zum glücklichsten der Menschen! … Unterzeichnen sie dieses Schriftstück … Wollen Sie, liebe Frau Saint-Didier, Mutterstelle an ihr vertreten und ebenfalls unterzeichnen …«

»Ich? Und wenn Psyche Eltern hat?«

»Die ganze Welt würde auf meiner Seite sein, Frau Saint-Didier, wenn sie versuchten, uns zu trennen. Ich habe alle Rechte über Psyche erworben, ich habe ihre Ehre, vielleicht ihr Leben gerettet …, ich liebe sie und werde von ihr wiedergeliebt. Alles ist bereit, der Altar erwartet uns. Unterzeichnen sie, ich bitte Sie darum, erweisen sie einem Freunde diesen Dienst!«

»Oh! Unterzeichnen sie, beste Frau Saint-Didier bat auch Psyche.

»Sie gehen in die Kirche, Herr des Glands?«

»In die Kirche. Alles ist vorbereitet, der Pfarrer benachrichtigt, er kennt meine Absichten und hat sich von Psyches Gefühlen selbst überzeugt.«

»Das ist wahr,« bestätigte diese.

»So hört mich alle beide an: mit welchem Recht berauben sie Psyches Eltern der liebevollen Pflicht, selbst über ihr Kind zu verfügen?«

»Ihr Kind? Sie ist mein Kind!« rief des Glands aus.

»Ich will zugeben, daß sie Ihnen ebensoviel, vielleicht mehr noch verdankt, als ihren Eltern, obwohl Sie nicht wissen können, was diese für sie, seitdem sie bei Ihnen weilt, getan haben.«

»Madame, die Zeit drängt. Sie wissen, daß ich Psyche liebe, Sie wissen ferner, wie ich mich mit dieser Leidenschaft für das reizende Geschöpf im Herzen gegen sie betragen habe, die ich täglich um mich hatte, haben Sie nun auch Mitleid mit mir und gewähren sie mir Ihre Hilfe … oder, wir gehen allein.«

»Warten sie noch einen Augenblick! … Lieber Herr des Glands … Setzen sie sich an meine Stelle … ich habe einen unglücklichen, geächteten Mann … darf ich ihm das letzte seiner Rechte antasten und seine Tochter gegen seinen Willen verheiraten?«

»Seine Tochter!« riefen des Glands und Psyche wie aus einem Munde … »Sie sind also …« fuhr letztere fort …

»Deine unglückliche Mutter, mein liebes, liebes Kind!«

Bei diesen Worten fiel Psyche ihr zu Füßen, und eine Zeitlang war nichts als Schluchzen zu vernehmen. Auch Herr des Glands ließ seinen Tränen freien Lauf. Als alle sich ein wenig beruhigt hatten, dankte Frau Saint-Didier ihm für alles, was er für ihre Tochter getan hatte und besonders für die Art und Weise, wie er seinem Werke die Krone aussetzen wolle und fuhr dann fort:

»Sie sehen, Herr des Glands, wieviel ich, die Mutter, Ihnen danke, ich danke Ihnen noch viel mehr, als sie, denn ich liebe sie mehr, als mein Leben. Ich will daher auch, obwohl ich ihre Mutter bin, nicht von den Rechten einer solchen Gebrauch machen. Sie sind ihr Herr und der meine. Ihre Handlungsweise hat Mutter und Tochter gewissermaßen zu Ihrem Eigentum gemacht. Aber gestatten sie mir nur, Sie eines zu fragen: muß ihr Vater nicht erst von allem unterrichtet werden? Würden sie sich seine ungerechte Verbannung zunutze machen wollen? Werden ihm Tochter und Schwiegersohn solchen Kummer bereiten wollen?«

»Ich will Ihnen gehorchen, gnädige Frau,« gab Herr des Glands darauf traurig zur Antwort, »Sie verzichten scheinbar auf Ihre Rechte, nur um ihnen noch größere Kraft zu verleihen, als ob der Titel Mutter durch mich je hätte verletzt werden können: Sie sind die Mutter Psyches, daher auch die meine, gebieten sie Ihren Kindern!«

»Herr des Glands,« nahm nun das junge Mädchen das Wort, »Sie ist meine Mutter, und ich würde vorziehen, unglücklich zu werden, als ihr ungehorsam zu sein, aber auch lieber zu sterben, als mich Ihnen undankbar zu erweisen. Ich fühle es, daß Ihr heutiger Vorschlag allen Unannehmlichkeiten ein Ende bereiten würde, die Mama mir vorhin vor Augen geführt hat. Ich unterwerfe mich Ihnen beiden, meiner Mutter aus Pflicht und kindlicher Liebe, Ihnen, Sie wissen warum! Verfügt beide über mich, eure Anrechte sind die gleichen, aber ich besitze kein Recht mehr, seitdem ich eine Mutter habe.«

Solche Gefühle erfüllten die Mutter mit stolzer Freude. Sie schlug vor, sofort an ihren Mann zu schreiben. Herr des Glands sah diese Notwendigkeit ein, bat sie aber, Psyche in seinem Hause zu lassen, bis die Antwort einträfe. Sie antwortete ihm darauf:

»Mein lieber des Glands, ich will nicht, daß Mutter und Tochter Ihnen mit Undank lohnen, der Beweis von Aufmerksamkeit und Achtung, den wir meinem Manne geben, genügt mir. Ich will ihm schreiben. Richten auch Sie und meine Tochter einige freundliche Zeilen an den unglücklichen Vater!«

Alle nahmen sofort die Feder in die Hand und schrieben, was das Herz ihnen eingab. Frau Saint-Didier las dann ihren Brief mit Ausnahme einer halben Seite ihren Kindern vor und überflog die anderen beiden Briefe. Sie war mit deren Inhalt sehr zufrieden und besonders sehr erfreut von dem, was Psyche geschrieben hatte. Darauf schickte sie die Schreiben durch einen Diener an eine Adresse, die sie ihm näher bezeichnete.

»Mein lieber Freund,« sagte sie darauf zu ihrem zukünftigen Schwiegersohne, »die Hochzeit kann trotzdem noch heute stattfinden, nämlich sogleich nach der Rückkehr des Dieners.«

Diese Worte führten die Freude wieder in die Herzen der Liebenden zurück, und sie bedeckten die Mutter mit ihren Liebkosungen. Kurze Zeit darauf kehrte der Diener zurück. Ein Greis, in einen langen Mantel gehüllt, begleitete ihn. Sofort eilte Frau Saint-Didier auf diesen zu und fragte ihn erstaunt:

»Wie? Sie kommen selbst?«

»Ja,« erwiderte der Greis, »ich konnte es mir nicht versagen, meine Tochter zu sehen und den edlen Mann persönlich kennen zu lernen, von dessen Taten sie mir seit zwei Jahren soviel Gutes berichtet haben.«

Und er schloß, halb ohnmächtig vor Freude und innerlicher Rührung, Psyche in seine Arme.

»Und damit gebe ich dich ihm,« sagte er dann zu ihr, »deinem Wohltäter, ihm, der die arme, von allen Verlassene, in sein Herz schloß und sie, die Tiefgesunkene, achtete. Aber er wird dabei nicht verlieren, denn mein Prozeß ist untersucht und wieder aufgenommen worden, ich habe meine Freiheit wieder, seit heute Morgen weiß ich es … Herr des Glands, Ihre Gattin bringt Ihnen in die Ehe mehrere schöne Güter mit und einen Titel, den ich Ihnen verschaffen werde. Ihr Verdienst ist darum nicht geringer, da Sie im Begriff waren, sie als arme Waise zu heiraten! Und nun zur Kirche.«

Meine jungen Leser, glaubt mir: welchen Reiz das Laster auch haben mag, welche Vergnügungen auch immer es verspricht – seid trotzdem gewiß, daß die Tugend trotz ihrer anscheinenden Herbheit doch ganz andere Freuden gewährt. Urteilt selbst darüber aus obiger Erzählung: Angenommen, des Glands wäre ein Lüstling gewesen und hätte das Gastrecht verletzt, oder das junge Mädchen nur deshalb zu sich genommen, um seine rohe Leidenschaft zu befriedigen, welch‘ trauriges Vergnügen hätte ihm das lasterhafte Treiben mit diesem Kinde gewähren können, Selbst wenn ihn keine Gewissensbisse geplagt hätten? Wahrhaftig ein gemeines Vergnügen, wie es ihm auch die gemeinste Dirne verschafft hätte! Was hat ihm im Gegenteil die Tugend gewährt! Ah! Selbst ohne den Reichtum, den Titel und die Ehren, die man ihm in Aussicht gestellt hat, ist er durch die schöne Psyche der glücklichste Ehemann geworden!

  1. Die beiden letztgenannten Bücher von Rousseau, die anderen sämtlich von Retif selber. C.