Die schöne Kranke wird von mir geheilt. – Komplott gegen mich. – Die junge Gräfin Bonafede. – Die Erberia. – Haussuchung. – Gespräch mit Herrn Bragadino. – Ich werde auf Befehl der Staatsinquisitoren verhaftet.
Ich ging zum Herrn von Bragadino zum Abendessen und bereitete dadurch dem würdigen und großmütigen Greise einen angenehmen Abend. So war es immer; ich machte ihn und seine beiden tugendhaften Freunde glücklich, so oft ich meine Mahlzeiten mit ihnen einnahm.
Ich verließ sie frühzeitig und ging nach Hause, wo ich zu meiner großen Überraschung den Balkon meines Schlafzimmers besetzt fand. Eine junge Dame von schönstem Wuchs stand auf, als sie mich sah, und bat mich mit seinem Anstand um Verzeihung für die Freiheit, die sie sich genommen hätte.
»Ich bin«, sagte sie mir, »die Statue von heute früh. Wir zünden abends der Mücken wegen keine Kerzen an; aber wenn Sie zu Bett gehen wollen, werden wir die Fenster schließen und gehen. Hier stelle ich Ihnen meine jüngere Schwester vor; meine Mutter ist bereits zu Bett.«
Ich antwortete ihr, der Balkon stände stets zu ihren Diensten, und da es noch früh am Abend wäre, so bäte ich sie, meinen Schlafrock anziehen und ihnen Gesellschaft leisten zu dürfen. Ihre Unterhaltungsgabe war reizend; sie bereitete mir zwei angenehme Stunden und blieb bis Mitternacht bei mir. Ihre junge Schwester zündete mir eine Kerze an; hierauf machten sie mir eine Verbeugung und entfernten sich, indem sie mir gute Nacht wünschten.
Die Phantasie ganz von dem schönen Mädchen erfüllt, ging ich zu Bett; es wollte mir gar nicht in den Sinn, daß sie wirklich krank sein sollte. Sie unterhielt sich lebhaft und fröhlich; sie war gebildet, geistvoll und von angenehmen Manieren. Wenn ihre Krankheit wirklich nur durch das Mittel, das Righellini als das einzige bezeichnet hatte, geheilt werden konnte, so begriff ich nicht, daß sie in einer Stadt wie Venedig nicht längst geheilt worden war; denn trotz ihrer Blässe schien sie mir sehr würdig zu sein, einen Liebhaber zu fesseln, und sie war nach meiner Meinung zu klug, als daß sie sich nicht hätte entschließen sollen, in dieser oder jener Form das angenehmste Mittel zu nehmen, das die medizinische Fakultät überhaupt vorschreiben kann.
Am anderen Morgen klingelte ich, weil ich aufstehen wollte; die jüngere Schwester trat ein und sagte mir, sie hätten im Augenblick kein Dienstmädchen, daher würde sie mir besorgen, was ich brauchte. Ich ließ mir außerhalb des Palazzo Bragadino nicht gerne von meinem Bedienten aufwarten, weil ich so größere Freiheit hatte. Nachdem das junge Mädchen eine kleine Handreichung gemacht hatte, fragte ich sie, wie es ihrer Schwester ginge.
»Sehr gut; ihre Bleichsucht ist keine Krankheit, und sie hat nur dann Beschwerden, wenn der Atem ihr ausgeht. Sie hat sehr guten Appetit und schläft ebenso ausgezeichnet wie ich.«
»Was ist das für ein Violinspiel, das ich da höre?«
»Das ist der Tanzmeister, der meiner Schwester Unterricht gibt.«
Ich zog mich schnell fertig an und ging hin, um sie mir anzusehen. Ihr Gesicht war von einem rosigen Hauch belebt, und ich fand sie reizend, obgleich ihr alter Lehrer sie mit eingebogenen Füßen tanzen ließ. Dem schönen Mädchen fehlte nur der Funke des Prometheus – die Farbe des Lebens. Ihre Blässe erinnerte zu sehr an den Schnee, sie tat dem Auge weh.
Der Tanzlehrer bat mich, mit seiner Schülerin ein Menuett zu tanzen, und ich willigte ein, indem ich ihn bat, larghissimo zu spielen. Er meinte, dies würde die Signora zu sehr anstrengen; aber sie antwortete ihm schnell, sie wäre durchaus nicht so schwach und würde sehr gerne so tanzen. Sie tanzte sehr gut; schließlich aber mußte sie sich in einen Lehnstuhl werfen.
»In Zukunft, mein lieber Ma[:e]stro,« sagte sie zu dem alten Herrn, »will ich nur noch larghissimo tanzen, denn ich glaube, diese schnelle Bewegung wird mir gut tun.«
Als der Lehrer fort war, sagte ich zu ihr, ihre Lektionen seien zu kurz und ihr Lehrer lasse ihre schlechten Angewohnheiten durchgehen. Nun rückte ich ihr Füße, Schultern und Arme zurecht, zeigte ihr, wie sie anmutig die Hand zu reichen und die Knie nach dem Takt zu beugen hätte, mit einem Wort, ich gab ihr eine Stunde lang Unterricht in aller Form. Als ich sie ein wenig ermüdet sah, bat ich sie, sich zu setzen, und ging aus, um M.M. einen Besuch zu machen.
Ich fand diese sehr traurig, denn C.C.s Vater war gestorben, und man hatte meine frühere Geliebte aus dem Kloster genommen, um sie mit einem Advokaten zu verheiraten. Beim Abschied hatte C.C. einen Brief für mich zurückgelassen, worin sie mir schrieb: wenn ich ihr versprechen wollte, sie zu heiraten, sobald ich dazu in der Lage wäre, würde sie auf mich warten und jeden anderen Antrag ablehnen. Ich antwortete ihr ohne Umschweife, ich hätte keine Stellung und auch keine Aussichten; ich ließe ihr daher volle Freiheit und riete ihr sogar, einen Bewerber, von dem sie glaubte, daß er sie glücklich machen könnte, nicht zurückzuweisen.
Trotzdem heiratete C.C. einen gewissen N** erst nach meiner Flucht aus den Bleikammern, als niemand mehr hoffen konnte, mich wieder in Venedig zu sehen; ich sah sie erst neunzehn Jahre später wieder, und ich hatte den Schmerz, sie als unglückliche Witwe zu finden. Wenn ich jetzt in Venedig wäre, würde ich sie nicht heiraten, denn in meinem Alter ist eine Ehe eine Schamlosigkeit; aber ganz gewiß würde ich mit ihr das Bißchen, was ich habe, teilen und würde mit ihr wie mit einer zärtlich geliebten Schwester leben.
Manche Frauen nennen die Männer treulos und beschuldigen sie der Unbeständigkeit. Wenn ich sie bei solchen Gelegenheiten versichern höre, die Männer versprächen ihnen ewige Treue, nur in der Absicht, sie zu täuschen, so gebe ich ihnen recht und stimme gern in ihre Klagen ein. Aber in Wirklichkeit kann keine Frau dies behaupten; denn in dem Augenblick, indem man liebt, verspricht man im allgemeinen nur, was das Herz einem eingibt; infolgedessen kommen diese Klagelieder mir im allgemeinen nur komisch vor. Leider lieben wir nur, ohne die Vernunft zu befragen, und wenn wir aufhören zu lieben, hat die Vernunft ebensowenig damit zu tun.
Um diese Zeit erhielt ich einen Brief vom Abbé de Bernis; gleichzeitig hatte er auch an M. M. in demselben Sinne geschrieben. Er sagte mir, ich müßte mir die größte Mühe geben, unsere Nonne zur Vernunft zu bringen, und schilderte mir im einzelnen alle Gefahren, die damit verbunden wären, wenn ich sie entführte und mit ihr nach Paris ginge; denn all sein Einfluß könnte uns dort nicht die Sicherheit verbürgen, ohne welche man nicht auf Glück hoffen dürfte. Ich ging zu M. M., und wir tauschten unsere Briefe aus; sie weinte bittere Tränen und ihre Traurigkeit schnitt mir ins Herz. Das unglückliche reizende Weib flößte mir wirklich die innigste Teilnahme ein. Ich empfand noch immer eine heiße Liebe zu ihr, obgleich ich ihr tagtäglich untreu war. Wenn ich an jene glänzenden Augenblicke dachte, wo ich sie in den Verzückungen der Wollust gesehen hatte, konnte ich sie nur beklagen und ihr Schicksal bedauern; denn ich mußte an die Tage der Verzweiflung denken, die ihr noch bevorstanden.
Als ich eines Tages sie besuchte, sagte sie zu mir: »Man hat heute eine Nonne begraben, die vorgestern an der Schwindsucht gestorben ist. Sie war erst achtundzwanzig Jahre alt und stand im Geruch der Heiligkeit. Sie hieß Maria Concetta. Sie kannte dich und sagte C. C. deinen Namen, als du damals an den Feiertagen bei uns die Messe hörtest. C. C. glaubte sie um Verschwiegenheit bitten zu müssen, aber die Nonne sagte ihr, du seiest ein sehr gefährlicher Mensch, vor dem ein junges Mädchen sich in acht nehmen müsse. C. C. erzählte mir dies alles, als nach der Pierrot-Maskerade dein Name bekannt wurde.«
»Wie hieß diese Heilige, als sie noch in der Welt lebte?«
»Martha?«
»Jetzt verstehe ich.«
Ich erzählte nun M. M. die ganze Geschichte meiner Liebschaft mit Nannetta und Martina, bis zu dem Brief, den diese mir zuletzt geschrieben und worin sie mir gesagt hatte, sie verdanke unmittelbar mir die ewige Seligkeit, die sie zu erwerben hoffe.
Mit der Tochter meiner Wirtin unterhielt ich mich jeden Abend auf dem Balkon, und unsere Gespräche dauerten fast immer bis nach Mitternacht; ebenso regelmäßig gab ich ihr jeden Morgen eine Stunde Tanzunterricht. In acht oder zehn Tagen traten zwei Wirkungen ein, die allerdings nicht wohl ausbleiben konnten. Erstens hatte sie keine Anfälle von Atemnot mehr; zweitens verliebte ich mich in sie. Das natürliche Heilmittel hatte sich noch nicht eingestellt, aber es war doch nicht mehr nötig, ihr die Ader zu schlagen. Righellini machte nach wie vor seine Besuche; als er sah, wie sie sich immer mehr erholte, prophezeite er ihr, daß sie noch vor dem Herbst jener Wohltat der Natur teilhaftig sein würde, ohne die das Leben nur künstlich aufrecht erhalten werden könnte. Ihre Mutter sah in mir einen Engel vom Himmel, den der liebe Gott ihr gesandt hätte, um ihre Tochter gesund zu machen, und diese empfand eine Dankbarkeit, von der bei einem Weibe zur Liebe nur ein Schritt ist. Ich hatte sie veranlaßt, ihren alten Tanzmeister zu entlassen, und hatte eine sehr geschickte Tänzerin aus ihr gemacht.
Als ich am zehnten oder zwölften Tage ihr gerade ihre Lektion geben wollte, blieb ihr plötzlich der Atem fort, und sie sank wie tot in meine Arme. Ich bekam einen heftigen Schreck; ihre Mutter aber, die daran gewöhnt war, sie in solchem Zustande zu sehen, ließ sofort den Bader holen, und ihre Schwester schnürte ihr das Mieder auf. Die Festigkeit ihres Busens, der keiner Farbe bedurfte, um vollendet schön zu sein, entzückte mich. Ich bedeckte ihr die Brust, indem ich ihr sagte, der Chirurg würde die Ader nicht richtig treffen, wenn er sie so entblößt sehe. Als sie aber fühlte, daß ich voll Entzückens meine Hand auf ihrem Busen liegen ließ, stieß sie mich sanft zurück und sah mich dabei mit einem sterbenden Blick an, der auf mich den tiefsten Eindruck machte.
Der Bader kam und öffnete ihr eine Ader am Arm. Fast augenblicklich kam sie wieder zur Besinnung. Ihr waren höchstens vier Unzen Blut abgezapft worden; als nun ihre Mutter mir sagte, daß man ihr niemals mehr abzöge, sah ich, daß das Wunder nicht so groß war, wie Righellini behauptete: denn indem er ihr auf diese Weise zweimal wöchentlich zur Ader ließ, zapfte er ihr jeden Monat drei Pfund Blut ab: dies war die Blutmenge, die sie auf natürliche Weise verloren haben würde, wenn nicht die Gefäße verstopft gewesen wären. Die Natur, die stets auf ihre Erhaltung bedacht ist, bedrohte sie mit dem Tode, wenn man nicht so schnell wie möglich durch ein künstliches Mittel das Gleichgewicht wieder herstellte.
Kaum war der Wundarzt fort, so sagte sie mir zu meinem großen Erstaunen: wenn ich einen Augenblick im Saal warten wollte, würde sie gleich kommen, um zu tanzen. Sie kam wirklich und tanzte, wie wenn gar nichts vorgefallen wäre.
Ihr Busen, dessen Schönheit zwei meiner Sinne sicher bezeugen konnten, hatte mich vollends entflammt. Mit Einbruch der Nacht kam ich wieder nach Hause und fand sie mit ihrer Schwester in ihrem Zimmer. Sie sagte mir, sie erwarte ihren Paten, der ein intimer Freund ihres Vaters gewesen sei und seit achtzehn Iahren jeden Abend eine Stunde bei ihnen verbringe.
»Wie alt ist er?«
»Uber die fünfzig hinaus.«
»Ist er verheiratet?«
»Ia; es ist der Graf Securo. Er liebt mich wie ein zärtlicher Vater, mit derselben zärtlichen Liebe, die er mir zeigte, als ich noch ein Kind war. Auch seine Frau kommt zuweilen und lädt mich zum Essen ein. Nächsten Herbst werde ich mit ihr aufs Land gehen, und ich hoffe, die gute Luft, die man dort atmet, soll mir gut tun. Mein Pate weiß, daß Sie bei uns wohnen, und ist damit einverstanden. Er kennt Sie nicht, aber wenn Sie wünschen, werden Sie seine Bekanntschaft machen.«
Ihre Mitteilung machte mir Vergnügen, denn ich wurde dadurch in alles eingeweiht, ohne daß ich indiskrete Fragen zu stellen brauchte. Die Freundschaft des griechischen Grafen war offenbar eine Art Liebe. Er war der Mann der Gräfin S., die mich zwei Iahre vorher in das Kloster Murano eingeführt hatte.
Ich fand den Grafen sehr höflich. Er dankte mir in väterlichem Tone für die Freundschaft, die ich seinem Patenkinde widmete, und bat mich, ihm das Vergnügen zu machen, am nächsten Tage mit ihm in seinem Hause zu speisen; er würde die Ehre haben, mich seiner Frau vorzustellen. Ich nahm die Einladung mit Vergnügen an; denn ich liebte Theateraffekte, und mein Zusammentreffen mit der Gräfin versprach mir einen sehr interessanten. Die Einladung war ein Zeichen von vornehmer Gesinnung, und meine schöne Schülerin war sehr erfreut, als ich nach dem Fortgehen des Grafen ihr sein Lob sang.
»Mein Pate«, sagte sie mir, »hat alle erforderlichen Dokumente in den Händen, um sich von dem Hause Persico das Erbgut meiner Familie, das sich auf 40000 Silberdukaten beläuft, ausbezahlen zu lassen. Der vierte Teil dieser Summe gehört mir, und meine Mutter hat meiner Schwester und mir versprochen, ihren Anteil unter uns zu teilen.«
Ich sah also, daß das Mädchen dem Manne, der sie heiraten würde, 15000 venetianische Silberdukaten mitbrachte.
Ich erriet, daß das junge Mädchen durch ihr Vermögen mein Interesse erregen und daß sie mich verliebt machen wollte, indem sie mit ihren Gunstbezeigungen geizte; denn als ich mir einige Freiheiten erlaubte, verwies sie mir diese mit einem Tadel, worauf ich nicht zu antworten wagte. Aber ich nahm mir vor, sie auf andere Gedanken zu bringen.
Am anderen Tage begleitete ich sie zu ihrem Paten, ohne ihr vorher zu sagen, daß ich die Gräfin bereits kannte. Ich glaubte, die Dame werde tun, wie wenn sie mich nicht kenne; aber ich irrte mich, denn sie empfing mich auf das freundlichste wie einen alten Bekannten. Dies überraschte offenbar den Grafen, aber er war zu sehr Weltmann, um sich seine Überraschung merken zu lassen. Immerhin fragte er sie, wo sie meine Bekanntschaft gemacht habe, und sie antwortete ihm mit weiblicher Schlagfertigkeit ohne die mindeste Verlegenheit, wir hätten uns vor ein paar Jahren auf der Mira gesehen. Damit war dies erledigt, und wir verbrachten den Tag in fröhlicher Geselligkeit.
Gegen Abend nahm ich eine Gondel und fuhr mit dem Fräulein nach Hause. Um die Sache zu beschleunigen, erlaubte ich mir einige Liebkosungen. Es ärgerte mich, daß sie mir mit Vorwürfen darauf antwortete, und ich stieg daher nicht mit ihr aus, sondern fuhr weiter zu Tonina, bei der ich fast die ganze Nacht zubrachte, da der Gesandte erst sehr spät kam. Am anderen Morgen stand ich sehr spät auf, und es gab daher keine Tanzstunde; als ich sie nachher deshalb um Entschuldigung bitten wollte, sagte sie mir, ich möchte mir nur ja keinen Zwang antun. Am Abend saß ich bis tief in die Nacht hinein auf dem Balkon ; aber die Schöne kam nicht. Diese zur Schau getragene Gleichgültigkeit ärgerte mich; ich stand am anderen Morgen in aller Frühe auf, ging aus und kam erst nachts nach Hause. Sie war auf dem Balkon, aber ich hielt mich in respektvoller Entfernung und machte nur gleichgültige Bemerkungen. Am Morgen weckte mich ein lauter Lärm; ich stand auf, zog in aller Eile meinen Schlafrock an und lief in ihr Zimmer, um zu sehen, was es gäbe: ich fand sie sterbend. Ich brauchte nicht zu heucheln, um ihr Teilnahme zu bezeugen, denn ich empfand solche von ganzem Herzen. Wir waren im Anfang des Juli, die Hitze war sehr stark, und meine schöne Kranke war nur von einem dünnen Bettuch bedeckt. Sie konnte nur mit ihren Augen zu mir sprechen; aber in diesen lag, trotz ihrer Erschöpfung, etwas so Zärtliches! Ich fragte sie, ob sie Herzklopfen habe; gleichzeitig legte ich meine Hand auf ihr Herz, und meine Lippen drückten einen heißen Kuß auf ihre Brust. Dies war der zündende Funke: ihr Mund stieß einen Seufzer aus, der ihr wohl tat. Sie hatte nicht die Kraft, meine Hand wegzustoßen, die ich liebend auf ihr Herz preßte. Hierdurch ermutigt, drücke ich meine glühenden Lippen auf ihren sterbenden Mund, erwärme sie mit meinem Atem, und meine kecke Hand gleitet bis an das Heiligtum des Glücks. Sie machte eine Anstrengung, um mich zurückzustoßen. Ihre Stimme konnte nicht sprechen, aber ihr Auge sagte mir, wie tief sie sich beleidigt fühlte.
Ich zog meine Hand zurück, und im selben Augenblick trat der Wundarzt ein. Kaum war die Ader geöffnet, so atmete sie wieder, und als die Operation fertig war, wollte sie aufstehen. Ich bat sie, im Bett liegen zu bleiben, und ihre Mutter schloß sich mir an. Endlich gelang es mir, sie zu überreden, indem ich ihr sagte, ich würde keinen Augenblick von ihr gehen und würde mir mein Essen an ihr Bett bringen lassen. Sie zog nun ein Mieder an und bat ihre Schwester, eine Taffetdecke über sie zu breiten, denn man sah sie wie durch einen Kreppschleier hindurch.
Nachdem ich mein Essen bestellt hatte, setzte ich mich neben ihr Bett, ergriff ihre Hand und bedeckte diese mit Küssen. Ich sagte ihr, ich wüßte bestimmt, daß sie genesen würde, wenn sie lieben könnte.
»Ach!« seufzte sie, »wen könnte ich wohl lieben, da ich doch nicht sicher bin, wiedergeliebt zu werden.«
Ich ließ mir dieses Stichwort nicht entgehen und bestürmte sie mit galanten Worten, auf die mir ein leiser Seufzer und ein verstohlener liebender Blick antworteten. Ich legte meine Hand auf ihr Knie und bat sie, sie möchte mir erlauben, sie dort liegen zu lassen; dafür versprach ich ihr, nicht mehr verlangen zu wollen. Allmählich aber näherte ich mich dem Mittelpunkt und suchte ihr ein angenehmes Gefühl zu bereiten.
»Oh, lassen Sie mich!« sagte sie voll Gefühl, indem sie sich zugleich zurückzog. »Vielleicht ist gerade das die Ursache meiner Krankheit.«
»Nein, meine Freundin, nein!« sagte ich feurig zu ihr; »das kann nicht sein!« Und mein Mund erstickte auf ihren Lippen den Einwand, den sie mir machen wollte.
Ich war innerlich entzückt, denn dieses Geständnis öffnete mir den Weg, und ich sah den Augenblick des Glückes nahe; ich fühlte mich sicher, sie heilen zu können, wenn der Doktor sich nicht über die Natur des Heilmittels täuschte. Ich schonte ihr Schamgefühl, indem ich mich unbescheidener Fragen enthielt; aber ich erklärte ihr meine Liebe, indem ich ihr versprach, nichts von ihr zu verlangen, als was sie selber für angebracht halten würde, um meiner Zärtlichkeit neue Nahrung zu geben.
Man trug mir ein sehr gutes Essen auf, dem auch sie alle Ehre antat; hierauf sagte sie mir, sie fühle sich vollständig wohl; sie stand auf, und ich kleidete mich zum Ausgehen an. Als ich am Abend früh nach Hause kam, fand ich sie auf meinem Balkon. Ich saß ihr ganz dicht gegenüber, und wir beide sprachen nur mit Blicken und Seufzern. Indem ich begehrende Blicke über ihre Reize schweifen ließ, die durch Phoebes Licht noch anziehender wurden, teilte ich ihr die Glut mit, die mich verzehrte. Ich drückte sie liebend gegen meine Brust, und sie machte mich mit so viel Feuer und Hingebung glücklich, daß sie offenbar mehr eine Gunst zu empfangen, als mir eine zu gewähren glaubte. Ich vollzog das Opfer, ohne den Altar mit Blut zu beflecken.
Als ihre Schwester kam und ihr sagte, es sei schon spät, antwortete sie ihr: »Geh zu Bett; die frische Nachtluft tut mir wohl, ich will sie noch ein wenig genießen.« Als wir allein waren, gingen wir zu Bett, wie wenn wir es seit Iahr und Tag so gewohnt wären. Wir verbrachten eine köstliche Nacht: mich belebte die Liebe und der Wunsch, sie gesund zu machen, sie aber die glühendste Wollust und die zärtlichste Dankbarkeit. Mit Tagesanbruch stand sie auf und ging in ihr Schlafzimmer, um sich in ihrem eigenen Bett auszuruhen, nachdem sie mich noch einmal mit tiefem Gefühl und unter Freudentränen umarmt hatte. Ich hatte ebenso wie sie Ruhe nötig, und infolgedessen fiel die Tanzstunde aus. Obgleich das reizende Mädchen im Augenblick des Genusses zu besinnungsloser Verzückung fortgerissen wurde, ließ ich doch nicht einen Augenblick die Vorsicht außer acht. Drei Wochen hintereinander hatten wir die köstlichsten Nächte, und ich hatte das Glück, sie völlig geheilt zu sehen. Ohne Zweifel würde ich sie geheiratet haben, wenn mir nicht gegen Ende desselben Monats ein Unglück zugestoßen wäre.
Du wirst dich, lieber Leser, eines satirischen Roman es vom Abbate Chiari erinnern, den Herr Murray mir gegeben hatte; der Verfasser hatte mich darin ziemlich schlecht behandelt. Dieser Abbate Chiari war nicht besser oder vielleicht noch schlechter als seine meisten Kollegen. Ich hatte keinen Anlaß, mit ihm zufrieden zu fein, und hatte mich in diesem Sinne so offen ausgesprochen, daß der Herr Abbate Angst vor einer Tracht Prügel hatte und sich sehr in acht nahm. Etwa um diese Zeit bekam ich einen anonymen Brief. Man schrieb mir: anstatt an eine Züchtigung des Abbate zu denken, täte ich viel besser, an mich selber zu denken, denn ich würde von einem nahen Unglück bedroht. Man muß anonyme Briefschreiber verachten, aber man muß sich die Ratschläge, die man auf solche Art erhält, zuweilen zunutze zu machen wissen. Ich tat das nicht, und das war sehr unrecht von mir.
Um diese Zeit machte ein gewisser Manuzzi meine Bekanntschaft, indem er sich erbot, mir Diamanten auf Kredit zu verschaffen, was mich veranlaßte, ihn in meiner Wohnung zu empfangen. Er war früher Steinschneider und jetzt Spion und Werkzeug der Staatsinquisitoren, im übrigen mir völlig unbekannt. Bei seinem Besuch sah er mehrere Bücher, die in meinem Zimmer herumlagen, unter anderen auch Handschriften, die von Magie handelten. Dummerweise machte seine Überraschung mir Spaß, und ich zeigte ihm meine Bücher, die den Verkehr mit den elementaren Geistern betrafen. Meine Leser werden wohl so freundlich sein, mir zu glauben, daß ich an die Wissenschaft dieser alten Scharteken nicht im geringsten glaubte; aber ich hatte sie und belustigte mich daran, wie man sich eben an den tausend Dummheiten belustigt, die aus hohlen Köpfen entsprungen sind. Einige Tage darauf kam der Verräter wieder und sagte mir, ein Neugieriger, den er mir nicht nennen könne, sei bereit, mir tausend Zechinen für meine fünf Bücher zu geben, aber er wolle sie vorher sehen, um zu wissen, ob sie echt seien. Da er sich verpflichtete, sie mir binnen vierundzwanzig Stunden zurückzubringen, und ich mir im Grunde gar nichts aus ihnen machte, vertraute ich sie ihm an. Er brachte sie mir wirklich am anderen Tage zurück, sagte mir aber, der Liebhaber halte sie für gefälscht. Einige Jahre später habe ich erfahren, daß er sie zum Sekretär der Staatsinquisitoren gebracht hatte, die auf diese Weise erfuhren, daß ich ein großer Zauberer wäre.
In diesem verhängnisvollen Monat traf alles zusammen, um mich zu vernichten: Frau Memmo, die Mutter der Herren Andrea, Bernardo und Lorenzo Memmo, hatte sich in den Kopf gesetzt, daß ich ihre Söhne zum Atheismus verführte. Sie wandte sich an den alten Ritter Antonio Mocenigo, den Oheim des Herrn von Bragadino. Dieser konnte mich nicht leiden, weil ich nach seiner Behauptung seinen Neffen mit Hilfe meiner Kabbala verführt hätte. Die Sache war ernst und ein Auto da F[‚e] sehr wohl möglich, denn hier kam das heilige Officium in Betracht, und das ist eine Art von wildem Tier, mit dem man besser nichts zu tun hat. Da es ihm doch schwierig war, mich in die geistigen Gefängnisse der heiligen Inquisition einsperren zu lassen, so entschloß man sich, den Fall vor die Staatsinquisitoren zu bringen, und diese übernahmen es, einstweilen einmal Erkundigungen über meinen Lebenswandel einzuziehen.
Antonio Condulmer, mein Feind in seiner Eigenschaft als Freund des Abbaten Chiari, war damals roter Staatsinquisitor; er benutzte die Gelegenheit, um mich als Störer der öffentlichen Ordnung hinzustellen. Ein Gesandtschaftssekretär, den ich einige Jahre später kennen lernte, hat mir erzählt, ein bezahlter Angeber und zwei Zeugen, die jedenfalls im Solde des gestrengen Tribunals standen, hätten mich angeklagt, nur an den Teufel zu glauben – wie wenn ein solcher alberner Glaube, falls er überhaupt existieren konnte, nicht mit Notwendigkeit den Glauben an Gott zur Voraussetzung hätte! Die drei Ehrenmänner versicherten unter ihrem Eide: wenn ich im Spiel verlöre, hörte man mich niemals Verwünschungen gegen den Teufel ausstoßen, während doch in solchem Augenblick alle gläubigen Christen zu fluchen pflegten. Außerdem wurde ich beschuldigt, ich äße alle Tage Fleisch, ginge nur an den hohen Feiertagen zur Messe und stände in dringendem Verdacht, der Freimaurerei anzugehören. Außerdem verkehre ich mit fremden Gesandten, und da ich mit drei Patriziern znsammenwohne, so sei es sicher, daß ich ihnen alle möglichen Staatsgeheimnisse entlocke und diese für das viele Geld verkaufe, das man mich verlieren sehe.
Diese Beschuldigungen, von denen keine einzige begründet war, dienten dem gestrengen Tribunal als Vorwand, um mich als Feind des Vaterlandes und Verschwörer ersten Ranges zu behandeln. Seit mehreren Wochen wurde mir von Personen, denen ich hätte Vertrauen schenken müssen, der Rat gegeben, eine Reise ins Ausland zu machen, weil das Tribunal sich mit mir beschäftige. Dies besagte schon genug; denn in Venedig können nur die in Frieden leben, deren Existenz dem furchtbaren Gerichtshof unbekannt ist. Ich schlug jedoch starrköpfig alle Warnungen in den Wind. Wenn ich auf die Winke gemerkt hätte, die man mir gab, so wäre ich unruhig gewesen, und ich war ein Feind jeder Unruhe. Ich sagte mir: ich habe keine Gewissensbisse, also bin ich auch nicht schuldig, und wenn ich unschuldig bin, brauche ich keine Furcht zu haben.
Ich war ein Dummkopf: so konnte wohl ein freier Mensch denken, aber in Venedig gab es keine freien Menschen.
Was mich, ich kann es nicht leugnen, außerdem zum großen Teil davon abhielt, an ein mögliches Unglück zu denken, war das wirkliche Unglück, das mich Tag und Nacht verfolgte. Ich verlor Tag für Tag; ich hatte überall Schulden; ich hatte alle meine Kostbarkeiten versetzt, sogar meine Tabaksdosen, aus denen ich allerdings vorsichtigerweise die Porträts herausgenommen hatte. Diese hatte ich meiner Freundin, Frau Manzoni, anvertraut, die mir auch meine wichtigen Papiere und meine Liebesbriefe aufbewahrte. Ich bemerkte, daß man mir auswich. Ein alter Senator sagte mir eines Tages, man wisse, daß die junge Gräfin Bonafede infolge eines ihr von mir eingegebenen Liebestrankes wahnsinnig geworden sei. Sie war noch im Hospital und in ihren Wahnsinnsanfällen rief sie unter Verwünschungen unaufhörlich meinen Namen. Ich muß meinen Lesern diese Geschichte kurz erzählen:
Diese junge Gräfin Bonafede, der ich wenige Tage nach meiner Rückkehr nach Venedig einige Zechinen geschenkt hatte, wünschte mich zu veranlassen, ihr noch weitere Besuche zu machen, weil sie daraus großen Nutzen gezogen haben würde. Sie belästigte mich mit ihren Briefen, und ich hatte sie noch mehrere Male besucht und jedesmal einige Zechinen dortgelassen; ich hatte mich jedoch, mit Ausnahme des erstenmals, niemals dazu herbeigelassen, zärtlich mit ihr zu sein. Dann waren schon ein Jahr lang alle ihre Versuche an meiner Gleichgültigkeit abgeprallt. Da verfiel sie auf einen verbrecherischen Plan, dessen ich sie allerdings niemals habe überführen können, den ich ihr jedoch mit Fug und Recht zuschreiben darf.
Sie schrieb mir einen Brief und bat mit hübschen Worten, sie wegen einer wichtigen Angelegenheit zu einer bestimmten Stunde zu besuchen. Aus Neugier, sowohl wie im Wunsch, ihr nützlich zu sein, ging ich hin; sobald sie mich eintreten sah, fiel sie mir um den Hals und sagte, die wichtige Angelegenheit sei die Liebe. Ich lachte herzlich darüber, und es gefiel mir, daß sie reinlicher war; denn infolgedessen kam sie mir auch hübscher vor. Sie brachte das Gespräch auf unsere Erlebnisse im Fort Sant André und wußte mich so lebhaft anzuregen, daß ich Lust bekam, ihren Wunsch zu erfüllen. Ich legte meinen Mantel ab und fragte sie, ob ihr Vater zu Hause sei. »Er ist ausgegangen,« antwortete sie. Ich mußte einen Augenblick hinausgehen; als ich zurückkam, irrte ich mich in der Tür und betrat das Nebenzimmer, wo ich zu meiner Überraschung den Grafen und zwei sehr übelaussehende Burschen erblickte.
»Mein lieber Graf,« sagte ich zu ihm, »Ihre Tochter sagte mir soeben, Sie seien nicht zu Hause.«
»Diesen Auftrag habe ich ihr gegeben, weil ich mit den Herren hier ein Geschäft abzumachen habe; ich werde es indessen an einem anderen Tage erledigen.«
Ich wollte gehen, aber er schickte die beiden Menschen fort und behielt mich zurück. Er sagte mir, er sei entzückt, mich zu sehen, und begann dann mir die Geschichte von all seinem Elend zu erzählen – denn dieses war mehr als von einer Art. Die Staatsinquisitoren hatten ihm die bescheidene Pension entzogen, die er bis dahin gehabt hatte; er sah die Aussicht vor sich, mit seiner Familie auf die Straße gesetzt zu werden und um das tägliche Brot betteln zu müssen. Er sagte mir, er habe seit drei Jahren seinem Hauswirt nichts geben können; aber wenn er ihm nur ein Vierteljahr bezahlen könnte, so würde er einen Aufschub erhalten. Sollte jedoch der Hauswirt trotzdem darauf bestehen, so würde er während der Nacht ausrücken und anderswo eine Wohnung nehmen. Da es sich nur um zwanzig Dukaten Kurant handelte, zog ich sechs Zechinen aus der Tasche und gab sie ihm. Er umarmte mich unter Freudentränen, nahm seinen armseligen Mantel, rief seine Tochter, sagte ihr, sie möchte mir Gesellschaft leisten, und ging.
Als ich mit der Gräfin allein war, untersuchte ich die Verbinddungstür zu dem Zimmer, worin ich vorhin mit ihr gewesen war, und entdeckte, daß sie nur angelehnt war.
»Ihr Vater«, sagte ich zu ihr, »würde mich überrascht haben, und es läßt sich ja leicht erraten, was er und die beiden Sbirren, die bei ihm waren, getan haben würden. Das Komplott liegt klar zutage, und ich bin ihm nur durch einen sehr glücklichen Zufall entgangen.«
Sie leugnete, weinte, schwor bei Gott und allen Heiligen, warf sich auf die Knie. Ich wandte den Kopf ab, nahm meinen Mantel und ging, ohne ein Wort zu sagen. Sie schrieb mir fortwährend Briefe, aber diese blieben unbeantwortet, und ich ging nicht mehr zu ihr. Es war im Sommer; die Hitze, die Leidenschaft, der Hunger und das Elend verdrehten ihren Kopf: sie wurde wahnsinnig und lief eines Tages um die Mittagsstunde nackt auf den Petersplatz und bat die Leute, die sie anhielten, sie möchten sie zu mir führen.
Diese elende Geschichte wurde in der ganzen Stadt herumgebracht und bereitete mir viel Verdruß. Man sperrte die arme Unglückliche ein, und sie bekam erst fünf Jahre später ihre Vernunft wieder. Als sie aus dem Spital entlassen wurde, sah sie sich in die traurige Notwendigkeit versetzt, auf den Straßen zu betteln. Dasselbe Los hatten alle ihre Brüder, mit Ausnahme des ältesten, den ich zwölf Jahre später als gewöhnlichen Kadetten in der Garde des Königs von Spanien in Madrid wiederfand. Zu der Zeit, von der ich jetzt erzähle, war die Geschichte mit der jungen Gräfin schon ein Jahr alt; da aber für die bösen Absichten meiner Feinde auch ein bißchen zuviel nicht schaden konnte, so grub man die Geschichte aus der Vergessenheit wieder aus und schmückte sie mit Aufgebot aller Phantasie auf das schönste aus. So zogen sich immer schwerer die Wolken zusammen, aus denen der zerschmetternde Blitz auf mich hernieder fahren sollte.
Im Juli 1755 erteilte das furchtbare Tribunal dem Messer-Grande den Befehl, sich meiner Person lebend oder tot zu versichern. So lautete die wilde Formel aller Verhaftbefehle von dem gestrengen Triumvirat; denn der geringste seiner Befehle enthält die Androhung der Todesstrafe für den Übertreter.
Drei oder vier Tage vor meinem Namenstage, dem Jakobstag, schenkte M. M. mir mehrere Ellen Silberspitzen, um damit einen Taffetrock zu besetzen, den ich zu meinem Namenstage zum erstenmal anziehen wollte. Ich besuchte sie in meinem schönen neuen Anzug und sagte ihr, ich würde am nächsten Tage wiederkommen und sie bitten, mir Geld zu leihen; denn ich wußte nicht mehr, was ich anfangen sollte, um welches aufzutreiben. Sie besaß noch die fünfhundert Zechmen, die sie beiseite gelegt hatte, als ich ihre Diamanten verkaufte.
Da ich sicher war, am nächsten Tage Geld zu bekommen, spielte ich die ganze Nacht hindurch und verlor fünfhundert Zechinen auf Wort. Mit Tagesanbruch fühlte ich das Bedürfnis, mich zu beruhigen, und ging nach der Erberia am Großen Kanal, der die Stadt durchfließt. Es ist der Gemüse-, Obst- und Blumenmarkt.
An jedem einigermaßen schönen Morgen gehen viele Mitglieder der guten Gesellschaft auf der Erberia spazieren. Sie tun dies angeblich, um das Vergnügen zu haben, die Hunderte von Kähnen ankommen zu sehen, die mit Gemüsen, Obst und Blumen von den zahlreichen Inseln in der Nachbarschaft der Stadt kommen; aber jedermann weiß, daß es lauter junge Herren und Damen sind, die die Nacht mit den Freuden der Liebe oder der Tafel verbracht, oder die durch Unglück oder Unvorsichtigkeit und Spiel ihre letzte Hoffnung verloren haben: diese kommen hierher, um eine freiere Luft zu atmen und ihre Erregung zu besänftigen. Daß man an diesem Spaziergang Gefallen findet, beweist, wie sehr der Charakter einer Nation sich ändern kann. Die Venezianer von einst, die ebenso geheimnisvoll in ihrer Galanterie wie in ihrer Politik waren, sind von den Modernen verdrängt worden, die gerade daran Geschmack finden, daß sie alles vor der Öffentlichkeit betreiben. Die Kavaliere, die in Gesellschaft von Damen dorthinkommen, wollen den Neid ihrer Kameraden erregen, indem sie ihre Liebeserfolge zur Schau stellen. Wer allein kommt, fucht etwas zu entdecken oder andere eifersüchtig zu machen. Die Damen kommen eigentlich nur, um sich sehen zu lassen; ihnen ist es ganz recht, wenn alle Welt erfährt, daß sie sich nicht genieren. Übrigens kann an diesem Ort von Koketterie nicht die Rede sein, denn die Kleider sind oft in bösem Zustand. Es sieht fast so aus, als hätten sich die Damen verabredet, recht unordentlich zu erscheinen, um dadurch den Zuschauern Stoff zu allerhand Mutmaßungen zu geben. Die Kavaliere, an deren Armen sie erscheinen, geben durch unordentlichen Anzug und nachlässige Haltung zu erkennen, daß die Galanterie gegen Damen eigentlich veraltet und lästig sei: man soll in der unordentlichen Kleidung ihrer Begleiterinnen ein Zeichen ihres Triumphes erblicken. Kurz, es ist sozusagen guter Ton, bei diesem Morgenspaziergang recht abgespannt auszusehen, wie wenn man es sehr nötig hätte, sich zu Bett zu legen.
Diese wahrheitsgetreue Beschreibung wird dir, mein lieber Leser, keinen sehr hohen Begriff von den Sitten meiner Landsleute geben; aber warum sollte ich in meinem Alter nicht die Wahrheit sagen? Übrigens liegt Venedig ja nicht am anderen Ende der Welt; es ist ein recht bekannter Ort, den die meisten Fremden besuchen, die die Neugier nach Italien lockt, und ein jeder kann sagen, ob meine Schilderungen übertrieben sind.
Nachdem ich eine halbe Stunde auf der Erberia herumspaziert war, ging ich nach Hause. Da ich glaubte, alles liege noch im Bett, zog ich meinen Schlüssel aus der Tasche, um die Haustür zu öffnen; aber zu meiner großen Überraschung erwies sich dies als überflüssig, denn die Tür war offen und noch dazu das Schloß erbrochen. Ich ging nach oben, trat ein und fand die Damen außer Bett. Meine Wirtin erging sich in bitteren Klagen. »Messer-Grande«, sagte sie mir, »ist mit einer Bande von Sbirren gekommen und mit Gewalt in mein Haus eingedrungen. Er hat das unterste zu oberst gekehrt, um, wie er sagte, einen Koffer voll Salz zu suchen.« Das Salzschmuggeln war streng verboten. Er wußte, daß am Tage vorher von einer Gondel ein Koffer gebracht worden war. Dies war auch richtig, aber dieser Koffer gehörte dem Grafen Securo und enthielt nur Wäsche und Kleider. Nachdem Messer-Grande diesen Koffer gesehen, war er gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte auch mein Zimmer durchsucht. Sie sagte mir, sie verlange unbedingt eine Genugtuung. Damit hatte sie meiner Meinung nach recht, und ich versprach ihr, noch an demselben Tage mit Herrn von Bragadino darüber zu sprechen.
Da ich sehr ruhebedürftig war, legte ich mich zu Bett; aber eine innere Unruhe, die ich dem im Spiel erlittenen Verlust zuschrieb, verhinderte mich am Einschlafen. Darum stand ich nach drei oder vier Stunden auf und ging zu Herrn von Bragadino. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und bat ihn, nachdrücklich eine eklatante Genugtuung zu fordern. Ich trug ihm lebhaft die Gründe vor, warum meine ehrenwerte Wirtin eine Genugtuung wünschte, die der Beleidigung angemessen war; denn die Gesetze mußten doch jeder Familie von untadelhafter Aufführung ihre Ruhe verbürgen.
Meine Rede machte die drei Freunde sehr traurig, und der weise Greis sagte mir mit ruhiger aber nachdenklicher Miene, er würde mir nach Tische antworten.
De la Haye speiste mit uns, aber er sprach während der ganzen Mahlzeit, die sehr traurig verlief, nicht ein einziges Wort. Sein Schweigen hätte mir bedeutsam erscheinen müssen, wenn ich nicht unter der Herrschaft eines bösen Geistes gestanden wäre, der mich verhinderte, von meiner gewöhnlichen Vernunft Gebrauch zu machen.
Die Traurigkeit meiner drei Freunde schrieb ich der Freundschaft zu, die sie für mich empfanden.
Meine Verbindung mit diesen drei ehrwürdigen Herren war stets für die ganze Stadt ein Gegenstand der Verwunderung gewesen. Alle waren sich darüber einig, daß die Sache nicht mit richtigen Dingen zugehen konnte, und so mußte denn irgendeine Zauberei im Spiel sein. Die drei Herren waren über alle Maßen tugendhaft und fromm: ich dagegen war nichts weniger als fromm, und es gab in Venedig keinen entschiedeneren Wüstling als mich.
»Die Tugend«, sagte man, »kann wohl nachsichtig gegen das Laster sein, aber sie kann nicht ein Bündnis mit ihm schließen.«
Nach dem Essen nahm Herr von Bragadino mich und seine beiden Freunde, die bei solchen Anlässen nicht fehlen durften, mit sich in sein Arbeitszimmer. Er sagte mir sehr ruhig: statt an Rache für den Schimpf zu denken, den Messer-Grande dem Hause angetan hätte, worin ich wohnte, sollte ich lieber darauf bedacht sein, mich in Sicherheit zu bringen.
»Der Koffer voll Salz oder Gold ist nur ein Vorwand, mein lieber Freund; ohne Zweifel suchte man dich und glaubte dich zu finden. Da dein Schutzgeist es so gefügt hat, daß man dich verfehlte, so rette dich; morgen wird vielleicht keine Zeit mehr dazu sein. Ich bin acht Monate Staatsinquisitor gewesen und kenne den Stil, in welchen das Tribunal bei Verhaftungen verfährt. Man schlägt keine Türen ein, um einen Koffer voll Salz zu suchen. Vielleicht hat man gar gewußt, daß du nicht zu Hause warst, und ist deshalb hingegangen, um dir Zeit zur Flucht zu geben. Glaube meinem Rat, mein lieber Sohn: Fahre augenblicklich nach Fusina und reise von dort so schnell wie möglich nach Florenz. Dort bleibe, bis ich dir schreibe, daß du ohne Gefahr zurückkehren kannst. Solltest du kein Geld haben, so werde ich dir einstweilen hundert Zechinen geben. Sei vernünftig! Die Klugheit verlangt, daß du sofort abfährst.«
In meiner Verblendung antwortete ich ihm, ich sei mir keiner Schuld bewußt und könne daher das Tribunal nicht fürchten; folglich könne ich auch seinen Rat nicht befolgen, obgleich ich diesen als sehr weise anerkenne.
»Das gestrenge Tribunal«, antwortete er mir, »kann dich schuldig finden, ohne dir darüber Rechenschaft abzulegen. Frage dein Orakel, ob du meinen Rat befolgen sollst oder nicht!«
Diese Mühe ersparte ich mir, weil ich die Lächerlichkeit meines Orakels am besten selber erkannte; doch sagte ich meinem Vater, um meine Weigerung zu mildern, ich befrage mein Orakel nur, wenn ich im Zweifel wäre. Endlich führte ich als letzten Grund an, durch meine Abreise würde ich ein Zeichen von Furcht geben und dadurch mich schuldig bekennen; denn ein Unschuldiger könne keine Gewissensbisse und folglich vernünftigerweise auch keine Furcht haben.
Ich sagte zu ihm: »Wenn Schweigen die Seele des gestrengen Tribunals ist, so wird es Ihnen nach meiner Abreise unmöglich sein, zu erfahren, ob ich gut oder schlecht daran getan habe, die Flucht zu ergreifen. Dieselbe Vorsicht, die nach der Meinung Eurer Exzellenz mir abzureisen gebietet, wird mich verhindern, zurückzukehren. Soll ich also meiner Vaterstadt und allem, was mir teuer ist, auf ewig Lebewohl sagen?
Nun machte er noch einen letzten Versuch und bot alles auf, um mich zu überreden, zum mindesten den Tag und die nächste Nacht in seinem Palazzo zu verbringen. Ich schäme mich noch heute, dem würdigen Greis, dem ich so viel Liebe und Dankbarkeit schuldete, diese Bitte abgeschlagen zu haben; denn der Palast eines Patriziers ist für die Häscher geheiligt; sie würden niemals wagen, die Schwelle eines solchen ohne ausdrücklichen Befehl des Tribunals zu überschreiten, und solcher Befehl wird niemals gegeben. Ich wäre also einem großen Unglück entgangen und hätte dem würdigen alten Herrn einen tiefen Kummer erspart.
Ich war gerührt, als ich Herrn von Bragadino weinen sah, und vielleicht hätte ich seinen Tränen doch noch gewährt, was ich seinen Bitten und Vernunftgründen hartnäckig verweigert hatte.
»Ich bitte Sie,« rief ich aus, »ersparen Sie mir den herzzerreißenden Anblick Ihrer Tränen!« Sofort nahm er alle seine Kraft zusammen. Er machte nur noch einige nebensächliche Bemerkungen, dann umarmte er mich mit einem Lächeln der Güte und sagte zu mir: »Vielleicht, mein Freund, ist es mir nicht mehr beschieden, dich zu sehen; aber Fata viam inveniunt – das Schicksal weist den Weg.«
Ich umarmte ihn zärtlich und ging. Seine Voraussage traf ein, denn ich habe ihn nicht wiedergesehen; er starb elf Jahre darauf.
Ich ging durch die Straßen, ohne die geringste Furcht zu empfinden, aber ich machte mir große Sorgen um meine Schulden. Ich hatte nicht den Mut, nach Murano zu gehen und M. M. ihre letzten fünfhundert Zechinen abzunehmen, die ich dann sofort an den Herrn hätte bezahlen müssen, der sie während der letzten Nacht mir abgewonnen hatte. Ich zog es vor, ihn um acht Tage Frist zu bitten, und ich tat wohl daran. Nachdem ich diesen peinlichen Besuch gemacht hatte, ging ich nach Hause. Ich tröstete meine Wirtin mit allen Gründen, die ich ausfindig machen konnte; dann umarmte ich ihre Tochter und ging zu Bett. Dies war am Abend des 25. Juni 1755. Und am Morgen des nächsten Tages betrat der schreckliche Messer-Grande mein Zimmer. Ich erwachte, sah ihn und hört ihn fragen, ob ich Giaccomo Casanova sei.
»Ja, ich bin Casanova.«
Er befahl mir, aufzustehen, mich anzukleiden und alles zu übergeben, was ich an eigenen und fremden Schriften hätte, und ihm zu folgen.
»In wessen Auftrag geben Sie mir diesen Befehl?«
»Im Auftrage des Tribunals.«