Ich bin in großer Gefahr, in den Lagunen zu ertrinken. – Briefe von E. E. und R. R. – Versöhnungsbeisammensein im Kasino von Murano. – Ich erfahre den Namen von R. R.s Freund und erkläre mich einverstanden, ihn und unsere gemeinsame Geliebte zum Abendessen in mein Kasino einzuladen.
Es war ein fürchterliches Wetter. Der Wind blies stark, und der Frost drang mir ins Mark der Knochen. Ich ging ans Ufer, spähte nach einer Gondel und rief die Bootführer. Doch vergebens. Den venetianischen Polizeigesetzen gemäß kann ein solcher Fall eigentlich niemals eintreten. Zwei Gondeln wenigstens müssen bei jeder Überfahrt zu allen Stunden dem Publikum bereit stehen; daß auch nicht eine Gondel anzutreffen ist, das ist fast nie der Fall. Aber heute verhielt es sich so. Kein Boot, kein Schiffer war da. Was tun? In einfache Leinwand gekleidet, konnte ich nicht gut bei solchem Wetter eine Stunde lang am Ufer herumspazieren. Hätte ich den Schlüssel gehabt, so wäre ich wahrscheinlich ins Kasino zurückgegangen; aber nun hatte ich die Strafe dafür zu leiden, daß ich ihn im Verdruß fortgegeben hatte. Der Wind riß mich beinahe fort, und ich konnte in kein Haus eintreten, um mich vor seiner Wut zu schützen.
Ich hatte in meinen Taschen Dreihundert Filippen6, die ich am Abend im Spiel gewonnen hatte, und eine Börse voll Gold.
Unter diesen Umständen mußte ich die Diebe von Murano fürchten, sehr gefährliche Halsabschneider und entschlossene Mörder, die eine Art Straflosigkeit genießen und mißbrauchen, denn sie haben mehrere Privilegien, die ihnen die Regierung bewilligt hat, um den zahlreichen Spiegelfabriken und Glasbläsereien der Insel die nötige Anzahl Arbeiter zu erhalten. Damit sie nicht auswandern, gewährt die Regierung ihnen venezianisches Bürgerrecht. Ich mußte befürchten, einigen solchen Kerlen in den Weg zu laufen, die mich zum mindesten splitternackt würden ausgezogen haben; denn zufällig hatte ich nicht einmal den kleinen Dolch bei mir, den in meiner lieben Vaterstadt alle ehrlichen Leute tragen müssen, um ihr Leben zu verteidigen.
In dieser ratlosen Stimmung glaubte ich plötzlich einen Lichtschimmer zu bemerken, der durch die Ritzen der Fensterläden eines Häuschens drang. Ich ging heran und klopfte bescheiden an den Laden. Eine Stimme ruft: »Wer klopft da?« und zugleich höre ich den Laden sich öffnen. »Was wollen Sie?« fragt mich ein Mann, ganz erstaunt über meinen Anblick. Ich sagte ihm mit ein paar Worten, in welcher Lage ich mich befände, drückte ihm zugleich einen Filippo in die Hand und bat ihn, mich eintreten zu lassen, damit ich vor dem schlechten Wetter geschützt wäre. Mein Taler wirkte jedenfalls mehr als meine Worte – genug, er öffnete mir die Tür, ich trat ein und bat ihn, indem ich ihm einen zweiten Filippo versprach, mir eine Gondel zu holen, die mich nach Venedig bringen könnte. Dem lieben Gott dankend, zog er sich in aller Eile an und entfernte sich mit der Versicherung, er würde mir sofort eine Gondel bringen. Ich blieb allein in einem armseligen Zimmer, wo seine ganze Familie in einem breiten elenden Bett lag und mit großen Augen mich und mein sonderbares Kostüm ansah. Eine halbe Stunde darauf kam der gute Mann wieder und meldete mir, die Schiffer wären am Ufer, aber sie verlangten vorherige Bezahlung. Ich erklärte mich einverstanden, gab ihm seinen Filippo, dankte ihm und ging.
Ohne Besorgnis betrat ich die Gondel, als ich zwei kräftige Schiffer sah. Leicht stießen wir vom Ufer ab, ohne daß der Wind uns hinderte. Bis San Michele ging alles gut; sobald wir aber über die Insel hinaus waren, packte uns der Sturm mit solcher Wut, daß ich mich in Lebensgefahr sah, denn obwohl ein guter Schwimmer, traute ich mir doch nicht die Kräfte zu, mich schwimmend zu retten oder der Gewalt der Strömung Widerstand leisten zu können. Ich befahl den Schiffern, unter den Schutz der Insel zurückzukehren, aber sie antworteten mir, sie seien keine Memmen und ich sollte nur ruhig sein. Mit dem Charakter unserer Gondoliere bekannt, schwieg ich. Unterdessen folgte ein starker Windstoß dem anderen; die schaumgekrönten Wellen schlugen in die Gondel hinein, und meine beiden Ruderer konnten trotz ihrer Unerschrockenheit und Stärke das Boot nicht mehr lenken. Wir waren indessen nur noch hundert Schritt von der Mündung des Rio de‘ Gesuiti entfernt, als ein wütender Windstoß den vorderen Ruderer ins Meer schleuderte; doch klammerte er sich an die Gondel an und stieg ohne große Mühe wieder ein. Er hatte das Ruder verloren und nahm ein anderes; inzwischen war aber die Gondel schon weitab zur Seite getrieben. Die Gefahr war dringend, und ich hatte keine Lust, bei Neptun zur Nacht zu speisen. Ich warf eine Handvoll Filippen auf den Boden der Gondel und befahl den Schiffern, den felce, das Verdeck der Gondel, ins Wasser zu werfen. Der Klang des Silbers sowohl wie die dräuende Gefahr bewirkten, daß sie meinem Befehl sofort gehorchten. Der Wind fand nunmehr nur noch eine geringe Angriffsfläche, und meine Schiffer bewiesen dem Gott Aeolus, daß sie stärker waren als er; denn in weniger als fünf Minuten fuhren wir in den Rio de Mendicanti ein; vor dem Palazzo Bragadino ließ ich mich absetzen. Ich ging zu Bett und deckte mich gut zu, um meine natürliche Wärme wiederzugewinnen. Aber vergebens rief ich den süßen Schlaf herbei, der mich bald wieder in meine gewöhnliche Verfassung versetzt hätte.
Fünf oder sechs Stunden später kamen Herr von Bragadino und seine beiden unzertrennlichen Freunde zu mir und fanden mich im Fieberdelirium. Trotzdem mußte mein wackerer Beschützer lachen, als er den Pierrotanzug auf dem Kanapee liegen sah. Sie wünschten mir Glück, daß ich so geschickt mich aus meiner üblen Lage befreit hätte, und ließen mich hierauf in Ruhe. Am Abend stellte sich ein so reichlicher Schweiß ein, daß man mir anderes Bettzeug geben mußte; am nächsten Tage wiederholte sich das Schwitzen, und ich phantasierte; am dritten Tage hörte das Fieber auf; ich war aber an allen Gliedern wie gelähmt und litt fürchterliche Schmerzen an einem Hexenschuß. Doch faßte ich mich in Geduld, denn ich fühlte, daß nur strenge Diät mir Erleichterung verschaffen könnte.
Am Mittwoch kam die treue Botin Laura an mein Bett. Ich sagte ihr, ich könnte weder lesen noch schreiben, und bat sie, am folgenden Tage wiederzukommen. Sie legte die Briefe, die sie für mich hatte, auf ein Tischchen neben meinem Bette und entfernte sich, nachdem ich sie genugsam unterrichtet hatte, um C. C. über meinen Zustand Bescheid sagen zu können.
Da ich mich abends ein wenig besser fühlte, befahl ich meinem Bedienten mich einzuschließen und öffnete C. C.s Brief. Das erste, was ich sah, und zwar mit großem Vergnügen sah, war der Schlüssel zum Kasino, den sie mir zurückschickte; es hatte mir bereits leid getan, daß ich ihn zurückgegeben, und es stieg in mir eine Ahnung auf, daß ich im Unrecht sein möchte. Der Anblick der Schlüssel erfrischte mir das Blut wie ein rechter Balsam. Das zweite, was mir nicht weniger angenehm war als die Rücksendung des kostbaren Schlüssels, war ein Brief von M. M., den ich begierig las, nachdem ich hastig das Siegel erbrochen hatte. Er lautete:
»Die Einzelheiten, die Sie in dem Briefe meiner Freundin gelesen haben oder lesen werden, haben, wie ich hoffe, die Wirkung, daß Sie den Fehltritt, den ich beging, vergeben und vergessen sein lassen. Ich beging ihn wahrhaftig in aller Unschuld, denn ich hoffte im Gegenteil, Ihnen die größte Freude zu bereiten. Ich habe alles gesehen und gehört, und Sie wären gewiß nicht unter Zurücklassung des Schlüssels fortgegangen, wenn ich nicht unglücklicherweise eine Stunde vor Ihrem Gehen eingeschlafen wäre. Nehmen Sie den Schlüssel wieder an sich, und kehren Sie morgen abend ins Kasino zurück, da Sie, dem Himmel sei Dank, aus dem Sturm errettet worden sind. Ihre Liebe berechtigt Sie vielleicht, sich zu beklagen, aber sie gibt Ihnen kein Recht, eine Frau zu mißhandeln, die Ihnen ganz gewiß keine Geringschätzung bezeigt hat.«
Hierauf las ich C. C.s Brief, den ich hier mitteile, weil er mir fehr interessant zu sein scheint:
»Ich bitte Dich, lieber Gatte, mir diesen Schlüssel nicht zurückzuschicken – Du müßtest denn der grausamste aller Menschen geworden sein und ein Vergnügen daran finden, zwei Frauen zu quälen, die Dich mit heißer Glut lieben, und zwar nur um Deiner selbst willen lieben. Ich kenne Dein ausgezeichnetes Herz, und darum wage ich mich der Gewißheit hinzugeben, daß Du morgen Abend ins Kasino kommen und Dich mit M. M. aussöhnen wirst, die heute Abend nicht kommen kann. Du wirst sehen, daß Du unrecht hast, lieber Freund, und daß meine geliebte Freundin, weit entfernt Dich geringzuschätzen, im Gegenteil, auf der ganzen weiten Welt nur Dich sieht. Unterdessen teile ich Dir mit, was Du noch nicht weißt und jedenfalls mit großem Interesse vernehmen wirst:
Unmittelbar nachdem Du bei dem entsetzlichen Unwetter, das mich mit der größten Angst um Dich erfüllte, fortgegangen warst, und in dem Augenblick, wo ich selber ins Kloster zurückkehren wollte, sah ich zu meiner höchsten Uberraschung meine liebe M. M. vor mir stehen. Sie hatte von einem Versteck aus jedes Wort gehört, das Du gesagt hattest. Mehrere Male war sie in Versuchung gewesen, sich zu zeigen, immer aber hatte die Furcht sie zurückgehalten, sie könnte zur unrechten Zeit erscheinen und dadurch eine Versöhnung verhindern, die nach ihrer Meinung zwischen zwei Menschen, die sich wirklich lieben, selbstverständlich ist. Zum Unglück hatte vor Deinem Fortgehen der Schlaf sie überwältigt, und sie erwachte erst vom Rasseln des Weckers, als es zu spät war, Dich zurückzuhalten, denn Du ranntest in der größten Hast davon, wie jemand, der einer großen Gefahr entfliehen will. Sobald ich sie sah, gab ich ihr den Schlüssel, den ich nicht kannte, und meine Freundin stieß einen tiefen Seufzer aus: »Ich werde dir alles erzählen, sobald wir zu Hause sind,« sagte sie. Wir fuhren in entsetzlichem Wetter heim, doch zitterten wir nur um Dich; an uns selber dachten wir kaum. Im Kloster angekommen, zog ich sofort meine gewöhnlichen Kleider wieder an, und M. M. ging zu Bett. Ich setzte mich neben ihr Kopfkissen, und nun erzählte sie mir folgendes:
»Als die Tante dich abrief und du mir den Ring zurückließest, sah ich mir diesen so genau an, bis mir schließlich das kleine Pünktchen auffiel. Ich vermutete, daß dieses die Feder verbergen möchte, und nahm eine Nadel. Der Deckel sprang auf, und ich kann dir nicht beschreiben, wie innig ich mich freute, als ich sah, daß wir denselben Mann liebten, und wie leid es mir zugleich tat, als ich daran dachte, daß ich einen Eingriff in deine Rechte getan hatte. Im ganzen jedoch war ich von meiner Entdeckung entzückt und beschloß sofort, sie dahin auszunützen, daß ich dir das Vergnügen verschaffte, mit ihm zu soupieren. Ich machte den Kasten des Ringes wieder zu und gab ihn dir zurück, indem ich tat, als hätte ich nichts entdeckt. Ich dünkte mich in diesem Augenblick die glücklichste aller Frauen. Ich kannte dein Herz; ich wußte, daß du um die Liebe deines Geliebten zu mir wußtest, denn ich hatte dir in aller Unschuld sein Porträt gezeigt; ich sah mit Entzücken, daß du nicht eifersüchtig auf mich warst. Darum wäre ich mir selber verächtlich erschienen, wenn ich andere Gefühle hätte hegen können als du, um so mehr, da du ja ganz andere Ansprüche auf ihn hattest als ich. Den Grund, warum du stets seinen Namen vor mir geheim hieltest, erriet ich leicht – es konnte nur auf seinen Befehl geschehen sein, und ich bewunderte in deiner Verschwiegenheit die Vornehmheit deiner Gefühle und die Güte deines Herzens. Ich sagte mir, daß dein Geliebter jedenfalls uns beide zu verlieren fürchtete, wenn wir entdeckten, daß keine von uns beiden sein Herz ungeteilt besäße. Ich kann dir nicht beschreiben, welchen Kummer mir der Gedanke bereitete, daß du sein Bild in meinem Besitz gesehen hättest und trotzdem in deinem Benehmen völlig die Gleiche geblieben warst, obwohl es dir nicht zweifelhaft sein konnte, daß seine Liebe nicht mehr dir allein galt. Ich hatte nur noch einen Gedanken: ich wollte euch beiden beweisen, daß M. M. eurer Zärtlichkeit, eurer Freundschaft und eurer Achtung würdig ist. Mit unbeschreiblicher Befriedigung stellte ich mir vor, wie wir alle drei noch hundertmal glücklicher sein würden; denn vor einem geliebten Wesen etwas geheim halten zu müssen, ist unerträgliche Qual. Ich schickte dich an meiner Stelle, und dies erschien mir als ein Meisterstreich. Du erlaubtest mir, dich als Nonne zu kleiden; mit einer Bereitwilligkeit, die nur in deinem schrankenlosen Vertrauen zu mir ihresgleichen hat, gingst du in mein Kasino, ohne zu wissen, wohin du gingst. Kaum warst du ausgestiegen, so kehrte die Gondel zurück, und ich begab mich in ein Versteck, das unser Freund kennt, und von wo aus ich, ohne selber gesehen zu werden, alle eure Bewegungen beobachten und jedes eurer Worte hören konnte. Ich war die Urheberin der Komödie; so war es natürlich, daß ich ihr zuschaute, um so mehr da ich überzeugt war, daß ich nur durchaus Angenehmes würde zu sehen und zu hören bekommen.
Eine Viertelstunde nach dir kam ich im Kasino an. Unmöglich kann ich dir beschreiben, wie überrascht und entzückt ich war, als ich dann den prächtigen Pierrot eintreten sah, über den wir im Besuchszimmer so herzlich gelacht hatten und den wir doch eigentlich instinktmäßig hätten erkennen sollen. Aber auf seinen ersten Anblick beschränkte sich auch alles Vergnügen, das ich gehabt habe. Furcht, Erstaunen, Unruhe begannen in demselben Augenblick, wo ich die Wirkung sah, die die getäuschte Erwartung auf ihn übte, und ich fühlte mich unglücklich. Unser Geliebter nahm die Sache krumm; verzweifelt lief er davon: er liebt mich noch, aber er denkt an mich nur noch, weil er mich zu vergessen sucht. Dies wird ihm nur zu sicher gelingen. Die Rückgabe des Schlüssels ist mir schon ein Zeichen, daß er nicht mehr ins Kasino kommen wird. O böse Nacht! Ich wollte doch nur drei Menschen glücklich machen. Wie ist es möglich, daß ich grade das Gegenteil bewirkt habe. Ich werde daran sterben, wenn es dir nicht gelingt, ihn zur Vernunft zu bringen; denn ich fühle, daß ich ohne ihn nicht leben kann. Ganz gewiß bist du in der Lage, ihm schreiben zu können; du kennst ihn, du weißt seinen Namen; bitte, schick ihm den Schlüssel zurück und schreib ihm einen Brief, der ihn dazu bewegt, morgen oder übermorgen ins Kasino zu kommen, um wenigstens noch einmal mit mir zu sprechen; ich hoffe, ihn von meiner Liebe und von meiner Unschuld zu überzeugen. Ruhe dich heute aus, liebste Freundin; morgen aber schreib ihm die volle Wahrheit. Habe Mitleid mit deiner armen Freundin und verzeih ihr, daß sie deinen Geliebten liebt. Ich werde ihm ebenfalls zwei Seiten schreiben, die du deinem Brief beischließen mußt. Ich bin schuld, daß er dich nicht mehr liebt; du müßtest mich hassen, und trotzdem bist du gütig und liebst mich noch. Ich bete dich an! Ich habe seine Tränen gesehen; ich habe gesehen, wie innig seine Seele liebt: jetzt kenne ich ihn! Ich wußte nicht, daß es Menschen gibt, die so lieben! Ich habe eine entsetzliche Nacht verbracht. Glaube nur nicht, ich zürnte dir, meine holde Freundin, darob, daß du ihm unser beider zärtliches Liebesverhältnis anvertraut hast; es ist mir durchaus nicht unangenehm, und ihm gegenüber war es nicht einmal eine Unvorsichtigkeit, denn er ist von Geist ebenso frei, wie von Herzen gut.
Tränen erstickten ihre Stimme; ich versuchte sie zu trösten und versprach ihr von Herzen gern, an Dich zu schreiben. Sie hat den ganzen Tag kein Auge zugetan, ich aber habe vier Stunden lang fest geschlafen.
Als wir aufgestanden waren, fanden wir das ganze Kloster voll von schlimmen Nachrichten, die uns näher angingen, als man glaubte. Man erzählte, eine Stunde vor Tagesanbruch sei ein Fischerboot in der Lagune untergegangen, zwei Gondeln seien gekentert und ihre Insassen ertrunken. Stelle Dir unsere Angst vor! Wir wagten keine Fragen zu stellen; aber die Stunde stimmte mit der Zeit, wo Du mich verlassen hattest, und wir zogen die allerschlimmsten Schlüsse.
Wir gingen wieder in unsere Zelle, und M. M. fiel in Ohnmacht. Ich hatte mehr Mut als sie und sagte zu ihr, Du seist ein guter Schwimmer. Aber alle meine Worte beruhigten sie nicht, und fieberschauernd mußte sie sich zu Bett legen. In dieser traurigen Verfassung befanden wir uns, als meine Tante, die überhaupt sehr lustig ist, lachend bei uns eintrat und uns erzählte, daß in dem Sturm derselbe Pierrot, über den wir so viel gelacht hatten, beinahe ertrunken wäre. ›Ach, der arme Pierrot!‹ sagte ich zu ihr; ›erzählen Sie’s uns doch, liebe Tante! Ich freue mich wirklich, daß er heil davongekommen ist. Wer ist er? Weiß man das?‹ – ›O ja,‹ antwortete sie, ›man weiß alles, denn unsere eigenen Gondoliere haben ihn nach Hause geschafft. Der eine war eben hier und erzählte uns, Pierrot wäre die Nacht auf dem Ball bei den Briatis gewesen und hätte an der Anlegestelle keine Gondel gefunden, als er nach Venedig zurückfahren wollte; unsere Schiffer fanden sich bereit, für eine Zechine ihn überzusetzen. Der Gondoliere vom Vorderteil wurde durch einen Windstoß ins Meer geschleudert; da warf der brave Pierrot ein paar Hände voll Taler auf die Zenia und schmiß den felce ins Wasser. Der Wind hatte nun wenig Angriffsfläche mehr, und sie sind glücklich durch den Bettlerkanal nach Venedig hineingekommen. Die glücklichen Schiffer haben heute morgen dreißig Filippen unter sich geteilt, die sie in der Gondel fanden, außerdem haben sie noch das Glück gehabt, auch den felce wieder aufzufischen. Pierrot wird an Murano und den Ball bei Briati denken! Der Schiffer sagt, es sei der Sohn vom Herrn von Bragadino, dem Bruder des Prokurators; sie haben ihn halb tot vor Furcht und Frost nach dem Palazzo gefahren; er hatte nämlich nur seinen Leinenanzug angehabt und keinen Mantel bei sich.‹
Als meine Tante wieder gegangen war, sahen wir uns eine Weile an, ohne ein Wort zu sprechen; aber wir fühlten, daß diese Nachricht uns das Leben wiedergab. M. M. fragte mich lächelnd, ob Du wirklich Herrn von Bragadinos Sohn seist? ›Man kann sich das,‹ antwortete ich ihr, ›als nicht unmöglich vorstellen; aber sein Name läßt nicht darauf schließen, daß er ein Bastard des Herrn Senators, und noch weniger, daß er dessen ehelicher Sohn ist; Herr von Bragadino ist nämlich niemals verheiratet gewesen.‹ – ›Es würde mir,‹ sagte M. M., »sehr leid tun, wenn er sein Sohn wäre.« Ich glaubte nun nicht mehr umhin zu können, ihr Deinen wahren Namen zu sagen und ihr zu erzählen, welche Schritte Herr von Bragadino bei meinem Vater getan, um Dir meine Hand zu verschaffen, und daß ich eben infolge dieses Schrittes ins Kloster gesteckt worden wäre. So hat nun also, mein Herzallerliebster, Deine kleine Frau M. M. gegenüber keine Geheimnisse mehr, und ich hoffe, Du machst mir nicht den Vorwurf mangelhafter Verschwiegenheit; denn es ist besser, unsere liebe Freundin weiß die ganze Wahrheit, als daß sie ein Gemisch von Wahrheit und Lügen kennt. Sehr spaßhaft haben wir, wie Du Dir denken kannst, es gefunden, daß man ganz genau weiß, daß Du die Nacht auf dem Ball im Palazzo Briati gewesen bist. Wenn die Leute nicht alles wissen, erfinden sie was, und da tritt denn oft das Wahrscheinliche an Stelle des Wahren, und zuweilen kommt das sogar sehr gelegen. Wahr ist, daß diese Nachricht für unsere Freundin ein Balsam war; sie befindet sich jetzt vollkommen wohl. Sie hat eine sehr gute Nacht verbracht, und die Hoffnung, Dich im Kasino zu sehen, hat ihr ihre ganze Schönheit wiedergegeben. Sie hat diesen Brief drei oder viermal gelesen und mich stürmisch abgeküßt. Ich kann es kaum erwarten, ihr die Antwort zu geben, die Du ihr schreiben wirst. Die Botin wird darauf warten. Vielleicht werde ich Dich noch einmal im Kasino sehen, und ich bin überzeugt, dann wirst Du bei besserer Laune sein.«
Es bedurfte so vieler Worte gar nicht, um mich zur Vernunft zu bringen. Als ich mit dem Lesen des Briefes fertig war, betete ich C. C. an und betete M. M. glühend an. Aber ach, ich war kreuzlahm, obwohl ich kein Fieber mehr hatte. Da ich sicher war, daß Laura am anderen Morgen in aller Frühe wiederkommen würde, so konnte ich es mir nicht versagen, an beide zu schreiben. Ich schrieb zwar nur wenig, aber doch genug, um ihnen die Gewißheit zu geben, daß über mein armes Hirn wieder die Vernunft herrschte. An C. C. schrieb ich, sie hätte ganz recht getan, ihrer Freundin meinen Namen zu sagen, um so mehr, da ich nicht mehr zu ihnen zur Messe käme und daher keinen triftigen Grund hätte, meinen Namen noch länger zu verhehlen. Im übrigen möchte sie überzeugt sein, daß ich mein ganzes Unrecht einsehe und daß ich M. M. vollgültigste Beweise dafür geben würde, sobald ich nur wieder imstande wäre, ihr Kasino aufzusuchen. An meine anbetungswürdige Nonne aber schrieb ich folgenden Brief:
»Ich hatte C. C. den Schlüssel zu Deinem Kasino zurückgelassen, damit sie ihn Dir übergebe, meine reizende Freundin; ich tat es, weil ich glaubte, ich sei gefoppt, sei von dem angebeteten Wesen absichtlich mit Verachtung behandelt worden. In diesem Irrtum befangen, hielt ich mich für unwürdig, Dir wieder vor Augen zu treten, und ich zitterte vor Entsetzen trotz aller meiner Liebe. So wirkte auf mich eine Handlungsweise, die mir bewunderungswürdig erschienen wäre, wenn nicht meine Eitelkeit mir die Augen verblendet oder vielmehr gradezu meine Vernunft über den Haufen geworfen hätte. Mein Geist hätte auf gleicher Höhe mit dem Deinen stehen müssen, angebetete Freundin, und ich habe die Erfahrung gemacht, daß dies nicht der Fall ist. Ich stehe in allem hinter Dir zurück – nur nicht an Leidenschaft, und davon werde ich Dich bei unserem ersten Wiedersehen überzeugen, indem ich Dich auf den Knien um großmütige Verzeihung bitten werde. Glaube mir, wundervolles Weib: wenn ich mich so heiß nach Genesung sehne, so geschieht es nur, um durch verdoppelte Liebe Dir zu beweisen, wie sehr ich mich meines Unrechts schäme. Nur die Schmerzen des Kreuzwehs haben mich verhindert, schon gestern Dein Briefchen zu beantworten, Dir mein Bedauern auszusprechen und Dir meine Liebe zu schwören, die Deine so schlecht von mir belohnte Hochherzigkeit nun zu verdoppelter Glut angefacht hat. Glaube mir, im Wogenschwall, im Augenblick des dräuenden Todes, galt mein Gedanke nur Dir, bedauerte ich weiter nichts, als daß ich Dich gekränkt hatte. Aber in dem Unglück, das mich bedrohte, angebetetes Weib, sah ich nur eine gerechte Strafe für mein Unrecht. Hätte ich nicht schnöderweise Dir den Schlüssel zum Kasino zurückgeschickt, so wäre ich zweifelsohne umgekehrt, und dann wäre mir die Strafe für meine Verfehlung und der Schmerz, den ich zum Lohn für meine Schuld erleiden muß, erspart geblieben. Ich danke Dir tausendmal, daß Du mich wieder zu mir selber gemacht hast; verlaß Dich drauf, in Zukunft werde ich besser auf meiner Hut sein; nichts wird mich in Zukunft dahin bringen können, je an Deiner Zärtlichkeit zu zweifeln. Aber was, angebetete Freundin, sagst Du zu C. C.s Benehmen? Ist sie nicht ein Engel in Menschengestalt, der nur in Dir seinesgleichen hat? Du liebst uns alle beide, und liebst uns mit gleicher Liebe. Nur ich bin schwach und unvollkommen, und ihr macht mich über mich selber erröten. Und doch fühle ich, daß ich für sie wie für Dich ohne Zögern mein Leben dahin geben würde. Mich plagt eine Neugier, die ich nicht dem Papier anzuvertrauen wage, die Du aber befriedigen mußt, sobald ich das Glück habe, Dich wiederzusehen. Ich werde froh sein können, wenn ich in acht Tagen imstande bin, ins Kasino zu kommen, das diesmal ein Sühnetempel für uns sein wird. Ich werde Dir zwei Tage vorher Bescheid geben. Einstweilen sei so freundlich, ein bißchen an mich zu denken und niemals an meiner zärtlichen Liebe zu zweifeln. Lebe wohl!«
Als am nächsten Morgen Laura zu mir kam, saß ich im Bett aufrecht und war auf dem Wege der Besserung. Ich bat sie, C. C. mündlich zu sagen, daß es mir viel besser gehe; dann gab ich ihr den von mir geschriebenen Brief und erhielt dafür einen von meiner kleinen Frau, der einen anderen von M. M. als Beischluß enthielt. In diesen beiden Briefen stand weiter nichts als zärtliche Schwüre, Äußerungen der Besorgnis wegen meiner Gesundheit und heiße Wünsche baldiger Genesung.
Nach sechs Tagen war ich wieder gesund; ich ging ins Kasino von Murano, und die Hausbesorgerin gab mir einen Brief von M. M. Sie schrieb, sie stürbe vor Ungeduld, mich wieder hergestellt und im Besitze ihres Kasinos zu wissen, das ich stets als mein Eigentum zu betrachten hätte. »Bitte, bitte, teile mir mit, wann Du wohl glaubst, daß wir uns wiedersehen können, einerlei, ob in Murano oder in Venedig; hierüber hast nur Du zu bestimmen. Verlaß Dich drauf, daß wir auch in Murano keinen Zeugen haben werden.«
Ich antwortete ihr, wir würden uns am übernächsten Tage wiedersehen, und zwar im Kasino, von wo aus ich schreibe; denn an demselben Orte, wo ich sie gekränkt hätte, müßte ich ihre liebreiche Absolution empfangen.
Ich brannte vor Verlangen sie wiederzusehen, denn ich schämte mich, daß ich ungerecht gegen sie hatte sein können, und ich wollte mein Unrecht gerne recht bald wieder gut machen. Wenn ich mir den Fall ruhig überlegte, schien es mir nach meiner Kenntnis ihres Charakters offenbar, daß ihre Handlungsweise nicht nur kein Zeichen von Mißachtung war, sondern im Gegenteil ein raffinierter Beweis einer Liebe, der einzig und allein nur mir galt. Seitdem sie entdeckt hatte, daß ich der Liebhaber ihrer jungen Freundin war, konnte sie doch nicht mehr annehmen, daß ich nur sie liebte. Wie ihre Liebe zu mir sie nicht verhinderte, dem Gesandten gefällig zu sein, so nahm sie an, ich konnte es wohl mit C. C. ebenso machen. Sie dachte nicht an die verschiedene Anlage der beiden Geschlechter und die Vorrechte, deren die Frauen genießen.
Heute, da die Jahre meine Haare gebleicht und die Glut meiner Sinne abgetötet haben, läßt meine ruhiger gewordene Phantasie mich anders denken. Ich fühle wohl, daß meine schöne Nonne gegen die Scham und Bescheidenheit sündigte, die der schönste Schmuck der schöneren Hälfte des Menschengeschlechtes sind. Aber wenn diese wahrhaft einzige oder zum mindesten doch seltene Frau mit diesem Makel behaftet war, der mir damals als Tugend galt, so war sie jedenfalls frei von jenem abscheulichen Gift, das man Eifersucht nennt – eine unselige Leidenschaft, die den mit ihr behafteten unglücklichen Menschen verzehrt und den anderen, der sie hervorruft, und über den sie sich ergießt, mit ins Unglück reißt.
Zwei Tage darauf, am 4. Februar 1754, hatte ich das Glück, zum erstenmal wieder mit meinem Engel allein zu sein. Sie trug ihre Nonnenkleider. Da wir uns beide schuldig fühlten, stürzten wir unwillkürlich gleichzeitig voreinander auf die Knie. Wir hatten beide gegen Gott Amor gesündigt – sie, indem sie ihn als ein Bübchen behandelte, ich, indem ich ihn wie ein Jansenist anbetete. Aber in welcher Sprache konnten wir die Entschuldigungen vorbringen, die wir uns aussprechen mußten? Konnten wir Verzeihung erbitten und gewähren? Der Kuß, diese stumme und doch so ausdrucksvolle Sprache, diese zarte und wonnevolle Berührung, die das Gefühl durch alle Adern jagt, die gleichzeitig die Empfindungen des Herzens und die Gedanken des Geistes ausspricht! Diese Sprache war die einzige, deren wir uns bedienten und ach, wie bald waren wir einig! Ungeduldig, uns die Aufrichtigkeit unserer Reue zu beweisen und das uns verzehrende Feuer zu löschen, standen wir auf dem Höhepunkte unserer zärtlichen Rührung endlich auf, ohne unsere Verschlingung zu lösen, und sanken auf das nahe Sofa. Dort lagen wir, bis zwei lange Seufzer sich lösten, die wir nicht hätten zurückhalten mögen, selbst wenn wir gewußt hätten, daß es der letzte sein müßte.
So vollzog sich die glückliche Versöhnung. Die Ruhe, mit der das Bewußtsein der Befriedigung die Seele erfüllt, hatte sozusagen unser Glück verdoppelt, und wir lachten alle beide laut auf, als wir bemerkten, daß ich noch in Mantel und Maske war. Nachdem wir genug gelacht hatten, demaskierte ich mich und fragte sie, ob unsere Versöhnung wahrhaftig keinen Zeugen gehabt hätte.
Sie nahm einen Armleuchter, ergriff meine Hand und sagte: »Komm mit!« Sie führte mich in die Kammer vor den großen Schrank, in dem ich bereits den Bewahrer des großen Geheimnisses vermutet hatte. Sie öffnete ihn und schob ein Brett zur Seite. Ich sah eine Tür vor uns, und durch diese betraten wir ein hübsches Kabinett, das mit allem ausgestattet war, was jemand, der mehrere Stunden darin verbringen wollte, nötig haben konnte. Über dem Sofa befand sich ein bewegliches Brett. M. M. schob es zur Seite, und durch zwanzig Löcher, die in kurzen Entfernungen nebeneinander angebracht waren, überblickte ich alle Teile des Zimmers und überzeugte mich, daß der neugierige Freund meiner Schönen in aller Bequemlichkeit die sechs Akte des Schauspiels hatte ansehen können, welches Natur und Liebe ihm bereitet hatten. Und ich denke, er wird mit den Schauspielern nicht unzufrieden gewesen sein.
»Und nun«, sagte M. M., »will ich auch deine Neugierde befriedigen, die du vorsichtigerweise nicht dem Papier anvertraut hast.«
»Aber du kannst doch gar nicht wissen …«
»Schweig, liebes Herz; die Liebe wäre nicht göttlich, wenn sie nicht zu ahnen wüßte: sie weiß alles! Ist es denn nicht wahr, daß du zu wissen wünschest, ob nicht in der verhängnisvollen Nacht, die mir so viele Tränen gekostet hat, mein Freund bei mir war?«
»Ganz recht.«
»Nun, also ja! Er war da, und du darfst deshalb nicht böse sein, denn er ist jetzt ganz und gar entzückt von dir. Er hat deinen Charakter, deine Liebe, deine Gefühle und deine Rechtschaffenheit bewundert. Er konnte nicht schweigen vor Erstaunen über die Richtigkeit meines instinktiven Gefühls, und er billigt vollkommen die Leidenschaft, die du mir eingeflößt hast. Er selber tröstete mich am Morgen, indem er mir versicherte, es sei unmöglich, daß du nicht zu mir zurückkehrtest, sobald ich dir meine Gefühle, die Lauterkeit meiner Absicht und meinen guten Glauben klargelegt hätte.«
»Aber ihr müßt oft eingeschlafen sein, denn ohne selber ein lebhaftes Interesse zu haben, kann man unmöglich acht Stunden im Dunkeln verbringen, ohne ein Wort zu sprechen.«
»Das lebhafteste Interesse hielt uns wach. Übrigens saßen wir nur dann im Dunkeln, wenn die Gucklöcher offen waren. Während wir zu Nacht speisten, war das Brett wieder vorgeschoben und wir hörten im tiefsten Schweigen alle eure Worte. Die Teilnahme, die meinen Freund wach hielt, übertraf, wenn das möglich ist, noch die, die ihr mir einflößtet. Er sagte mir, er habe nie zuvor eine solche Gelegenheit gehabt, das menschliche Herz zu studieren, du hättest gewiß noch niemals eine so schmerzliche Nacht verbracht. Du tatest ihm leid. Von C. C. waren wir entzückt. Es ist unbegreiflich, wie ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren mich so geschickt nur mit den Hilfsmitteln der Natur und der Wahrheit verteidigen konnte. Sie muß eine Engelsseele haben. Wenn du sie heiratest, wirst du eine göttliche Frau haben. Ihr Verlust wird mich unglücklich machen, aber dein Glück wird mich für alles entschädigen. Weißt du, lieber Freund: ich begreife nicht, wie du dich in mich hast verlieben können, da du sie kanntest, und ich begreife nicht, daß sie mich nicht verabscheut, seitdem sie weiß, daß ich ihr dein Herz geraubt habe! Meine C. C. hat wirklich etwas Erhabenes in ihren Gefühlen. Und weißt du, warum sie dir von unseren harmlosen Liebesscherzen erzählt hat? Es geschah, wie sie mir sagte, um ihr Gewissen von den Vorwürfen zu entlasten, die sie sich machte, weil sie in gewisser Weise dir untreu war.«
»Glaubt sie mir volle Treue zu schulden, da sie doch weiß, daß ich so wenig treu bin?«
»Sie ist außerordentlich zartfühlend und gewissenhaft; sie hält sich vollständig für deine Gattin und glaubte nicht das Recht zu haben, deinen Handlungen nachzuspüren, dagegen ist sie überzeugt, daß sie dir über jeden ihrer Schritte Rechenschaft abzulegen schuldig ist.«
»Edles Mädchen!«
Die umsichtige Hausbesorgerin hatte das Essen aufgetragen, und wir setzten uns zu Tisch. M. M. bemerkte nur, ich sei mager geworden.
»Körperliche Leiden machen nicht fett,« antwortete ich ihr, »und seelische Schmerzen dörren den Menschen aus. Aber wir haben beide jetzt genug gelitten, und wir müssen vernünftig sein und dürfen keine Erinnerungen wachrufen, die uns Kummer machen können.«
»Ja, lieber Freund, ich denke wie du, die Augenblicke, die der Mensch dem Unglück oder Leiden einräumen muß, werden ihm am Leben abgezogen, aber man verdoppelt sein Dasein, wenn man die Gabe besitzt, das Vergnügen jeder Art zu vervielfältigen.«
Wir erheiterten uns mit der Erinnerung an die überstandenen Gefahren, an Pierrots Mummenschanz, an den Ball bei Briati, wo, wie man ihr erzählt halte, ein anderer Pierrot gewesen war. M. M. bewunderte die erstaunliche Wirkung der Verkleidung; »denn«, sagte sie, »der Pierrot vom Sprechzimmer kam mir größer und schlanker vor als du. Hättest du nicht zufällig die Klostergondel genommen und hättest du nicht den seltsamen Einfall gehabt, dich als Pierrot zu verkleiden, so hätte ich niemals erfahren können, wer du bist; denn meine Mitnonnen würden sich nicht für dein Schicksal interessiert haben. Ich war hocherfreut, als ich vernahm, daß du kein Nobile bist, wie ich befürchtet hatte; denn, wenn du es wärest, könnte mir auf die Länge der Zeit doch ein sehr schlimmes Mißgeschick zustoßen.«
Ich wußte sehr gut, was sie zu befürchten hatte, aber ich stellte mich unwissend und sagte zu ihr: »Ich begreife nicht, was du könntest zu befürchten haben, wenn ich zum Adel gehörte.«
»Mein lieber Freund, ich kann darüber mit dir nicht offen reden, wenn du mir nicht dein Wort gibst, daß du das tun wirst, worum ich dich bitten will.«
»Was könnte mich verhindern, Geliebte, dir jeden Wunsch zu erfüllen – vorausgesetzt, daß er nicht meiner Ehre zu nahe tritt? Haben wir jetzt nicht alles gemein? Sprich, mein Herz! Sage mir deine Gründe und rechne auf meine zärtliche Liebe; sie bürgt dir dafür, daß ich alles tun werde, was dir Freude machen kann.«
»Nun gut. Ich lade mich und meinen Freund bei dir in deinem Kasino zum Essen ein. Er stirbt vor Verlangen, dich kennen zu lernen.«
»Und nach dem Essen? Da wirst du wohl mit ihm gehen?«
»Du begreifst gewiß, daß dies aus Schicklichkeitsrücksichten der Fall sein muß.«
»Und dein Freund weiß ohne Zweifel bereits, wer ich bin?«
»Ich glaubte es ihm sagen zu müssen; denn sonst hätte er nicht gewagt, auf das Vergnügen zu hoffen, mit dir und zumal in deinem Kasino zu speisen.«
»Jetzt hab ich’s! Ich errate, daß dein Freund einer von den fremden Gesandten ist!«
»Ganz recht.«
»Aber ich darf doch gewiß hoffen, daß er mir die Ehre erweisen wird, sein Inkognito abzulegen?«
»Das versteht sich von selbst. Ich werde dich in aller Form vorstellen und dir dabei seinen Namen und Rang nennen.«
»Das ist ja herrlich, liebes Herz! Und konntest du unter solchen Umständen wirklich glauben, ich würde dir Schwierigkeiten machen, während du doch in Wirklichkeit mir selber gar kein größeres Vergnügen bereden könntest? Bestimme den Tag und glaube mir, ich werde ihn mit Ungeduld erwarten.«
»Ich wäre deines Einverständnisses sicher gewesen, wenn du mich nicht an Zweifel gewöhnt hättest.«
»Ich verdiene diese Spitze.«
»Über die du aber doch hoffentlich nur lachen wirst. Unser Freund ist der französische Gesandte, Herr de Bernis. Er wird maskiert kommen, und sobald er die Maske abgenommen hat, stelle ich dich vor. Bedenke, daß du natürlich wissen mußt, daß er mein Liebhaber ist, daß du aber scheinbar glauben mußt, er wisse von unserem zärtlichen Einverständnis nichts.«
»So will es der Anstand. Du wirst, hoffe ich, mit meiner Weltgewandtheit zufrieden fein. Dieses Souper bezaubert mich in dem bloßen Gedanken daran, und ich hoffe, in Wirklichkeit wird es mich noch mehr entzücken. Du hattest vollkommen recht, liebe Freundin, wenn der Gedanke, ich könnte Patrizier sein, dir Furcht einflößte, denn in diesem Fall würden die Herren Staatsinquisitoren, die gar zu oft ihren Eifer nur zur Schau tragen, unfehlbar sich eingemischt haben, und ich zittre bei dem Gedanken, was für entsetzliche Folgen dies hätte nach sich ziehen können. Ich wäre unter die Bleidächer gekommen, du wärest entehrt gewesen. Die Abrissin, das Kloster – gerechter Himmel! Ja, wenn du mir deine Befürchtungen mitgeteilt hättest, dann hätte ich dir gesagt, wer ich bin; dies konnte ich um so eher tun, da meine Zurückhaltung nur darin begründet lag, daß ich glaubte, ich könnte erkannt werden und C. C.s Vater würde sie alsdann in ein anderes Kloster bringen lassen. Aber kannst du mir sagen, an welchem Tage das Abendessen stattfinden soll? Ich bin wirklich ungeduldig, dies zu erfahren.«
»Heute haben wir den vierten – nun, dann also in vier Tagen!«
»Am achten also?«
»Ja. Nach dem zweiten Ballett werden wir zu dir kommen. Beschreibe mir alles ganz genau, damit wir dein Kasino finden können, ohne jemanden fragen zu müssen.«
Ich setzte mich an ihren Schreibtisch und schrieb genau auf, wie sie zu Lande und zu Wasser mein Kasino erreichen konnten. Glücklich über die Aussicht auf diese reizende Partie, bat ich meine Geliebte, sich zu Bett zu legen. Aber ich machte sie darauf aufmerksam, daß ich noch in der Genesung wäre und daher möglicherweise meine ersten Huldigungen nicht Amor, sondern Morpheus darbringen würde. Sich in die Umstände schickend, stellte sie den Wecker auf zehn Uhr, und wir legten uns in das Bett, das im Alkoven stand. Als wir erwachten, verlangte Amor seinen Teil, und er hatte sich nicht zu beklagen. Aber gegen Mitternacht schliefen wir mitten im Werk ein, Mund an Mund gepreßt. In dieser selben Stellung fanden wir uns am Morgen, als der Augenblick der Trennung da war. Aber obwohl die Zeit drängte, konnten wir uns doch nicht entschließen, uns Lebewohl zu sagen, ohne noch einmal der Venus ein Opfer darzubringen.
Ich blieb nach dem Fortgehen meiner schönen Nonne im Kasino und schlief bis zum Mittag. Nachdem ich mich angekleidet hatte, fuhr ich sofort nach Venedig, und mein erstes Geschäft war, meinem Koch genaue Weisungen zu geben, damit das Souper am achten meiner und meiner Gäste würdig wäre.