Mein Sieg über den Polizeivikar. – Meine Abreise. – Chambery. – Desarmoises‘ Tochter. – Herr Morin. – M. M. von Aix. – Die Pensionärin. – Lyon. – Paris.
Diese Vorladung ließ mich nichts Angenehmes ahnen; sie überraschte mich und mißfiel mir sehr. Da ich mich ihr jedoch nicht entziehen konnte, so ließ ich anspannen und begab mich nach der Amtsstube des Polizeivikars. Ich fand ihn an einem großen Tisch sitzen; um ihn herum standen etwa zwanzig Personen. Er war ein Mann von ungefähr sechzig Jahren und über alle Maße häßlich; denn seine Riesennase war zur Hälfte von einem Geschwür angefressen, das von einem großen Pflaster aus schwarzer Seide bedeckt wurde. Sein Mund war ungeheuer groß mit dicken Lippen; er hatte ganz kleine Katzenaugen und darüber sehr dichte Brauen, die zur Hälfte weiß waren. Sobald dieser ekelhafte Mensch mich sah, sagte er: »Sie sind der Chevalier de Seingalt?«
»So heiße ich, und ich komme, um mich zu erkundigen, was Ihnen zu Diensten steht.«
»Ich habe Sie kommen lassen, um Ihnen zu befehlen, spätestens in drei Tagen abzureisen.«
»Und da Sie nicht das Recht haben, mir einen solchen Befehl zu geben, so bin ich gekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich nicht früher abreisen werde, als ich Lust habe.«
»Ich werde Sie mit Gewalt vors Tor bringen lassen.«
»Das ist etwas anderes. Der Gewalt kann ich nicht widerstehen; aber ich hoffe, Sie werden sich das zweimal überlegen, denn man weist nicht aus einer gutverwalteten Stadt einen Mann aus, der nicht gegen die Gesetze des Landes verstößt und bei einem Bankier ein Guthaben von hunderttausend Franken hat.«
»Das ist alles ganz schön und gut; aber in drei Tagen haben Sie Zeit genug, Ihre Sachen zu packen und Ihre Rechnung mit Ihrem Bankier in Ordnung zu bringen. Ich rate Ihnen, zu gehorchen; der König befiehlt es Ihnen.«
»Wenn ich abreiste, würde ich mich zum Mitschuldigen Ihrer Ungerechtigkeit machen. Ich werde Ihnen daher nicht gehorchen; aber da Sie den Namen des Königs vorschieben, so werde ich mich auf der Stelle Seiner Majestät vorstellen. Der König wird Ihre Worte verleugnen oder den ungerechten Befehl zurücknehmen, den Sie mir so vor allen Leuten erteilt haben.«
»Ist etwa der König nicht berechtigt, Sie auszuweisen?«
»Ja, mit Gewalt, aber nicht mit Recht. Es steht auch in seinem Belieben, mich mit Gewalt hinrichten zu lassen; aber er muß mir dazu den Henker liefern; denn er hat nicht die Macht, mich zum Selbstmord zu zwingen.«
»Sie reden sehr gut; aber Sie werden gehorchen.«
»Ich rede gut, ohne es von Ihnen gelernt zu haben, und ich werde nicht gehorchen.«
Mit diesen Worten drehte ich ihm den Rücken zu und ging ohne Gruß hinaus.
Ich war wütend. Ich hatte Lust, allen Polizeibütteln des niederträchtigen Vikars offenen Widerstand zu leisten. Ich beruhigte mich jedoch bald und rief die Klugheit zu Hilfe. Da ich mich erinnerte, den Chevalier Raiberti bei seiner Tänzerin kennen gelernt zu haben, so beschloß ich, diesen um Rat zu fragen. Er war erster Geheimrat im Ministerium des Auswärtigen. Ich ließ meinen Kutscher zu ihm fahren und erzählte ihm die ganze Geschichte; zum Schlusse sagte ich ihm, ich müsse den König sprechen, denn ich sei entschlossen, nur der Gewalt zu weichen. Der brave Mann riet mir, mich lieber an den damaligen Minister des Auswärtigen, Chevalier Osorio, zu wenden, der zu jeder Stunde mit dem König sprechen könnte. Sein Rat leuchtete mir ein, und ich begab mich augenblicklich zu dem Minister, einem Sizilianer von Geburt und sehr geistvollen Manne. Er nahm mich recht freundlich auf. Nachdem ich ihm den Sachverhalt erzählt hatte, bat ich ihn, Seine Majestät davon unterrichten zu wollen; da der Befehl des Vikars mir abscheulich ungerecht erscheine, sei ich entschlossen, nur der Gewalt zu gehorchen. Er versprach mir, meinen Wunsch zu erfüllen, und sagte, ich möchte am nächsten Tage wiederkommen.
Um mich zu beruhigen, machte ich einen Spaziergang; hierauf begab ich mich zum Abbate Gama, in der Hoffnung, der erste zu sein, der ihm mein lächerliches Abenteuer mitteilte. Ich täuschte mich; er wußte bereits, daß ich den Ausweisungsbefehl erhalten und wie ich dem Vikar geantwortet hatte. Als er hörte, daß ich bei meinem Entschluß verharrte, wagte er meine Festigkeit nicht zu tadeln, obgleich sie ihm unbegreiflich war; denn der gute Abbate verstand nicht, wie man sich weigern könnte, einem Befehl der Obrigkeit zu gehorchen. Er versicherte mir, auf alle Fälle würde er, wenn ich abreisen müßte, die notwendigen Weisungen an jeden von mir ihm angegebenen Ort mir nachschicken.
Am nächsten Morgen empfing der Chevalier Osorio mich auf die liebenswürdigste Weise. Ich deutete dies als ein gutes Zeichen. Chevalier Raiberti hatte mit ihm über mich gesprochen; er sagte mir, er habe dem König meine Angelegenheit vorgetragen. Er habe auch mit dem Grafen d’Aglié gesprochen und ich könne so lange bleiben, wie ich wolle. Dieser Graf d’Aglié war kein anderer als der ekelhafte Vikar. Der Minister sagte mir, ich müsse zu ihm hingehen, und er würde mir eine so lange Frist bewilligen, wie ich nötig hätte, um meine Angelegenheiten in Turin in Ordnung zu bringen.
»Ich habe hier keine anderen Geschäfte,« antwortete ich ihm, »als Geld auszugeben und auf die Instruktion zu warten, die der portugiesische Hof mir für den bevorstehenden Augsburger Kongreß geben will, auf welchem ich Seine Allergetreueste Majestät vertreten soll.«
»Sie glauben also, daß dieser Kongreß stattfinden wird?«
»Niemand zweifelt daran.«
»Jemand ist der Meinung, er werde in Rauch aufgehen. Übrigens bin ich sehr erfreut, daß ich Ihnen habe nützlich sein können, und ich werde mit Vergnügen erfahren, welche Aufnahme Ihnen der Vikar bereitet hat.«
Ich war außer mir vor Freude. Glücklich, als Sieger auftreten zu können, und neugierig, was für ein Gesicht er bei meinem Anblick machen würde, ging ich sofort zum Vikar. Allerdings konnte ich mir nicht schmeicheln, daß ich ihn aus der Fassung bringen würde, denn derartige Leute haben die Stirn eines Kerkermeisters; sie werden niemals rot.
Sobald er mich sah, sagte er: »Der Chevalier Osorio hat mir gesagt, Sie hätten Geschäfte, die Sie zwängen, noch einige Tage in Turin zu bleiben. Sie können daher bleiben, doch müssen Sie mir sagen, wieviele Tage Sie ungefähr brauchen.«
»Das kann ich Ihnen unmöglich sagen.«
»Und warum nicht, bitte?«
»Ich erwarte vom portugiesischen Hof Instruktion für den bevorstehenden Augsburger Kongreß; um den Zeitpunkt meiner Abreise bestimmen zu können, müßte ich daher Seine Allergetreueste Majestät befragen können. Doch glaube ich, ich werde in etwa einem Monat nach Paris abreisen können. Sollte diese Zeit mir nicht genügen, so würde ich die Ehre haben, Sie zu benachrichtigen.«
»Sie werden mir ein Vergnügen machen.«
Diesmal machte ich ihm eine Verbeugung, die er erwiderte; ich ging hinaus und begab mich sofort wieder zum Chevalier Osorio, der mir lächelnd sagte, ich hätte den Vikar angeführt, denn ich hätte mir eine unbestimmte Frist geben lassen, die mir volle Bequemlichkeit ließe.
Der große Politiker Gama glaubte fest an das Zusammentreten des Kongresses; er freute sich daher königlich, als ich ihm sagte, der Chevalier Osorio glaube nicht an das Zustandekommen desselben. Er war entzückt, klüger zu sein als ein Minister; dieser Gedanke erhob ihn in seinen eigenen Augen. Die Menschen lieben so sehr, sich selber zu schmeicheln, indem sie eine Lieblingsidee hätscheln. Ich sagte ihm, die Meinungen des Chevaliers wären mir gleichgültig; ich würde nach Augsburg gehen, und zwar würde ich in drei oder vier Wochen abreisen.
Madame R. machte mir die größten Komplimente; sie war entzückt, daß ich den Vikar gedemütigt hatte; indessen hielten wir es doch für angebracht, unsere kleinen Abendessen mit ihren Mädchen einstweilen einzustellen. Da ich alle bereits genossen hatte, fiel dieses Opfer mir nicht übermäßig schwer.
So lebte ich bis zur Mitte des Monats Mai. Dann verließ ich Turin, nachdem ich vom Abbate Gama einen Brief für Lord Stormon erhalten hatte, der in Augsburg Bevollmächtigter des Königs von England sein sollte. Mit diesem edlen Insulaner sollte ich mich über meinen Auftrag ins Einvernehmen setzen. Da ich den Wunsch hatte, Frau von Urfé vor meiner Reise nach Deutschland zu besuchen, so schrieb ich ihr, sie möchte mir für Herrn von Rochebaron, den ich vielleicht nötig haben konnte, einen Brief nach Lyon schicken. Ferner bat ich Herrn Raiberti um einen Empfehlungsbrief für Chambéry, wo ich drei oder vier Tage mich aufhalten wollte, um die göttliche M. M., an die ich stets mit lebhafter Zärtlichkeit dachte, am Sprechgitter ihres Klosters zu besuchen. Ich schrieb an meinen Freund Valenglard und bat ihn, Frau Morin daran zu erinnern, daß sie mir versprochen hätte, mir in Chambéry eine Dame zu zeigen, die einem Portrait ähnlich sähe.
Doch hier muß ich ein Ereignis berichten, das der Erwähnung wert ist, da es mir sehr nachteilig wurde.
Fünf oder sechs Tage vor meiner Abreise kam Desarmoises traurig und niedergeschlagen zu mir und sagte zu mir, man habe ihm Befehl erteilt, binnen vierundzwanzig Stunden Turin zu verlassen.
»Wissen Sie, warum?« fragte ich ihn.
»Gestern, im ›Café du Commerce‹ erlaubte sich Graf Scarnafisch zu sagen, Frankreich besolde den Berner Zeitungsschreiber, damit er im französischen Sinne schreibe. Ich sagte ihm, dies sei nicht wahr; er wurde wütend, verließ zornig das Kaffeehaus und warf mir einen Blick zu, der nicht zweideutig war. Ich ging ihm nach, um ihn zur Vernunft zu bringen oder ihm Genugtuung zu geben; er hat aber weder genug Vernunft noch genug Mut; er wollte nicht auf mich hören, und ich vermute, er hat sich über mich beklagt. Morgen in aller Frühe muß ich mich auf die Beine machen.«
»Sie sind Franzose und können den Schutz Ihres Gesandten beanspruchen; Sie würden daher unrecht tun, wenn Sie so plötzlich abreisten.«
»Erstens ist der Gesandte abwesend; zweitens verleugnet mich mein grausamer Vater. Ich will lieber abreisen und in Lyon auf Sie warten. Ich bitte Sie nur, mir noch hundert Taler zu leihen; ich werde sie Ihnen in Rechnung stellen.«
»Die Rechnung wird leicht sein, aber mit bei Begleichung wird es lange dauern.«
»Das ist wohl möglich; aber glauben Sie mir, ich werde für Ihre Güte erkenntlich sein, wenn ich kann.«
Ich gab ihm hundert Taler, wünschte ihm gute Reise und sagte ihm, ich würde mich einige Tage in Chambéry aufhalten.
Nachdem ich einen Kreditbrief auf Augsburg genommen hatte, verließ ich Turin; nach drei Tagen kam ich in Chambéry an. Da zu meiner Zeit nur ein einziger Gasthof dort war, so machte die Wahl mir keine Qual; indessen bekam ich eine gute Unterkunft.
Als ich in mein Zimmer trat, begegnete mir eine überraschend hübsche Person, die aus einem Nebenzimmer trat. »Wer ist diese junge Dame?« fragte ich das Mädchen, das mich begleitete.
Sie antwortete mir: »Sie ist die Frau eines jungen Herrn, der hier bettlägrig ist, um von einem Degenstich geheilt zu werden, den er vor vier Tagen auf der Reise von Frankreich hierher erhalten hat.«
Ich hatte die schöne Frau nicht sehen können, ohne den Stachel der Begierde zu verspüren. Als ich ausging, um etwas auf der Post zu besorgen, sah ich ihre Tür halb offen stehen. Ich blieb stehen und bot ihr als Nachbar meine Dienste an. Sie dankte mir höflich und lud mich ein, einzutreten. Da ich einen schönen jungen Mann im Bette aufrecht sitzen sah, so trat ich näher und erkundigte mich nach seinem Befinden.
»Der Wundarzt,« sagte die junge Dame, »hat ihm verboten, zu sprechen, weil er eine halbe Meile von hier einen Degenstich in die Brust erhalten hat. Wir hoffen, er wird in wenigen Tagen geheilt sein, damit wir unsere Reise fortsetzen können.«
»Und wohin wollen Sie, meine Gnädige?«
»Nach Genf.«
Im Augenblick, wo ich hinausgehen wollte, trat die Tochter des Gastwirts ein und fragte mich, ob ich allein auf meinem Zimmer speisen wolle oder ob ich mit der gnädigen Frau soupieren würde. Über ihre Dummheit lachend, sagte ich ihr, ich würde auf meinem Zimmer speisen, da ich nicht die Ehre hätte, die gnädige Frau zu kennen.
Hierauf sagte die junge Dame zu mir: wenn ich ihr die Ehre erweisen wollte, bei ihr zu speisen, so würde ich ihr ein Vergnügen machen; der Mann wiederholte mir leise die Versicherung. Ich nahm die Einladung dankbar an und glaubte zu bemerken, daß ihnen dies angenehm war. Als die junge Dame mich hierauf bis an die Treppe begleitete, nahm ich mir die Freiheit, ihr die Hand zu küssen; dies ist in Frankreich eine ebenso ehrerbietige wie zarte Liebeserklärung.
Ich fand auf der Post einen Brief von Valenglard, der mir mitleilte, Frau Morin sei bereit, nach Chambéry zu kommen, wenn ich ihr einen Wagen schicken wolle. Desarmoises schrieb nur in einem Brief aus Lyon, er habe seine Tochter mit einem Schelm, der sie entführt, in einem Wagen getroffen; er habe ihm seinen Degen durch den Leib gerannt und würde ihn getötet haben, wenn er den Wagen hätte anhalten können, der sie nach Chambéry gebracht hätte. Er bezweifle nicht, daß sie in Chambéry halt gemacht hätten, und bitte mich, ich möchte versuchen, seine Tochter zur Rückkehr nach Lyon zu überreden. Wenn sie nicht wollte, so müßte ich ihm den Dienst erweisen, bewaffneten Beistand zu verlangen; ich möchte mich doch eines unglücklichen Vaters annehmen, der seine geliebte Tochter zurückhaben wollte. Er versicherte mir, sie sei nicht verheiratet, schickte mir seine Adresse und bat mich, ihm durch einen Eilboten zu antworten.
Es war nicht schwer zu erraten, daß dieses Mädchen keine andere war als meine Nachbarin; aber ich verspürte durchaus keine Neigung, den Wünschen des Vaters zu entsprechen.
Sobald ich nach Hause gekommen war, ließ ich Leduc mit einer viersitzigen Berline abreisen; ich schickte diese der Frau Morin und schrieb ihr: da ich nur ihretwegen in Chambéry wäre, so würde ich sie dort erwarten; sie möchte nach ihrer Bequemlichkeit reisen. Hierauf überließ ich mich der Freude über das eigentümliche Abenteuer, das ich dem Schicksal und einem seltsamen Zusammentreffen von lauter romanhaften Umständen verdankte.
Fräulein Desarmoises und ihr Entführer hatten mir Freundschaft eingeflößt; ich bemühte mich nicht, ausfindig zu machen, ob das Gefühl, das mich leitete, Laster oder Tugend war; aber ich fühlte unbewußt, daß es ein Gemisch von beiden war; denn wenn ich einerseits verliebt war, so empfand ich andererseits eine wahre Befriedigung, dem jungen Liebespaar helfen zu können, um so mehr, da ich die sündhafte Leidenschaft des meuchelmörderischen Vaters kannte.
Ich trat bei ihnen ein und fand den Kranken unter den Händen des Wundarztes. Die Wunde war zwar tief, aber nicht gefährlich: die Eiterung war ohne Entzündung eingetreten, und der junge Mann brauchte nur Zeit und Ruhe. Als der Doktor fortgegangen war, wünschte ich ihm Glück zu seinem Zustande und riet ihm, zu fasten und zu schweigen. Hierauf übergab ich dem Fräulein Desarmoises den Brief, den ich von ihrem Vater erhalten hatte, machte ihnen eine Verbeugung und sagte, ich würde auf meinem Zimmer die Stunde des Abendessens erwarten. Ich war sicher, daß sie zu mir kommen würde, um mit mir zu sprechen, sobald sie den Brief ihres Vaters gelesen hätte.
Eine Viertelstunde darauf klopfte es bescheiden an die Tür; ich ließ sie eintreten, und sie gab mir schüchtern meinen Brief zurück, indem sie mich fragte, was ich zu tun gedächte.
»Nichts! Ich werde mich glücklich schätzen, wenn Sie es mir ermöglichen, Ihnen nützlich zu sein.«
»Ich atme auf!«
»Haben Sie das Gegenteil glauben können? Sie haben beim ersten Anblick meine lebhafte Teilnahme erregt und können völlig über mich verfügen. Sind Sie schon verheiratet?«
»Nein; aber wir werden uns heiraten, sobald wir in Genf ankommen.«
»Setzen Sie sich und erzählen Sie mir ausführlich, wie Ihre Sachen stehen. Ich weiß, daß Ihr Vater unglücklicherweise in Sie verliebt ist, und daß Sie ihn fliehen.«
»Wie ich sehe, hat er es Ihnen gesagt, und dies ist mir sehr angenehm. Vor einem Jahre kam er nach Lyon, und sobald ich seine Ankunft erfuhr, zog ich mich zu einer Freundin meiner Mutter zurück; denn ich könnte nicht eine Stunde in Gegenwart meines Vaters bleiben, ohne mich der ungeheuerlichsten Vergewaltigung auszusetzen. Der junge Mann, den Sie im Bett gesehen haben, ist der einzige Sohn eines reichen Genfer Kaufherrn. Mein Vater selbst führte ihn vor zwei Jahren bei uns ein. Bald liebten wir uns. Als mein Vater wieder abgereist war, wandte mein Liebhaber sich an meine Mutter und hielt um meine Hand an; da jedoch mein Vater sich in Marseille befand, glaubte meine Mutter nicht ohne seine Einwilligung über mich verfügen zu können. Sie schrieb an ihn; er antwortete jedoch nur, er werde, sobald er wieder in Lyon sei, ihr seine Entschließung bekannt geben. Mein Geliebter reiste nach Genf, und da sein Vater seine Zustimmung zu unserer Heirat gab, so kehrte er mit allen erforderlichen Papieren und mit einer warmen Empfehlung des Herrn Tolosan zurück. Als mein Vater von Marseille zurückkam, entfernte ich mich, wie ich Ihnen bereits sagte, und mein Freund ließ durch Herrn Tolosan um meine Hand anhalten. Mein Vater sagte: ›Ich werde nicht eher antworten, als bis meine Tochter in mein Haus zurückgekehrt ist.‹ Herr Tolosan überbrachte mir die Antwort meines Vaters. Ich sagte ihm, ich sei bereit, zu gehorchen, wenn meine Mutter mich abholen und unter ihren Schutz nehmen wolle. Als jedoch der gute Herr ihr diesen Vorschlag machte, sagte sie ihm, sie kenne ihren Gatten zu gut und wage es daher nicht, mich unter einem Dach mit ihm wohnen zu lassen. Herr Tolosan sprach noch einmal mit meinem Vater, um dessen Einwilligung zu erlangen; aber vergeblich. Einige Tage darauf reiste er ab, und wir erfuhren, er sei in Aix in Savoyen, später in Turin. Mein Liebhaber sah, daß mein Vater sich nicht entschließen wollte, und schlug mir vor, ich möchte mit ihm abreisen; er ließ mir durch Herrn Tolosan versichern, er würde mich sofort nach unserer Ankunft in Genf heiraten. Meine Mutter war damit einverstanden, und vor acht Tagen reisten wir ab. Unser Unglück wollte, daß wir durch Savoyen reisten und daß wir kurz vor Chambéry meinem Vater begegneten. Kaum hatte er uns erkannt, so ließ er den Wagen halten; er wollte mich zum Aussteigen zwingen. Ich fing an zu schreien, und da mein Liebhaber mich in seine Arme genommen hatte, um mich zu schützen, ergriff mein Vater seinen Degen und stieß ihm diesen in die Brust. Ohne Zweifel hätte er noch einen zweiten Stoß geführt; da er aber Leute sah, die auf mein Geschrei und das des Fuhrmannes herbeieilten, außerdem wahrscheinlich meinen Freund für tot hielt, so stieg er wieder zu Pferde und sprengte mit verhängten Zügeln davon. Ich werde Ihnen den Degen zeigen; er ist noch ganz blutig.«
»Ich muß seinen Brief beantworten und will darüber nachdenken, wie ich seine Zustimmung zu Ihrer Ehe erlangen kann.«
»Dies ist nicht nötig; denn wir können uns auch ohne sie verheiraten und glücklich sein.«
»Ohne allen Zweifel; aber Sie können doch nicht Ihre Mitgift in Stich lassen?«
»Was für eine Mitgift, lieber Gott? Er hat nichts.«
»Aber wenn sein Vater, der Marquis Desarmoises, stirbt …«
»Das ist ein Märchen. Mein Vater hat nur eine kleine lebenslängliche Rente wegen seiner dreißigjährigen Dienste als Kurier. Sein Vater ist seit zwanzig Jahren tot, und meine Mutter und meine Schwester leben nur von ihrer Hände Arbeit.«
Mich empörte die schamlose Frechheit dieses Menschen, der mich so lange belogen hatte und nun selber mich instand setzte, seinen Betrug aufzudecken. Aber ich schwieg. Man meldete uns, daß das Abendessen aufgetragen sei; wir blieben drei Stunden bei Tisch und sprachen unaufhörlich über diese Geschichte. Der arme Verwundete brauchte mich nur zu hören, um meine Gefühle zu kennen. Seine junge Freundin, die ebenso geistreich wie hübsch war, scherzte über die wahnsinnige Leidenschaft ihres Vaters und sagte mir, er sei von ihrem elften Jahre an leidenschaftlich in sie verliebt gewesen.
»Aber Sie haben ihm immer Widerstand leisten können?«
»Ja, stets, wenn er den Spaß zu weit treiben wollte.«
»Und hat der Spaß lange gedauert?«
»Zwei Jahre. Als ich dreizehn Jahre alt war, hielt er mich für reif und versuchte mich zu pflücken; aber ich fing an zu schreien, sprang nackt aus seinem Bett und flüchtete in das meiner Mutter, die seit jenem Tage nicht mehr erlaubte, daß ich bei ihm schlief.«
»Sie schliefen bei ihm? Wie konnte Ihre Mutter das dulden?«
»Sie konnte nicht ahnen, daß seine Liebe verbrecherisch sei, und ich dachte mir überhaupt nichts Schlimmes dabei. Ich glaubte, was er mit mir machte und mich machen ließ, wären nur Kleinigkeiten.«
»Aber Ihr Kleinod – das haben Sie doch gerettet?«
»Ich habe es für meinen Liebhaber aufbewahrt.«
Der arme Liebhaber, der mehr vom Hunger als von seiner Wunde zu leiden hatte, lachte bei diesen Worten laut auf, und sie lief zu ihm und bedeckte ihn mit ihren Küssen. Ich selber war aufs höchste erregt. Die Erzählung war zu naiv gewesen, als daß ich hätte kalt bleiben können, besonders, wenn ich sie ansah. Denn sie besaß alles, was man an einem Weibe begehren kann, und ich verzieh beinahe ihrem Vater, sich in sie verliebt und vergessen zu haben, daß sie seine Tochter war.
Als sie mich an meine Tür begleitete, ließ ich sie fühlen, wie sie mich erregt hatte, und sie lachte; da aber meine Bedienten dabei waren, so mußte ich sie gehen lassen.
Am anderen Morgen schrieb ich in aller Frühe an ihren Vater: seine Tochter sei entschlossen, ihren Liebhaber nicht mehr zu verlassen; dieser sei nur leicht verwundet; sie seien in Chambéry in Sicherheit unter dem Schutz der Gesetze. Da ich ihre Geschichte kenne und das Paar nach meiner Ansicht sehr gut zusammenpasse, so könne ich es nur billigen, daß sie füreinander leben wollten.
Sobald mein Brief fertig war, ging ich in ihr Zimmer, damit sie ihn lesen könnten. Als ich die schöne Durchgängenin in Verlegenheit sah, wie sie mir ihre Gefühle der Dankbarkeit ausdrücken solle, bat ich den Kranken um Erlaubnis, sie umarmen zu dürfen.
»Fangen Sie mit mir an!« sagte er, indem er seine Arme ausbreitete.
Meine heuchlerische Liebe bedeckte sich mit dem Mantel väterlicher Zärtlichkeit. Nachdem ich den Liebhaber umarmt hatte, küßte ich liebevoll die Geliebte, nannte sie meine Kinder und bot ihnen meine mit Gold gefüllte Börse an, falls sie derselben bedürfen sollten. Da unterdessen der Wundarzt gekommen war, begab ich mich wieder auf mein Zimmer.
Gegen elf Uhr kam Frau Morin mit ihrer Tochter an. Leduc, der als Kurier voraufgeritten war, kündigte mit Peitschenknall ihre Ankunft an. Ich empfing sie mit offenen Armen und dankte ihr herzlich für das Vergnügen, das sie mir mache.
Sie erzählte mir, Fräulein Romans sei die Geliebte des Königs; sie bewohne ein schönes Haus in Passy, und da sie im fünften Monat schwanger sei, so sei sie auf dem Wege, Königin von Frankreich zu werden, wie mein göttliches Orakel prophezeit habe. »In Grenoble,« fuhr sie fort, »spricht man nur von Ihnen, und ich rate Ihnen, kommen Sie lieber nicht wieder, wenn Sie sich nicht etwa entschlossen haben, einer der Unsrigen zu werden; denn man würde Sie nicht wieder fortlassen. Der ganze Adel würde Ihnen zu Füßen liegen, und besonders die Frauen würden eifersüchtig und neugierig sein, das Schicksal ihrer Töchter zu erfahren. Es gibt jetzt in Grenoble keinen Menschen mehr, der nicht an die Unfehlbarkeit der Astrologie glaubt, und Valenglard triumphiert. Er hat hundert Louis gegen fünfzig gewettet, daß meine Nichte einen Prinzen zur Welt bringen wird. Er ist sicher, zu gewinnen; aber wenn er verliert, wird man sich über ihn lustig machen.«
»Er wird nicht verlieren, verlassen Sie sich darauf!«
»Ist das ganz gewiß?«
»Hat das Horoskop nicht in der Hauptsache die Wahrheit gesagt? Ich müßte einen großen Fehler in der Berechnung gemacht haben, wenn das Ende nicht dem Anfang entspräche.«
»Sie entzücken mich!«
»Ich gehe nach Paris und ich hoffe, Sie werden mir einen Brief an Frau Varnier mitgeben, die mir das Vergnügen verschaffen wird, Ihre Nichte zu sehen.«
»Selbstverständlich! Schon morgen sollen Sie den Brief haben.«
Ich stellte ihr Fräulein Desarmoises unter dem Familiennamen ihres Liebhabers vor, nachdem ich mich versichert hatte, daß sie mit uns speisen würde.
Nach dem Essen gingen wir zusammen in das Kloster, wo M. M. war. Als man ihr ihre Tante meldete, kam sie an das Sprechgitter, sehr überrascht über solchen unerwarteten Besuch; aber sie bedurfte ihrer ganzen Geistesgegenwart, um sich nicht zu verraten, als sie mich sah. Als ihre Tante ihr meinen Namen sagte, bemerkte sie mit jenem Takt, der den Frauen eigen ist, sie habe mich während ihres Aufenthaltes in Aix fünf- oder sechsmal am Brunnen gesehen; aber ich könne sie nicht wieder erkennen, denn sie sei stets verschleiert gewesen. Ich bewunderte ebenso ihre Klugheit und ihren Geist wie ihr entzückendes Gesicht. Sie erschien mir schöner, und ohne Zweifel sagten meine bewundernden Blicke ihr dies. Wir unterhielten uns eine Stunde lang über Grenoble und ihre alten Bekannten, an die sie sich mit Vergnügen erinnerte; hierauf verließ sie uns, um eine junge Pensionärin zu holen, die sie liebte und ihrer Tante vorzustellen wünschte. Ich benutzte diesen Augenblick, um Frau Morin zu sagen, ich sei im höchsten Grade verwundert über die Ähnlichkeit; sie habe sogar denselben Klang der Stimme wie meine venetianische M. M. Ich bat sie, mir das Glück zu verschaffen und sie zur Annahme von zwölf Pfund ausgezeichneter Schokolade zu bewegen, die ich von Genua mitgebracht hätte.
»Ich rate Ihnen,« antwortete sie mir, »ihr dieses Geschenk selber anzubieten: denn ist sie auch Nonne, so ist sie doch Frau, und ein Geschenk macht uns mehr Vergnügen, wenn wir es von einem Manne, als wenn wir es von einer Frau erhalten.«
M. M. kam mit der Oberin, zwei anderen Nonnen und der jungen Pensionärin, einer entzückenden jungen Lyonerin, zurück. Ich mußte mit allen diesen frommen Damen schön tun, und Frau Morin sagte ihrer Nichte, ich möchte gerne eine ausgezeichnete Schokolade probieren, die ich von Genua mitgebracht hätte, aber ich hätte den Wunsch, daß sie von ihrer Laienschwester zubereitet würde.
»Mein Herr,« sagte M. M. zu mir, »haben Sie die Güte, mir die Schokolade zu schicken, und wir werden morgen mit unseren lieben Schwestern zusammen frühstücken.«
In meinen Gasthof zurückgekehrt, schickte ich sofort die Schokolade mit einem sehr ehrerbietigen Briefchen. Ich soupierte im Zimmer der Frau Morin mit ihrer Tochter und Fräulein Desarmoises, in die ich mich immer mehr verliebte; ich sprach jedoch nur von M. M., und es kam mir vor, als ob die Tante erriete, daß die schöne Nonne mir nicht fremd war.
Ich frühstückte im Kloster und erinnere mich noch, daß die Schokolade nebst Zwiebäcken und Zuckerwerk mit einer recht koketten Appetitlichkeit aufgetragen wurde. Nach dem Frühstück sagte ich zu M. M., es würde ihr wohl nicht so leicht sein, mir ein Diner zu zwölf Personen an einem Tische zu geben, so daß die Gesellschaft im Klosterraum und die andere Hälfte, durch ein dünnes Gitter getrennt, im Sprechzimmer säße.
»Ich wäre neugierig, dies zu sehen,« sagte ich, »wenn Sie mir erlauben wollten, die Kosten zu bestreiten.«
»Gern!« antwortete M. M., und dieses halb geistliche, halb weltliche Diner wurde auf den nächsten Tag festgesetzt.
M. M. übernahm alle Anordnungen und versprach mir, sechs Nonnen einzuladen. Frau Morin, die meinen Geschmack kannte, sagte ihr, sie möchte nichts sparen, und ich teilte ihr mit, daß ich die erforderlichen Weine schicken würde.
Nachdem ich Frau Morin, ihre Tochter und Fräulein Desarmoises nach Hause gebracht hatte, begab ich mich zu Herrn Magnan, dem ich durch Chevalier Raiberti empfohlen war. Ich sagte ihm, er möchte so freundlich sein, mir ausgezeichnete Weine zu verschaffen, und er bat mich, alles was ich wünschte, aus seinem Keller holen zu lassen. Ich wurde nach Wunsch bedient.
Dieser Herr Magnan war ein geistvoller Mann mit angenehmen Zügen und sehr wohlhabend. Er bewohnte außerhalb der Stadt ein großes bequemes Haus, worin seine Gattin, eine liebenswürdige und noch sehr appetitliche Frau, inmitten von zehn Kindern waltete; darunter waren vier sehr hübsche Fräuleins, von denen besonders die älteste, damals neunzehn Jahre alt, liebreizend war. Magnan war ein großer Gastronom und tat sich etwas darauf zugute; um es mir zu beweisen, lud er mich für den übernächsten Tag zum Essen ein.
Gegen elf Uhr gingen wir ins Kloster; nachdem wir uns eine Stunde unterhalten hatten, meldete man uns im Augenblick, wo die Uhr zwölf schlug, daß das Mittagessen angerichtet sei. Die Tafel bot einen hübschen Anblick; sie war mit blendendweißer schöner Wäsche bedeckt und mit mehreren kleinen Gefäßen voll künstlicher Blumen geschmückt, die je nach ihrer Art parfümiert waren, so daß das ganze Sprechzimmer danach duftete. Das leidige Gitter war weniger leicht, als ich gehofft hatte; so hatte ich keinen Vorteil davon, daß ich zur Linken von M. M. saß. Zu meiner Linken hatte ich die schöne Desarmoises; das reizende Mädchen hielt uns in lustiger Stimmung, indem sie uns eine Menge niedlicher Geschichten erzählte.
Leduc und Costa bedienten uns draußen, während die Nonnen von ihren Laienschwestern bedient wurden. Die Fülle der Gerichte, die ausgezeichneten mannigfaltigen Weine, tausend liebenswürdige Bemerkungen, die oft zweideutig waren und immer Stoff zum Lachen gaben, ließen das Mahl drei Stunden dauern. Wir waren alle ein bißchen angeheitert, oder um es deutlicher zu sagen: wir waren alle betrunken, und ohne das leidige Gitter hätte ich bei meinen elf weiblichen Gästen leichtes Spiel gehabt. Besonders meine junge Desarmoises war so ausgelassen lustig, daß sie, wenn ich sie nicht zurückgehalten hätte, wahrscheinlich allen Nonnen Anstoß gegeben haben würde, denen sie damit freilich einen Gefallen getan hätte. Nach dem Kaffee gingen wir in ein anderes Sprechzimmer und blieben dort bis zum Anbruch der Nacht. Frau Morin nahm Abschied von ihrer Nichte, und der Austausch von Danksagungen, Händedrücken und Versprechungen ewigen Angedenkens dauerte zwischen mir und den Nonnen eine volle Viertelstunde. Nachdem ich M. M. zugerufen hatte, daß ich vor meiner Abreise noch die Ehre haben würde, sie zu sehen, kehrten wir in den Gasthof zurück. Wir waren sehr zufrieden mit dieser in ihrer Art einzigen Vergnügungspartie, die mich noch jetzt ergötzt, sooft ich mich ihrer erinnere.
Die gute Frau Morin gab mir einen Brief für ihre Base, Madame Varnier; ich versprach ihr, von Paris aus einen ganz ausführlichen Bericht über die Verhältnisse der schönen Roman an sie zu schicken. Ich schenkte ihrer Tochter ein Paar schöner Ohrringe und ihr selber zwölf Pfund gute Schokolade, die Herr Magnan mir besorgte, die aber Frau Morin als angebliche Genueser Schokolade erhielt. Um acht Uhr reiste sie ab; Leduc, dem ich aufgetragen hatte, der Familie des Hausmeisters Grüße von mir zu bestellen, ritt als Kurier voraus.
Ich fand bei dem Lebemann Magnan ein Essen, das eines Lukullus würdig war, und versprach ihm, bei ihm zu wohnen, sooft ich nach Chambéry kommen würde; ich habe ihm Wort gehalten.
Von dem Hause des Gastronomen ging ich nach dem Kloster, um M. M. einen Besuch zu machen; sie kam ganz allein an das Sprechgitter. Sie sprach mir ihre Dankbarkeit über den glänzenden Besuch aus, den ich unter dem Schutze ihrer Tante ihr in so unauffälliger Weise gemacht hätte; aber sie sagte, ich sei gekommen, um ihre Ruhe zu stören.
»Ich bin bereit, mein Herz, leichtfüßiger als dein schlimmer Buckliger deine Gartenmauer zu übersteigen.«
»Ach, das ist nicht möglich, denn glaube mir, du hast bereits Spione hinter dir. Man ist hier überzeugt, daß wir uns in Aix gekannt haben. Laß uns alles vergessen, mein lieber Freund, um uns die Qual vergeblicher Wünsche zu ersparen.«
»Gib mir deine Hand.«
»Nein; es ist aus. Ich liebe dich noch; ich werde dich wahrscheinlich immer lieben, aber ich sehne mich danach, daß du abreisest; durch deine Abreise wirst du mir einen Beweis deiner Liebe geben.«
»Entsetzlich! Du erstaunst mich. Du erfreust dich allem Anscheine nach einer vollkommenen Gesundheit; du scheinst mir schöner geworden zu sein; ich weiß, daß du für den Kultus des liebenswürdigsten aller Götter geschaffen bist; ich begreife nicht, daß du mit deinem Temperament bei ewiger Enthaltsamkeit zufrieden leben kannst.«
»Ach, in Ermangelung der Wirklichkeit befriedigen wir uns mit kleinen Scherzen. Ich will dir nicht verhehlen, daß ich meine junge Pensionärin liebe. Diese Liebe erhält meine Ruhe. Es ist eine unschuldige Leidenschaft. Ihre Liebkosungen dämpfen ein Feuer, woran ich sterben würde, wenn ich nicht seine Gewalt durch unsere Zärtlichkeiten milderte.«
»Und leidet nicht dein Gewissen dabei?«
»Ich beunruhige mich nicht.«
»Aber du weißt doch, daß du sündigst?«
»Darum beichte ich auch.«
»Und was sagt der Beichtvater?«
»Nichts. Er spricht mich frei, und ich bin glücklich.«
»Und beichtet deine hübsche Pensionärin ebenfalls?«
»Selbstverständlich; aber es fällt ihr nicht ein, dem Beichtvater etwas zu sagen, was sie nicht für eine Sünde hält.«
»Ich wundere mich, daß der Beichtvater sie nicht belehrt hat; denn eine Belehrung dieser Art ist ein großer Genuß.«
»Unser Beichtvater ist ein weiser alter Mann.«
»Ich soll also abreisen, ohne von dir einen einzigen Kuß erhalten zu haben?«
»Nichts.«
»Kann ich morgen wiederkommen? Übermorgen werde ich abreisen.«
»Komm, aber ich werde nicht allein herunterkommen, denn man könnte auf Mutmaßungen geraten. Ich werde mit meiner Kleinen kommen. Dadurch bleibt der Schein gewahrt. Komm nach Tisch, aber ins andere Sprechzimmer.«
Hätte ich M. M. nicht in Aix gekannt, so würde mich ihre Religion überrascht haben; aber so war nun einmal ihr Charakter. Sie liebte Gott und glaubte nicht, daß dieser großmütige Vater, der uns mit Leidenschaften erschuf, unnachsichtig gegen sie sein würde, weil sie nicht die Kraft hatte, ihre Natur zu bändigen. Ich ging nach meinem Gasthof zurück; mich ärgerte, daß die schöne Nonne nichts mehr von mir wissen wollte, aber ich war überzeugt, daß die Desarmoises mich schadlos halten würde.
Ich fand die Schöne auf dem Bett ihres Liebhabers sitzen, der durch Fasten und Fieber außerordentlich schwach geworden war. Sie sagte mir, sie werde zum Abendessen in mein Zimmer kommen, damit der Kranke Ruhe habe; der gute junge Mann schüttelte mir die Hand, um mir seine Dankbarkeit zu bekunden.
Da ich bei Magnan reichlich zu Mittag gegessen hatte, rührte ich beim Abendessen fast nichts an; meine Gesellschafterin aber, die nur ein leichtes Mittagessen zu sich genommen hatte, aß und trank mit einem wahren Heißhunger. Ich sah sie mit einer Art von Bewunderung an, und sie freute sich über mein Erstaunen. Als meine Bedienten hinausgegangen waren, forderte ich die Schöne auf, mit mir zusammen einer Bowle Punsch die Spitze zu bieten. Der heiße Trank versetzte sie in jene Heiterkeit, die nur lachen will und die darüber lacht, wenn Widerstandskraft und Vernunft dahin sind. Indessen kann ich mir nicht den Vorwurf machen, ihren trunkenen Zustand mißbraucht zu haben; denn in der ganzen Wollust ihrer Seele verlangte sie zuerst nach den Genüssen, zu denen ich sie bis zwei Uhr in der Frühe anreizte. Wir waren völlig erschöpft, als wir uns trennten.
Ich schlief bis elf Uhr, und als ich ihr guten Morgen sagen ging, fand ich sie fröhlich und frisch wie eine Rose. Ich fragte sie, wie sie den Rest der Nacht verbracht habe,
»Wie den Anfang,« antwortete sie mir, »ganz ausgezeichnet.«
»Wann wollen Sie zu Mittag essen?«
»Gar nicht; ich will lieber meinen ganzen Appetit fürs Abendessen aufsparen.«
Hier mischte ihr Liebhaber sich ins Gespräch und sagte zu mir mit schwacher Stimme, aber mit höflichem und ruhigem Ton: »Ihr kann man unmöglich standhalten.«
»Im Essen oder im Trinken?«
»Im Essen, im Trinken und in noch etwas anderem,« antwortete er mit einem Lächeln.
Sie lachte und umarmte ihn zärtlich.
Dieses kleine Gespräch überzeugte mich, daß die Desarmoises ihren Liebhaber anbeten mußte; denn er war nicht nur ein sehr hübscher Junge, sondern hatte auch gerade den Charakter, der für ihre Neigungen außerordentlich passend war. Ich aß allein zu Mittag. Als ich beim Nachtisch saß, kam Leduc an. Er sagte mir, die Töchter des Hausmeisters und die hübsche Base hätten ihn genötigt, seine Abreise aufzuschieben, um mir zu schreiben; er überbrachte mir von ihnen drei Briefe und drei Dutzend Handschuhe, die sie mir schenkten. Ihre Briefe enthielten weiter nichts als dringende Einladungen, einen Monat bei ihnen zu verbringen; sie gaben mir dabei mit genügender Deutlichkeit zu verstehen, daß ich mit ihnen zufrieden sein würde. Ich hatte jedoch nicht den Mut, in eine Stadt zurückzukehren, wo ich bei dem Rufe, den ich mir erworben hatte, allen Töchtern guter Familien das Horoskop hätte stellen müssen, wenn ich mir nicht durch Unhöflichkeit Feinde machen wollte.
Nachdem ich gegessen und meine Briefe von Grenoble gelesen hatte, ging ich nach dem Kloster, wo ich mich bei M. M. melden ließ und dann das mir von ihr bezeichnete Sprechzimmer betrat. Sie kam sehr bald mit der schönen jungen Pensionärin, die mich nur unvollkommen bei ihren Liebesekstasen vertrat. Sie hatte noch nicht ihre zwölf Jahre vollendet, war aber groß, kräftig und für ihr Alter sehr stark entwickelt. Sanftmut, Lebhaftigkeit, Unschuld und Klugheit vermählten sich auf ihrem schönen Antlitz und verliehen ihr einen entzückenden Zauber. Ein gutsitzendes Mieder ließ eine weiße wohlgeformte Brust bloß, auf der die Phantasie leicht schon die Halbkugeln erblickte, die sie bald schmücken mußten. Dieser interessante Kopf, an welchem zwei herrliche ebenholzfarbige Zöpfe herunterhingen, und diese Brust ließen alles übrige erraten, und meine Einbildungskraft schuf mir aus ihr eine heranblühende Venus.
Ich sagte ihr, sie sei sehr hübsch und werde den von Gott ihr bestimmten Gatten glücklich machen. Ich wußte, daß sie über dieses Kompliment erröten mußte. Das ist grausam, aber so beginnt stets die Sprache der Verführung. Ein junges Mädchen ihres Alters, das nicht erröten würde, wenn man ihm von Heiraten spräche, wäre entweder dumm oder bereits eine erfahrene Meisterin in den Ausschweifungen der Liebe. Und doch ist der Ursprung der Röte, womit sich bei einem beunruhigenden Gedanken das Gesicht eines jungen Mädchens überzieht, ein wahres Rätsel; denn sie kann ein Zeichen reiner Schamhaftigkeit oder ein Zeichen der Schande sein, und oft ist sie eine Mischung von beiden. Dann findet ein Kampf zwischen Laster und Tugend statt, bei welchem gewöhnlich die Tugend unterliegt. Die Begierden sind Trabanten des Lasters und erfechten leicht den Sieg über die Tugend. Da ich die Pensionärin aus den Erzählungen meiner M. M. bereits kannte, so wußte ich, woher die Röte kam, die ihre jungen Reize noch schöner machte.
Ich tat, wie wenn ich nichts bemerkt hätte, und unterhielt mich einen Augenblick mit M. M.; dann erneuerte ich den Angriff. Sie hatte bereits ihre Fassung wiedergewonnen.
»Wie alt sind Sie, mein schönes Kind?«
»Dreizehn Jahre.«
»Du irrst, mein Herz,« sagte ihre Freundin zu ihr, »du hast dein zwölftes Jahr noch nicht vollendet.«
»Die Zeit wird kommen,« bemerkte ich, »wo Sie die Zahl Ihrer Jahre vermindern werden, anstatt sie zu vergrößern.«
»Ich werde niemals lügen; das weiß ich ganz gewiß.«
»Sie wollen also Nonne werden, meine schöne Freundin?«
»Ich fühle mich noch nicht dazu berufen; aber nichts soll mich veranlassen, zu lügen, selbst wenn ich in der Welt leben werde.«
»Sie irren sich; denn Sie werden zu lügen anfangen, sobald Sie einen Geliebten haben.«
»Mein Geliebter wird also ebenfalls lügen?«
»Ganz gewiß.«
»Wenn es so wäre, wäre die Liebe etwas recht Häßliches. Aber ich glaube es nicht; denn ich liebe meine gute Freundin und verhehle ihr doch niemals die Wahrheit.«
»Aber Sie werden einen Mann nicht so lieben, wie Sie eine Frau lieben.«
»Ganz genau ebenso.«
»Nein. Denn Sie schlafen nicht bei ihr; bei Ihrem Gatten aber werden Sie schlafen.«
»Das ist einerlei; meine Liebe würde die gleiche sein.«
»Wie? Sie würden nicht lieber bei mir als bei M. M. schlafen?«
»Nein, gewiß nicht! Denn Sie sind ein Mann und würden mich sehen.«
»Sie wollen also nicht, daß ein Mann Sie sieht?«
»Nein.«
»Sie wissen also, daß Sie häßlich sind?«
Bei diesen Worten drehte sie sich mit einem Ausdruck tiefen Verdrusses zu ihrer Freundin und fragte diese: »Ist es wahr, daß ich häßlich bin?«
»Nein, mein Herz,« antwortete M. M. ihr mit ausgelassenem Lachen; »nein, du bist im Gegenteil sehr hübsch.«
Mit diesen Worten zog sie sie auf ihren Schoß und umarmte sie zärtlich.
»Ihr Mieder ist zu eng geschnürt, mein Fräulein; unmöglich können Sie eine so schlanke Taille haben.«
»Sie irren, mein Herr! Sie könnten die Hand hineinstecken.«
»Das glaube ich nicht.«
M. M. führte sie an das Gitter, drehte sie seitwärts, und sagte mir, ich solle mich überzeugen. Zugleich hob sie ihr den Rock hoch.
»Es ist wahr,« sagte ich zu ihr, »ich widerrufe alles.«
Zugleich aber verfluchte ich innerlich das Hemd und das Gitter.
«Ich glaube,« sagte ich zu M. M., »sie ist ein kleiner Mann.«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, arbeitete ich so eifrig, daß ich mich mit meinen Fingern von ihrem Geschlecht überzeugte. Ich konnte dabei bemerken, daß es der Kleinen sowohl wie ihrer Lehrmeisterin viel Vergnügen machte, mir diese Gewißheit zu verschaffen. Nachdem ich meine Hand zurückgezogen hatte, küßte die Kleine M. M., deren lachendes Gesicht sie beruhigte, und bat ihre Freundin um Erlaubnis, sich einen Augenblick entfernen zu dürfen. Jedenfalls hatte ich sie in die Notwendigkeit versetzt, einen Augenblick allein zu sein; auch ich befand mich in einem Zustand höchster Erregung.
Als die Kleine hinausgegangen war, sagte ich zu M. M.: »Weißt du auch, daß die Aufklärung, die du mir verschafft hast, mich unglücklich macht?«
»Ei warum denn?«
»Weil ich deine Pensionärin reizend gefunden habe. Ich sterbe vor Verlangen, sie zu besitzen.«
»Das tut mir leid; denn du kannst nicht weiter gehen, als du es bereits getan hast. Und dann, mein Freund, ich kenne dich, selbst wenn du ohne Gefahr für sie dich befriedigen könntest, würde ich sie dir nicht lassen; denn du würdest sie mir verderben.«
»Wieso?«
»Denkst du, sie könnte mit mir glücklich sein, nachdem sie es mit dir gewesen wäre? Ich würde bei dem Vergleich zu viel verlieren.«
»Gib mir deine Hand!«
»Oh nein.«
»Sieh!«
»Ich will nichts sehen.«
»Nicht ein bißchen?«
»Nein.«
»Aber bist du meiner Hand und meinen Augen böse?«
»Im Gegenteil. Wenn du genossen hast, freue ich mich darüber; und wenn du Begierden in ihr erregt hast, wird sie mich um so mehr lieben.«
»Welch ein Glück wäre es, mein Engel, wenn wir zu dritt in aller Freiheit beisammen sein könnten.«
»Ich fühle es wohl; aber es ist nicht möglich.«
»Bist du sicher, daß wir vor jedem neugierigen Blick geschützt sind?«
»Vollkommen sicher.«
»Die Brustwehr des abscheulichen Gitters hat mir viele Reize entzogen.«
»Warum bist du nicht an das andere Sprechgitter gegangen? Es ist viel niedriger.«
»Laß uns hingehen!«
»Nein, heute nicht; denn ich wüßte keine Entschuldigung für diesen Wechsel.«
»Ich werde morgen wiederkommen; am Abend reise ich nach Lyon ab.«
Die Kleine trat wieder ein; ich stellte mich aufrecht vor sie hin. Ich hatte an meinen Uhrketten eine Menge herrliche Berlocken hängen, und ich hatte noch nicht Zeit gehabt, meine Beinkleider wieder in eine anständige Ordnung zu bringen. Sie bemerkte dies, benutzte meine Berlocken als Vorwand für ihre Neugier und fragte mich, ob sie sie besehen dürfe.
»Soviel Sie wollen, mein Gold! Sie können sie sehen und auch anfassen.«
M. M. sah voraus, wie es kommen würde, und sagte, sie werde gleich wiederkommen. Ich beeilte mich, der allzu neugierigen Pensionärin jedes Interesse an meinen Berlocken zu benehmen, indem ich ihr ein Geschmeide anderer Art in die Hand drückte. Sie verhehlte nicht ihr Entzücken und ihre Freude, ihre Neugierde an einem für sie ganz neuen Gegenstand befriedigen zu können, den sie zum erstenmal in ihrem Leben von allen Seiten ganz genau untersuchen durfte. Bald aber verwandelte ein Erguß von Lebenssaft ihre Neugier in Erstaunen; doch unterbrach ich sie damit nicht in ihrer entzückenden Beschäftigung des Bewunderns.
Da ich M. M. langsam zurückkommen sah, ließ ich den Vorhang herunter und setzte mich. Meine Uhren lagen noch auf der Brustwehr, und M. M. fragte ihre junge Freundin, ob sie die Berlocken hübsch gefunden habe. Die Kleine bejahte diese Frage, aber in einem traurigen und träumerischen Ton. Sie hatte in weniger als zwei Stunden einen so weiten Weg zurückgelegt, daß sie wohl Stoff zum Nachdenken hatte.
Den übrigen Teil des Tages verbrachte ich damit, M. M. meine Abenteuer seit meinem Abschied von ihr zu erzählen; da es jedoch zu spät wurde, um meine Erzählung an demselben Tage zu Ende zu bringen, versprach ich ihr am nächsten Tage zur selben Stunde wiederzukommen und ihr den Rest zu erzählen.
Die Kleine, die alles gehört hatte, obgleich ich mir den Anschein gab, nur mit ihrer Freundin zu sprechen, sagte mir, sie sei sterbensneugierig, wie die Geschichte mit der Geliebten des Herzogs von Matalone ausgegangen sei.
Ich aß mit meiner jungen Desarmoises zu Abend und ging erst zu Bett, nachdem ich ihr bis Mitternacht meine Zärtlichkeit bewiesen und ihr versichert hatte, daß ich meine Abreise nur aus Liebe zu ihr aufschöbe. Am folgenden Tage ging ich gleich nach dem Mittagessen nach dem Kloster, ließ mich bei M. M. melden und begab mich an das andere Sprechgitter, das eine viel bequemere Brustwehr hatte als das, woran ich sie am Tage vorher gesehen hatte.
Bald erschien M. M.; da sie sich aber meine Ungeduld wohl denken konnte, so sagte sie mir, ihre hübsche Freundin werde gleich kommen.
»Du hast ihre Phantasie entflammt! Sie hat mir alles erzählt, und sie machte dabei tausend tolle Streiche und nannte mich ihren lieben Mann. Du hast sie verführt, und ich bin sehr froh, daß du abreisest; denn ich glaube, sonst würde sie den Verstand darüber verlieren. Du wirst sehen, wie sie sich angezogen hat.«
»Bist du ihrer Verschwiegenheit sicher?«
»Ja, vollkommen; ich bitte dich nur, in meiner Gegenwart nichts mit ihr vorzunehmen. Ich werde mich entfernen, wenn ich sehe, daß der Augenblick da ist.«
»Du bist eine Göttin, liebes Herz! Aber du wärest noch mehr als das, wolltest du …«
»Ich will nichts für mich, lieber Freund, weil es nicht möglich ist.«
»Du könntest …«
»Nein; ich könnte mich bei dir nicht mit einem leeren Spiel begnügen, das ein kaum erloschenes Feuer zu neuer Glut anfachen würde. Ich habe dir schon gesagt, daß ich leide; aber laß uns niemals mehr davon sprechen!«
Plötzlich trat die junge Priesterin der Venus ein. Ihr Mund lachte, ihre Augen funkelten. Sie trug ein kurzes, vorne offenes seidenes Jäckchen und ein gesticktes Musselinröckchen, das nur bis an die Waden ging. Sie sah wie eine Sylphide aus.
Kaum hatte sie Platz genommen, so erinnerte sie mich an die Stelle, bei der ich meine Erzählung unterbrochen hatte. Ich fuhr fort, und als ich an die Szene kam, wo Donna Lucrezia mir Leonilda nackt zeigte, ging M. M. hinaus, und die kleine Spitzbübin fragte mich sofort, wie ich es angefangen hätte, um mich davon zu überzeugen, daß meine Tochter Jungfrau wäre.
Ich griff durch das unangenehme Gitter hindurch, gegen das sie ihren hübschen Leib preßte, und zeigte ihr, wie ich mir die Überzeugung hatte verschaffen können. Die Kleine fand an diesem Spiel so viel Vergnügen, daß sie nicht nur keinen Schmerz verspürte, sondern vielmehr zweimal in Verzückung geriet und mir die hilfreiche Hand drückte. Hierauf reichte sie mir die ihrige, um die Lust, die ich ihr bereitet hatte, zu vergelten. Als während dieser süßen Beschäftigung die M. M. wieder eintrat, sagte die Kleine schnell zu mir: »Das macht nichts; ich habe ihr alles gesagt. Meine Freundin ist gut; sie wird uns nicht böse sein.«
M. M. stellte sich in der Tat, wie wenn sie nichts sähe, und die frühreife Kleine trocknete ihre Hand mit einer wollüstigen Miene ab, die mir verriet, wie sehr sie mit sich selber zufrieden war. Ich fuhr in meiner Geschichte fort; als ich aber an die arme Versperrte von Turin kam und ihnen schilderte, wie ich mich vergeblich angestrengt hatte, um sie zu befriedigen, da wurde die Kleine so neugierig, daß sie sich mir in der verführerischen Stellung darbot, damit ich sie besser belehren könnte. Als M. M. mich aufstehen sah, lief sie hinaus; denn sie sah voraus, daß ich mich nicht würde enthalten können, mein ihr gegebenes Wort zu brechen.
»Knieen Sie auf die Brüstung nieder,« rief die kleine Spitzbübin, »und lassen Sie mich machen!«
Du errätst ihre Absicht, Leser! Ohne Zweifel würde es ihr ja auch gelungen sein, hätte nicht das Feuer, das mich verzehrte, meine Kraft schon an der Mündung entladen.
Die reizende Novize fühlte sich besprengt. Als sie aber bald sich von meiner Ohnmacht überzeugte, zog sie sich ein wenig verdrießlich zurück. Meine diensteifrigen Finger bemühten sich, sie zu entschädigen, und ich hatte das Glück, sie glücklich zu sehen.
Ich verließ die reizenden Mädchen, als es Nacht wurde, und versprach ihnen, in einem Jahre wiederzukommen. Als ich nach Hause ging, konnte ich mich nicht enthalten, darüber nachzudenken, wie viele Keime der Verderbnis diese Zufluchtsstätten enthalten, die man nur dem Gebet und der Sittenreinheit geweiht glaubt, und wie sehr eine oftmals ängstliche, leichtgläubige und vertrauensvolle Mutter betrogen ist, wenn sie glaubt, ihr geliebtes Kind werde in der Zelle eines Nönnchens dem bösen Beispiel des Lasters und der Verführung entrinnen, deren Einfluß sie gerade im Getriebe der Welt befürchtet hat. Hinter Schloß und Riegel werden Wünsche zu rasenden Begierden; und welche Wünsche wären heißer als diejenigen, die aus dem Liebesbedürfnis entstehen!
In meinem Gasthof verabschiedete ich mich von dem Verwundeten, der zu meiner großen Freude außer Gefahr war. Vergebens bat ich ihn, über meine Börse zu verfügen; er umarmte mich und sagte mir, er habe genug Geld bei sich und brauche übrigens nur an seinen Vater zu schreiben, um so viel zu erhalten, wie er wolle. Ich versprach ihm, in Lyon haltzumachen und Desarmoises zu veranlassen, von jeder Verfolgung abzustehen. Ich sagte ihm, er habe Verpflichtungen gegen mich, die es ihm unmöglich machen würden, sich zu weigern. Ich hielt ihm Wort.
Nachdem wir uns den Abschiedskuß gegeben hatten, führte ich seine Braut zum Souper und scherzte mit ihr bis Mitternacht. Da dies unser Abschied war, so war sie gewiß nicht zufrieden mit mir; denn ich unterhielt sie nur ein einziges Mal von meiner Zärtlichkeit; M. M.’s junge Freundin hatte mich beinahe völlig ausgepumpt.
Bei Tagesanbruch reiste ich ab. Am nächsten Tage kam ich in Lyon an, wo ich im Gasthof zum Park abstieg. Ich ließ Desarmoises zu einer Unterredung einladen und sagte ihm ohne Umschweife, die Reize seiner Tochter hätten mich verführt, ihr Liebhaber wäre ein ganz reizender, völlig ihrer würdiger Junge, und ich erwarte von seiner Freundschaft, daß er bedingungslos seine Zustimmung zu ihrer Heirat gebe. Er tat, was ich wollte, als ich ihm erklärte, ich könnte nur dann sein Freund bleiben, wenn er augenblicklich mit allem einverstanden wäre. Er gab mir in Gegenwart zweier Zeugen eine schrifliche Erklärung, die ich unverzüglich durch besonderen Boten nach Chambéry schickte.
Dieser falsche Marquis, wie es deren so viele gibt, lud mich in seine armselige Wohnung zum Essen ein. Seine jüngere Tochter hatte nichts von ihrer älteren Schwester, und seine Frau erregte mein Mitleid. Beim Weggehen wickelte ich sechs Louis in ein Stück Papier und drückte sie ihr geschickt in die Hand, ohne daß ihr Mann etwas davon merkte. Ein dankbarer Blick sagte mir, daß das Geschenk willkommen war.
Da ich nach Paris reisen mußte, gab ich Desarmoises das nötige Geld, um mit meinem Spanier nach Straßburg zu reisen, wo er mich erwarten sollte. Ich glaubte klug daran zu tun, daß ich nur Costa mitnahm; aber diesen Rat hatte mir mein böser Geist eingegeben.
Ich reiste durch das Bourbonnais, kam am dritten Tage in Paris an und stieg im Gasthof zum Heiligen Geist in der gleichnamigen Straße ab.
Bevor ich zu Bett ging, schrieb ich ein Briefchen an Madame d’Urfé und schickte es ihr durch Costa. Ich versprach, am nächsten Tage bei ihr zu Mittag zu essen. Costa war ein recht hübscher Junge; und da er schlecht französisch sprach und ein bißchen dumm war, so war ich sicher, daß Frau von Urfé ihn für ein außerordentliches Wesen halten würde. Sie antwortete mir, sie erwarte mich mit der lebhaftesten Ungeduld.
»Sage mir, Costa: Wie hat die Dame dich empfangen und wie hat sie meinen Brief gelesen?«
»Gnädiger Herr, sie hat mich durch einen Spiegel angesehen und dabei Worte gesprochen, die ich nicht verstanden habe. Hierauf ist sie dreimal um das Zimmer herumgegangen und hat dabei Räucherwerk verbrannt; dann ist sie in majestätischer Haltung auf mich zugegangen und hat mich aufmerksam betrachtet; schließlich hat sie mit sehr freundlichem Gesicht mir gesagt, ich solle im Vorzimmer auf Antwort warten.«