Verschiedene Zwischenfälle. – Haftgenossen. – Vorbereitungen zur Flucht. – Überführung in einen anderen Kerker.

Damit der Leser meine Flucht aus den Bleikammern begreifen kann, muß ich ihn mit der Örtlichkeit bekannt machen. Die Bleikammern, die als Gefängnisse für die Staatsverbrecher dienen, sind weiter nichts als die Dachkammern des großen Palastes, und die Gefängnisse haben ihren Namen von den großen Bleiplatten, mit denen der Palast gedeckt ist. Man kann zu ihnen nur durch die Eingangstüren des Palastes oder durch das Gefangenenhaus oder endlich über die von mir bereits erwähnte Brücke, die sogenannte Seufzerbrücke, gelangen. Der Weg zu ihnen geht nur durch den Saal, worin die Staatsinquisitoren sich versammeln, und nur der Sekretär hat den Schlüssel dazu, den er dem Schließer nur für die kurze Zeit anvertraut, die dieser braucht, um morgens in aller Frühe die Gefangenen zu bedienen. Diese Bedienung findet bei Tagesanbruch statt, weil späterhin die Gefängnisknechte beim Kommen und Gehen zu sehr von den Leuten gesehen werden würden, die mit den Mitgliedern des Rates der Zehn zu tun haben. Dieser Rat versammelt sich nämlich jeden Tag in einem anstoßenden Saal, der sogenannten Bussola, und durch diesen Saal müssen die Wächter jedesmal hindurchgehen, wenn sie nach den Bleikammern wollen.

Die Gefängnisse liegen verteilt in den Dachstühlen von zwei Fassaden des Palastes. Drei liegen nach Westen – dazu gehört auch das meinige – und vier nach Osten. Die Dachrinne der westlichen Seite führt in den Hof des Palastes; die andere führt senkrecht in den Kanal, den man Rio di Palazzo nennt. Die Gefängnisse dieser Seite sind sehr hell, und man kann in ihnen aufrecht stehen; dies ist nicht der Fall in dem Gefängnis, worin ich mich befand und das man la trave nennt, nach dem riesigen Balken, der mich des Lichtes beraubte. Der Fußboden meines Gefängnisses lag unmittelbar über der Decke des Saales der Inquisitoren, die sich dort gewöhnlich nur nachts versammeln, unmittelbar nach der täglichen Sitzung der Zehn, dessen Mitglieder sie alle drei sind.

Ich kannte genau die Örtlichkeit und die stets sich gleichbleibenden Gewohnheiten der Inquisitoren. Das einzige Mittel zur Flucht oder wenigstens das einzige, wovon ich mir Erfolg versprach, war die Durchbohrung des Fußbodens meines Gefängnisses. Aber dazu waren Werkzeuge nötig, und das war eine schwierige Sache an einem Ort, wo jeder Verkehr mit der Außenwelt verboten war, wo man weder Besuche noch Briefwechsel mit irgend einem anderen Menschen erlaubte. Um einen Sbirren zu bestechen, hätte ich viel Geld haben müssen, und ich besaß nichts. Angenommen auch, der Schließer und die beiden Gefängnisknechte hätten sich gutwillig erwürgen lassen – denn ich hatte keine andere Waffe als meine Hände – so stand ein dritter Wächter stets vor der Korridortür Wache. Er hielt diese verschlossen und öffnete sie nur, wenn der Kamerad, der heraus wollte, ihm das Losungswort gab. Trotz allen Hindernissen beschäftigte ich mich doch nur noch mit dem Gedanken an meine Flucht, und da ich im Boëtius kein Mittel dazu fand, so las ich diesen nicht mehr. Ich war überzeugt, daß ich ein solches Mittel nur durch Nachdenken finden könnte, und deshalb erlaubte ich mir nicht den geringsten Gedanken, der sich nicht darauf bezog.

Ich bin stets der Meinung gewesen, daß jemand, der es sich in den Kopf setzt, etwas zu erreichen, und der sich nur mit der Verfolgung dieses Planes beschäftigt, seinen Zweck erreichen muß, trotz allen Schwierigkeiten; dieser Mensch wird Großvezier oder Papst werden, oder er wird eine Monarchie umstürzen, vorausgesetzt, daß er zur rechten Zeit anfängt und daß er die erforderliche Klugheit und Ausdauer besitzt: denn das Glück verachtet das Alter; ohne Hilfe des Glücks kann man nichts hoffen, und darum bringen alte Leute es zu nichts mehr. Man muß, um Erfolg zu haben, auf sein Glück rechnen und über Fehlschläge sich hinwegsetzen; dies ist aber eine der schwierigsten politischen Berechnungen.

Gegen Mitte November sagte Lorenzo zu mir, Messer-Grande habe einen neuen Gefangenen; der neue Sekretär, Herr Businello, habe ihm befohlen, ihn in den schlechtesten Kerker zu bringen, folglich werde er ihn zu mir bringen. Er versicherte mir, er habe ihm vorgestellt, daß ich es für eine Gnade betrachtet hätte, ein Gefängnis für mich allein zu haben. Der Sekretär hätte ihm geantwortet, ich würde doch wohl in den vier Monaten vernünftiger geworden sein. Diese Nachricht war mir nicht zuwider; noch weniger war es mir unangenehm, von dem Wechsel des Sekretärs zu hören. Dieser Pietro Businello war ein braver Mann, den ich in Paris kennen gelernt hatte, als er als Ministerresident der Republik nach London ging.

Am Nachmittag hörte ich die Riegel kreischen. Lorenzo kam mit zwei Sbirren und brachte einen jungen Menschen, der ganz in Tränen aufgelöst war. Er nahm ihm die Handschellen ab, schloß die Tür wieder zu und ging, ohne ihm ein Wort zu sagen. Ich lag auf meinem Bett, wo er mich nicht sehen konnte. Seine Überraschung machte mir Spaß. Da er das Glück hatte, sieben oder acht Zoll kleiner zu sein als ich, konnte er aufrecht stehen. Zunächst betrachtete er meinen Lehnstuhl, den er ohne Zweifel zu seinem eigenen Gebrauch bestimmt glaubte. Dann sah er auf der Fensterbrüstung den Boëtius liegen; er nahm das Buch, öffnete es und warf es in einer Art von Verdruß wieder hin – jedenfalls, weil es lateinisch geschrieben war und ihm daher nichts nützen konnte. Nun setzte er die Untersuchung des Kerkers fort: er wandte sich nach links, tastete sich an der Wand entlang und war sehr überrascht, als er Kleider fand. Er kam an den Alkoven, streckte die Hand aus, berührte mich und bat ehrerbietig um Verzeihung. Ich lud ihn ein, Platz zu nehmen, und damit war unsere Bekanntschaft gemacht.

»Wer sind Sie?“

»Ich heiße Maggiorino und bin aus Vincenza. Mein Vater ist Kutscher im Hause Poggiana; er ließ mich bis zum elften Jahre in die Schule gehen, wo ich lesen und schreiben lernte; hierauf war ich fünf Jahre lang Lehrling bei einem Friseur und habe dieses Handwerk gut gelernt. Dann kam ich als Kammerdiener zum Grafen X. Seit zwei Jahren diente ich bei diesem Herrn, als seine einzige Tochter aus dem Kloster nach Hause kam. Man beauftragte mich, sie zu frisieren. Mit der Zeit verliebte ich mich in sie und flößte auch ihr eine Leidenschaft ein, die ebensogroß war wie die meinige.

Nachdem wir uns hundertmal geschworen hatten, stets nur einander angehören zu wollen, geben wir dem gebieterischen Bedürfnis nach, uns gegenseitig unsere Zärtlichkeit zu beweisen. Die Folge war, daß bald der Zustand der jungen Gräfin unsere Verbindung verriet. Eine Dienerin des Hauses, eine fromme alte Person, entdeckte zuerst unser Einverständnis und den Zustand meiner Geliebten. Sie sagte ihr daher, sie müsse es ihrem Vater melden, aber es gelang meiner jungen Freundin, sie zum Schweigen zu bewegen, indem sie ihr die Versicherung gab, sie selber werde in der nächsten Woche ihm alles durch ihren Beichtvater sagen lassen. Sie teilte mir dies alles mit, und anstatt zur Beichte zu gehen, trafen wir unsere Vorbereitungen zur Flucht. Sie bemächtigte sich einer ansehnlichen Summe Geldes und einiger Diamanten, die ihrer verstorbenen Mutter gehört hatten, und heute Nacht sollten wir nach Mailand fahren. Aber gestern nach dem Essen wurde ich zum Grafen gerufen; er gab mir einen Brief und sagte mir, ich müßte sofort nach Venedig abreisen und diesen Brief an die Person, an die er adressiert sei, zu eigenen Händen abgeben. Er sprach so ruhig und gütig mit mir, daß ich nicht den geringsten Verdacht schöpfen konnte, was für ein Schicksal er mir zugedacht hatte. Ich holte meinen Mantel und nahm nur noch schnell von meiner kleinen Frau Abschied, indem ich ihr versicherte, ich werde bald wieder zurück sein. Sie war scharfsichtiger als ich, oder hatte sie auch nur ein Vorgefühl von meinem Unglück – genug, ihr wurde unwohl. Ich reiste in aller Hast nach Venedig und beeilte mich, den verhängnisvollen Brief zu bestellen. Man ließ mich auf die Antwort warten, und sobald ich sie erhalten hatte, ging ich in eine Schenke, um etwas zu mir zu nehmen. Ich wollte sofort wieder abreisen, um wieder bei meiner lieben Frau zu sein. Aber als ich aus der Kneipe herauskam, verhaftete man mich und brachte mich auf die Wache; dort behielt man mich bis zum Augenblick, wo man mich hierher brachte. Ich glaube, Herr, ich kann doch wohl die junge Gräfin als meine Frau betrachten.«

»Sie irren sich.«

»Aber die Natur . . .«

»Die Natur verleitet den Menschen, der nur auf sie hört, nur dazu, Dummheiten zu machen, bis man ihn unter die Bleidächer steckt.«

»Ich bin also unter den Bleidächern?«

»Wie ich.«

Der arme junge Mensch weinte bitterlich. Er war ein sehr hübscher Bursche, aufrichtig, anständig und über alle Maßen verliebt. Ich verzieh innerlich der Gräfin und verurteilte sehr entschieden ihren Vater, den Grafen, daß er seine Tochter der Versuchung des Verkehrs mit einem hübschen und sinnlichen jungen Menschen ausgesetzt hatte. Ein Schäfer, der den Wolf in seine Hürde einläßt, darf sich nicht beklagen, wenn seiner Herde Schaden geschieht. Seine Tränen und Klagen galten nicht ihm selber. Alle seine Gefühle gehörten nur seiner Freundin. Er glaubte, der Schließer werde wiederkommen, um ihm ein Bett und etwas zu essen zu bringen; ich benahm ihm diesen Irrtum und bot ihm von meinen Vorräten an. Ihm war das Herz so schwer, daß er nichts essen konnte. Am Abend gab ich ihm meinen Strohsack, und auf diesem verbrachte er die Nacht; denn obwohl er augenscheinlich sauber war, wollte ich ihn nicht mit mir zusammen schlafen lassen, weil ich die Wirkungen der Träume eines Verliebten fürchtete. Er sah seine Schuld nicht ein und begriff auch nicht, warum der Graf das Bedürfnis haben konnte, ihn öffentlich bestrafen zu lassen, um die Ehre seiner Tochter und seiner Familie dadurch zu retten. Am nächsten Tage brachte man ihm einen Strohsack und ein Essen für fünfzehn Soldi, die das Tribunal ihm aus Gnade oder Barmherzigkeit zukommen ließ; denn das Wort Gerechtigkeit war offenbar der Wirksamkeit dieser abscheulichen Behörde fremd. Ich sagte dem Schließer, mein Essen würde für uns beide genügen und er könnte das für den jungen Menschen bewilligte Geld darauf verwenden, für ihn auf seine Art Messen lesen zu lassen. Dies übernahm er gern. Nachdem er ihm Glück gewünscht hatte, daß er zu mir gekommen wäre, sagte er uns, wir könnten uns eine halbe Stunde lang in der Dachkammer Bewegung machen. Ich fand diesen Spaziergang ausgezeichnet für meine Gesundheit und für meinen Fluchtplan, den ich erst elf Monate später zur Ausführung bringen konnte. An dem einen Ende dieses Tummelplatzes der Ratten sah ich einen Haufen von alten Möbeln, die rechts und links von zwei großen Kisten auf den Fußboden geworfen waren; hinter ihnen lag ein großer Haufen von Papieren, die zu Heften zusammengenäht waren. Ich nahm ein Dutzend von diesen Heften an mich und sah, daß es Akten von Kriminalprozessen waren.

Ich fand ihre Lektüre sehr unterhaltend ; denn es war mir erlaubt zu lesen, was man sicherlich seinerzeit sehr geheim gehalten hatte. Ich las eigentümliche Antworten auf verfängliche Fragen; die Akten betrafen Verführungen von Jungfrauen, zu weit getriebene Zärtlichkeiten von Vorstehern von Mädchenerziehungsanstalten, Verfehlungen von Beichtvätern gegen ihre Beichtkinder, päderastischen Verkehr von Schullehrern mit ihren Zöglingen, Unterschlagungen und Betrügereien von Vormündern. Einige von diesen Prozessen waren zwei- oder dreihundert Jahre alt; der altväterische Stil und die eigentümlichen Gebräuche jener Vorzeit unterhielten mich stundenlang. Unter den Möbeln, die auf der Erde lagen, sah ich einen Bettwärmer, eine Wärmflasche, eine Feuerschaufel und Feuerzange, alte Leuchter, irdene Töpfe und sogar eine Klistierspritze. Ich dachte mir, es müßte irgendein vornehmer Gefangener durch die Erlaubnis bevorzugt worden sein, alle diese Gegenstände benützen zu dürfen. Am meisten von allem aber interessierte mich ein ganz gerader, daumendicker, anderthalb Fuß langer eiserner Riegel. Ich rührte nichts an; denn meine Pläne waren noch nicht reif genug, um eine bestimmte Richtung anzunehmen.

Eines Morgens gegen Ende des Monats holte man meinen Kameraden ab, und Lorenzo sagte mir, er sei in die Gefängnisse gebracht worden, die man i quattro nennt. Diese Gefängnisse befinden sich innerhalb des gewöhnlichen Gefangenenhauses und gehören den Staatsinquisitoren. Die dort eingesperrten Gefangenen haben das Vorrecht, den Schließer rufen zu dürfen, wenn sie etwas brauchen. Sie sind dunkel, aber es ist eine Öllampe vorhanden, um den Gefangenen Licht zu spenden. Feuersgefahr fürchtet man nicht, denn alles ist aus Marmor. Ich habe lange nachher erfahren, daß der arme Maggiorino in diesem Gefängnis fünf Jahre zubrachte und daß er von dort auf zehn Jahre nach Cerigo geschickt wurde. Ob er von dort jemals wieder freigekommen ist, weiß ich nicht. Er hatte mir gute Gesellschaft geleistet, und ich bemerkte dies, sobald er fort war, denn ich verfiel sogleich wieder in meine Traurigkeit. Ich hatte das Glück, daß man mir den bewilligten halbstündigen Spaziergang in der Dachkammer nicht wieder entzog. Ich machte mich nun daran, mir alle darin befindlichen Gegenstände aufmerksamer zu betrachten. Die eine von den beiden Kisten war ganz voll von schönem Schreib- und Zeichenpapier, von ungeschnittenen Federn und Bindfadenknäueln; die andere war zugenagelt. Ein Stück geglätteten schwarzen Marmors, einen Zoll dick, sechs Zoll lang und drei Zoll breit, lenkte meine Blicke auf sich; ich nahm es an mich, obgleich ich noch nicht wußte, was ich damit machen sollte, und versteckte es sorgfältig in meinem Kerker unter meinen Hemden.

Acht Tage nach Maggiorinos Verschwinden sagte Lorenzo zu mir, ich würde allem Anschein nach bald wieder Gesellschaft haben. Der Mann war im Grunde nur ein Schwätzer, und es machte ihn ungeduldig, als er sah, daß ich niemals eine Frage an ihn richtete. Eigentlich hätte ihn das nicht ungeduldig machen dürfen, aber wo fände man wohl Menschen von ganz vollendeter Niederträchtigkeit? Es gibt allerdings welche, aber glücklicherweise sehr wenige, und diese muß man nicht in den niedrigen Klassen suchen. Da es meinem Kerkermeister durchaus nicht gelingen wollte, durch seine Zurückhaltung zu glänzen, bildete er sich ein, ich fragte ihn nur deshalb niemals, weil ich glaubte, er wüßte nichts. Dies stachelte seine Eitelkeit: um mir zu beweisen, daß ich mich irrte, fing er an zu schwätzen, ohne daß ich ihn fragte. So sagte er denn:

»Ich glaube, Herr, Sie werden oft Besuche haben, denn jedes der anderen sechs Gefängnisse enthält bereits zwei Personen, die man nicht in die Quattro schicken kann.« Da ich ihm nicht antwortete, fuhr er nach einigen Augenblicken fort: »In die Quattro bringt man bunt durcheinander alle möglichen Leute, die zu einer ihnen unbekannten Strafe verurteilt worden sind. Die Gefangenen, die wie Sie in den Bleikammern unter meiner Obhut stehen, sind lauter Leute von der höchsten Auszeichnung und werden nur wegen Sachen bestraft, von denen die Neugierigen nichts erfahren sollen. Wenn Sie wüßten, Herr, welche Schicksalsgenossen Sie haben! Sie würden sich wundern, denn man sagt Ihnen mit Recht nach, daß Sie ein kluger Herr sind… aber Sie werden mir verzeihen… Sie wissen wohl, alle Klugheit nützt einem nichts, wenn man hier oben ist… Sie verstehen mich wohl… fünfzig Soldi täglich, das ist schon was… ein venetianischer Bürger bekommt drei Lire, ein Edelmann vier und ein ausländischer Graf acht. Ich muß das wohl wissen, denke ich, denn alles geht durch meine Hand.«

Nun fing er an und sang sein eigenes Lob, und zwar in lauter Negativen: »Ich bin kein Dieb, kein Verräter, kein Lügner; ich bin nicht habgierig, nicht boshaft, nicht brutal wie alle meine Vorgänger, und wenn ich einen Schoppen zuviel getrunken habe, werde ich nur immer besser. Wenn mein Vater mich in die Schule geschickt hätte, so würde ich lesen und schreiben gelernt haben, und ich wäre vielleicht heute Messer-Grande; aber das ist nicht meine Schuld. Herr Andrea Diedo schätzt mich und meine Frau, die erst vierundzwanzig Jahre alt ist und die jeden Tag das Essen für Sie kocht, besucht ihn, wann sie will, und er läßt sie ohne Umstände eintreten, selbst wenn er im Bett liegt – eine Huld, die er keinem Senator erweist. Ich verspreche Ihnen, Sie sollen alle neuen Ankömmlinge erhalten; aber es ist immer nur für kurze Zeit; denn sobald der Sekretär aus ihrem eigenen Munde alles Wissenswerte vernommen hat, schickt er sie an ihren Bestimmungsort: in die Quattro, in irgend ein Fort oder nach der Levante. Wenn es Ausländer sind, bringt man sie über die Grenze; denn die Regierung glaubt nicht das Recht zu haben, über die Untertanen eines anderen Fürsten zu bestimmen, es wäre denn, daß sie in Diensten der Republik ständen. Die Milde des Tribunals ist ohnegleichen; es gibt auf der Welt kein Gericht, das seinen Gefangenen mehr Annehmlichkeiten gewährt. Man findet es grausam, daß das Tribunal nicht erlauben will, zu schreiben oder Besuche zu empfangen, aber das ist Unsinn, denn mit Schreiben und Besuch empfangen verliert man nur seine Zeit. Sie werden mir sagen, Sie hätten ja nichts zu tun; aber das können wir anderen nicht von uns sagen.“

So lautete ungefähr die erste Ansprache, womit der Halunke mich beehrte, und ich muß gestehen, er amüsierte mich. Ich sah, daß der Mensch, wenn er ein bißchen weniger dumm gewesen wäre, sicherlich viel boshafter gewesen wäre. Ich beschloß, mir seine Dummheit zunutze zu machen.

Am anderen Tage führte man mir einen neuen Genossen zu, den man am ersten Tage genau so behandelte, wie man Maggiorino behandelt hatte. Ich merkte nun, daß ich mir einen zweiten Elfenbeinlöffel kaufen lassen mußte; denn da der neu Angekommene am ersten Tage nichts erhielt, so mußte ich die Honneurs des Hauses machen.

Mein neuer Gefährte machte mir eine tiefe Verbeugung, denn durch meinen Bart, der bereits vier Zoll lang war, wirkte ich noch imponierender als durch meinen Wuchs. Lorenzo lieh mir oft eine Schere, um mir die Nägel zu schneiden, aber es war ihm bei strenger Strafe verboten, mich meinen Bart berühren zu lassen. Den Grund davon weiß ich nicht; aber ich hatte mich schließlich an meinen Bart gewöhnt, wie man sich an alles gewöhnt.

Der Neue war ein Mann von fünfzig Jahren, ungefähr von meinem Wuchs, ein wenig gebeugt und mager. Er hatte einen großen Mund und schlechte Zähne; unter zwei dicken roten Augenbrauen sahen kleine graue Augen hervor, was ihm das Aussehen einer Eule gab. Der Eindruck wurde vervollständigt durch eine kleine Perücke von schwarzem Roßhaar, die einen sehr unangenehmen Ölgeruch verbreitete, und durch einen Rock von dickem grauen Tuch. Mein Essen nahm er an; aber er war zurückhaltend und sagte mir den ganzen Tag kein Wort. Ich machte es wie er und schwieg; denn ich war überzeugt, daß er bald die Sprache wiederfinden würde: dies war denn auch schon am nächsten Tage der Fall.

Man brachte ihm in aller Frühe ein Bett, das ihm gehörte, und eine Handtasche voll Wäsche. Der Schließer fragte ihn, wie er mich gefragt hatte, was er essen wolle, und verlangte Geld, um es zu bezahlen.

„Ich habe kein Geld.“

„Was? ein reicher Knopf wie Sie hat kein Geld?“

»Ich habe keinen Soldo.«

»Schön, da werde ich Ihnen Schwarzbrot und Wasser bringen. So gehört es sich.«

Er ging und brachte gleich darauf anderthalb Pfund Schwarzbrot und einen Krug Wasser, stellte alles neben den Gefangenen, ging und schloß die Tür wieder zu.

Als ich mit dem Gespenst wieder allein war, hörte ich ihn seufzen; ein mitleidiges Gefühl kam über mich, und ich brach das Schweigen: »Seufzen Sie nicht, mein Herr, Sie werden mit mir speisen; aber mir dünkt, Sie haben einen großen Fehler begangen, daß Sie ohne Geld hierhergekommen sind.«

»Ich habe wohl welches, aber so etwas muß man diesen Harpyien nicht sagen.«

»Schöne Klugheit, die Sie zu Wasser und Brot verurteilt! Kennen Sie den Grund ihrer Verhaftung?«

»Jawohl ich kenne ihn und werde Ihnen in kurzen Worten meine Geschichte erzählen:

Ich heiße Squaldo Nobili. Mein Vater war ein Bauer. Er ließ mich lesen und schreiben lernen und vererbte mir bei seinem Tode sein Häuschen und das bißchen Land, das dazu gehörte. Ich stamme aus dem Friaul; mein Dorf ist eine Tagereise von Udine entfernt. Ein Wildbach, der Corno, verwüstete oft meine kleine Besitzung; dies brachte mich zu dem Entschluß, sie zu verkaufen und mich in Venedig niederzulassen. Dies geschah vor zehn Jahren. Ich bekam für meinen Besitz 8000 Lire in schönen Zechinen, und da ich wußte, daß in unserer glücklichen Republik jedermann einer anständigen Freiheit genießt, so war ich überzeugt, ich könnte es zu einem kleinen Wohlstand bringen, indem ich mein Kapital nutzbar machte. Ich fing nun an, auf Pfänder auszuleihen. Da ich wußte, daß ich sparsam, gescheit und geschäftsgewandt bin, so entschloß ich mich gerade zu diesem Gewerbe. Ich mietete ein Häuschen in der Nähe des großen Kanals und richtete es ein. Hier lebte ich allein und sehr ruhig und fand mich nach Verlauf von zwei Jahren im Besitz von zehntausend Lire außer meinem Kapital, obwohl ich gut gelebt und nicht weniger als zweitausend für meine Bedürfnisse ausgegeben hatte. Ich sah mich nun auf gutem Wege, um mit der Zeit ein anständiges Vermögen zu erwerben, wenn ich so fortführe. Eines Tages hatte ich einem Juden zwei Zechinen auf mehrere Bücher geliehen, und unter diesen fand ich eines, das »Die Weisheit des Charon« betitelt war. Ich bemerkte nun, wie glücklich man ist, wenn man lesen kann; denn dieses Buch, das Sie vielleicht nicht kennen, ist ganz allein so viel wert wie alle anderen Bücher, denn es enthält alles, was der Mensch zu wissen braucht. Es benimmt ihm alle Vorurteile, die er in der Kindheit angenommen hat. Kennt man Charon, so gibt es keine Hölle mehr und kein Schreckbild eines künftigen Lebens; man öffnet die Augen, man erkennt den Weg zum Glück, man ist weise. Verschaffen Sie sich dieses Buch zum Lesen, und lachen Sie die Dummköpfe aus, die Ihnen sagen, daß dieser Schatz verboten sei!«

Als ich diese eigentümliche Rede gehört hatte, wußte ich, woran ich mit dem Manne war. Den Charon hatte ich gelesen, aber es war mir unbekannt, daß er ins Italienische übersetzt war. Charon war ein großer Bewunderer von Montaigne; er glaubte sein Vorbild noch zu übertreffen, aber seine Bemühung war vergebens. Er hat mehrere Themata, die bei dem großen Philosophen regellos durcheinander geworfen sind, methodisch behandelt; aber als Priester und Theologe verdiente Charon die Verurteilung, die ihn traf. Er ist übrigens nicht viel gelesen worden, trotz dem Verbot, das für ihn hätte wirken müssen. Charon war so anmaßend, seinem Buch denselben Titel zu geben, wie dem biblischen Buche Salomonis; dies spricht nicht zugunsten seiner Bescheidenheit. Mein Gesellschafter fuhr folgendermaßen fort:

»Charon befreite mich von den Gewissensbedenken, die ich bis dahin noch gehabt hatte, und von den falschen Vorstellungen, die man nur mit großer Mühe abstreift. Ich betrieb nun mein Geschäft so, daß ich mich in sechs Jahren im Besitze von zehntausend Zechinen sah. Sie dürfen sich hierüber nicht wundern, denn in dieser reichen Stadt bringen Spiel, Ausschweifung und Müßiggang alle Welt in unordentliche Vermögensverhältnisse. Es herrscht ein beständiger Geldmangel, und was die Narren verschwenden, benutzen die Klugen zu ihrem Vorteil.

Vor drei Jahren bat ein Graf Serimano mich, fünfhundert Zechinen von ihm anzunehmen, sie in meinem Geschäft zu verwenden und ihm die Hälfte des Gewinnes zu geben, den ich mit dieser Summe erzielen würde. Er verlangte nur eine einfache Quittung, durch die ich mich verpflichtete, ihm auf sein Verlangen die gleiche Summe zurückzugeben. Nach einem Jahre gab ich ihm fünfundsiebzig Zechinen, was einer Verzinsung von fünfzehn aufs Hundert gleichkommt. Er gab mir eine Quittung darüber, zeigte sich aber unzufrieden. Er hatte unrecht; denn da es mir nicht an Geld fehlte, hatte ich mich des seinigen nicht bedient, um damit Geschäfte zu machen. Nach dem zweiten Jahr handelte ich aus reinem Edelmut wieder ebenso; aber es kam zwischen uns zu beleidigenden Worten, und er verlangte von mir die Rückzahlung der fünfhundert Zechinen.

›Gern,‹ sagte ich zu ihm, ›aber ich werde die hundertfünfzig davon abziehen, die Sie schon erhalten haben.‹ Dies machte ihn wütend, und er ließ mich durch einen Gerichtsvollzieher zur Bezahlung der ganzen Summe auffordern. Ein geschickter Anwalt übernahm meine Vertretung und wußte zwei Jahre lang den Prozeß günstig für mich zu erhalten. Vor drei Monaten sprach man mir von einem Vergleich. Ich weigerte mich; da ich jedoch einen Gewaltstreich fürchtete, wandte ich mich an den Abbate Giustiniani, den Sachwalter des spanischen Gesandten, Marques de Mont-Allegre; für eine kleine Extraentschädigung vermietete er mir ein Häuschen, das zum Botschafterpalast gehört, wo man also vor Überraschungen sicher ist. Ich war bereit, dem Grafen Serimano sein Geld wiederzugeben, aber ich beanspruchte, hundert Zechinen davon abziehen zu dürfen, die der Prozeß mich gekostet hatte. Vor acht Tagen kamen mein Anwalt und der des Grafen zu mir; ich zeigte ihnen zweihundertfünfzig Zechinen in meiner Börse und sagte ihnen, ich sei bereit, ihnen dieses Geld zu geben, aber nicht einen Soldo mehr. Sie entfernten sich, ohne ein Wort zu sagen, und sahen beide sehr unzufrieden aus; aber darum kümmerte ich mich nicht. Vor drei Tagen ließ Abbate Giustiniani mir sagen, der Botschafter habe es für gut befunden, den Staatsinquisitoren zu erlauben, bei mir eine Haussuchung vornehmen zu lassen. Ich hielt dies für unmöglich, da ich doch unter dem Schutz eines fremden Gesandten stand. Anstatt die Vorsichtsmaßregeln zu treffen, die sonst in solchen Fällen üblich sind, brachte ich nur mein Geld in Sicherheit und erwartete entschlossen den angekündigten Besuch. Mit Tagesanbruch kam Messer-Grande zu mir und verlangte dreihundertfünfzig Zechinen. Auf meine Antwort, ich hätte keinen Soldo, verhaftete er mich, und so bin ich hier.«

Ich schauderte, aber weniger noch deswegen, weil ich mich in Gesellschaft eines solchen gemeinen Menschen sah, als weil ich erkannte, daß er mich für seinesgleichen hielt; denn wenn er einen anderen Begriff von mir gehabt hätte, so würde er mich ganz gewiß nicht mit seiner langen Geschichte beglückt haben. Ohne Zweifel nahm er doch an, daß ich ihm meinen Beifall zollen würde. Die törichten Reden, die ich während der drei Tage seines Aufenthaltes von ihm anhören mußte, während welcher er unaufhörlich von Charon sprach, bestätigten mir die Wahrheit des italienischen Sprichwortes: Guardati da colu che non ha letto che un libro solo – hüte dich vor dem, der nur ein einziges Buch gelesen hat. Das Buch des abtrünnigen Priesters hatte ihn zum Atheisten gemacht, und er rühmte sich dessen bei jeder Gelegenheit. Am Nachmittag kam Lorenzo und sagte ihm, er müsse mit ihm kommen, um mit dem Sekretär zu sprechen. Er zog sich in aller Eile an und nahm statt seiner Schuhe die meinigen, ohne daß ich es bemerkte. Eine halbe Stunde später kam er weinend zurück und zog aus seinen Schuhen zwei Börsen hervor, in denen sich dreihundertundfünfzig Zechinen befanden; diese brachte er, vom Schließer begleitet, dem Sekretär. Einige Augenblicke darauf kam er zurück, nahm seinen Mantel und ging. Lorenzo sagte mir, man habe ihn in Freiheit gesetzt. Ich dachte mir, und wohl mit Grund, der Sekretär habe ihn mit der Folter bedroht, um ihn zur Anerkennung und zur Bezahlung seiner Schuld zu bewegen. Wenn die Folter nur dazu angewendet würde, um solches zu bewirken, so wäre ich, der ich sie grundsätzlich verabscheue, der erste, der ihren Nutzen verteidigen würde.

Am ersten Januar l756 erhielt ich meine Neujahrsgeschenke. Lorenzo brachte mir einen mit Fuchspelz gefütterten Schlafrock, eine wattierte seidene Decke und einen Fußsack von Bärenfell. Ich empfing diese Geschenke voller Freude, denn es herrschte eine Kälte, die ebenso schwer zu ertragen war, wie die Hitze, unter der ich im August hatte leiden müssen. Er sagte mir auch, der Sekretär teile mir mit, ich könnte monatlich über sechs Zechinen verfügen, um mir nach meinem Belieben Bücher zu kaufen und die Zeitung zu halten; dies wäre ein Geschenk des Herrn von Bragadino. Ich bat Lorenzo um einen Bleistift und schrieb auf ein Stück Papier: »Ich danke der Großmut des Tribunals und der Güte des Herrn von Bragadino.«

Man muß sich selber in einer ähnlichen Lage befunden haben, um die Gefühle zu begreifen, die dieser Vorfall in meiner Seele erregte. Im ersten Gefühlsüberschwang verzieh ich meinen Verfolgern und hätte beinahe meinen Fluchtplan aufgegeben; so schwankend ist der Mensch, wenn das Unglück ihn zu Boden drückt und erniedrigt. Lorenzo sagte mir, Herr von Bragadino habe die drei Inquisitoren aufgesucht, habe sich mit Tränen in den Augen vor ihnen auf die Kniee geworfen und habe um die Gnade gefleht, mir dieses Zeichen seiner beständigen Liebe zukommen zu lassen, wenn ich noch am Leben sei. Die Inquisitoren seien gerührt gewesen und hätten es ihm nicht abschlagen können.

Ich schrieb sofort die Titel der Werke auf, die ich zu haben wünschte.

Als ich eines schönen Morgens meinen Spaziergang in der Dachkammer machte, fielen meine Blicke auf den Riegel, von dem ich schon gesprochen habe, und ich sah, daß sich eine ausgezeichnete Angriffs- und Verteidigungswaffe daraus machen ließ. Ich nahm den Riegel, verbarg ihn unter meinem Schlafrock und brachte ihn glücklich in meinen Kerker. Sobald ich allein war, nahm ich das Stück schwarzen Marmors, das ich ebenfalls bereits erwähnte, und erkannte bald, daß dies ein ausgezeichneter Schleifstein war; denn nachdem ich den Riegel eine Zeitlang auf diesem Stein gerieben hatte, sah ich, daß er auf der betreffenden Stelle vollkommen glatt abgeschliffen war.

Ich war ein vollkommener Neuling in solcher Arbeit, aber ich war begierig, sie zu beginnen, weil ich dadurch ein Werkzeug erlangen konnte, das jedenfalls unter den Bleidächern gänzlich verboten war. Vielleicht trieb mich auch die Eitelkeit, mir eine Waffe anzufertigen, ohne ein einziges der dazu notwendigen Werkzeuge zu besitzen. Die Schwierigkeiten waren nur ein neuer Ansporn für mich. Diese Schwierigkeiten waren allerdings nicht gering, denn ich mußte den Riegel fast im Dunkeln auf der Fensterbrüstung reiben, ich konnte den Stein nur mit meiner linken Hand festhalten und hatte keinen Tropfen Öl, um den Stein anzufeuchten und das Eisen, das ich zuspitzen wollte, zu erweichen. Trotz alledem entschloß ich mich also zu der schweren Aufgabe. Statt des Öls diente mir mein Speichel, und ich arbeitete acht Tage, um acht pyramidenförmige Fassetten zu schleifen, die so zusammenliefen, daß sie eine vollkommene Spitze bildeten; die Fassetten waren anderthalb Zoll lang. Mit dieser Spitze bildete mein Riegel ein achtkantiges Stilet von so gleichmäßiger Arbeit, wie man sie von einem guten Schwertfeger nicht besser hätte verlangen können. Aber man kann sich kaum die Mühe und Anstrengungen vorstellen, die ich zu erdulden hatte. Ich mußte alle Energie aufbieten, um die unangenehme Arbeit ohne anderes Werkzeug als einen fortwährend wegwischenden Stein zu Ende zu bringen.

Es war eine Arbeit, quam Siculi non invenere tyranni – wie die Tyrannen Siziliens sie nicht erfunden haben.

Mein rechter Arm war so steif geworden, daß ich ihn fast nicht bewegen konnte. Der Ballen der linken Hand war ganz zerfleischt und bildete eine große Wunde – eine Folge der zahlreichen Blasen, die mir die Härte des Steins und die Länge der Arbeit verursacht hatten. Man macht sich kaum einen Begriff, welche Schmerzen es mir kostete, sie fertig zu machen.

Ich war ganz stolz auf mein Werk, obgleich ich noch nicht daran gedacht hatte, auf welche Art ich es verwenden wollte. Meine erste Sorge war nun, das Werkzeug so zu verstecken, daß es selbst bei genauer Nachsuchung nicht zu finden wäre. Nachdem ich mir tausenderlei ausgedacht hatte, was alles nicht das rechte war, warf ich die Augen auf meinen Lehnstuhl, und es gelang mir, den Riegel so zu verbergen, daß es keinen Verdacht erregen konnte. So half mir die Vorsehung, den ersten Schritt zu einer Flucht zu tun, welche bewunderungswürdig, ja sogar wunderbar werden sollte. Ich gestehe, ich bin eitel darauf. Aber ich bin nicht eitel auf das Gelingen, denn das Glück hatte einen guten Anteil daran, sondern darauf bin ich eitel, daß ich das Ding für möglich hielt und daß ich den Mut hatte, trotz allen ungünstigen Aufsichten das Unternehmen zu wagen; denn wenn meine Pläne gescheitert wären, so hätte sich meine Lage unendlich verschlechtert und meine Rückkehr in die Freiheit wäre vielleicht für immer unmöglich geworden.

Aus meinem Riegel war ein Spieß geworden, der die Dicke eines Spazierstockes hatte und etwa zwanzig Zoll lang war. Nachdem ich drei oder vier Tage darüber nachgedacht hatte, wozu ich ihn gebrauchen könnte, schien es mir das einfachste zu sein, unter meinem Bett ein Loch in den Fußboden zu machen.

Ich war sicher, daß das Zimmer unter meinem Kerker kein anderes sein konnte als jenes, in dem ich damals Cavalli gesehen hatte. Ich wußte, daß dieses Zimmer jeden Morgen geöffnet wurde, und ich zweifelte nicht daran, daß ich durch ein Loch in der Decke leicht hinuntersteigen konnte, indem ich meine Bettücher aneinander knüpfte und sie am Bettfuß befestigte. Ich hätte mich unter den großen Tisch des Tribunals versteckt, wäre am Morgen sofort nach dem Öffnen der Tür hinausgelaufen und hätte mich in Sicherheit gebracht, bevor man mir hätte folgen können. Allerdings war es möglich, daß in diesem Saal sich ein Sbirre als Wache aufhielt; aber von diesem mußte mein Spieß mich schnell befreien.

Der Fußboden konnte doppelt oder gar dreifach sein. Dies war eine große Verlegenheit; denn meine Arbeit konnte vielleicht zwei Monate dauern, und wie konnte ich die Gefängniswärter verhindern, den Fußboden zu fegen? Wenn ich es ihnen verbot, so erregte ich Verdacht, um so mehr, als ich der Flöhe wegen von ihnen verlangt hatte, daß sie alle Tage ausfegten. Der Besen hätte ihnen sofort meine Arbeit verraten. Es galt, ein Mittel zu finden, um diese Schwierigkeit zu überwinden.

Ich verbot zunächst das Ausfegen, ohne einen Grund anzugeben. Nach acht Tagen befragte Lorenzo mich darum. Ich schützte vor, daß der Staub mir Beschwerden machte; ich bekäme davon heftige Hustenanfälle und es könnte mir einmal etwas Schlimmes zustoßen.

»Ich werde den Fußboden besprengen lassen.«

»Das wäre noch schlimmer, Lorenzo, denn von der Feuchtigkeit könnte ich einen Blutsturz bekommen.«

Dies verschaffte mir eine Woche lang Ruhe; nach Verlauf dieser Zeit aber befahl der Kerl auszufegen. Er ließ das Bett in die Dachkammer bringen und zündete eine Kerze an, damit sorgfältiger ausgefegt werde, wie er sagte. Ich merkte, daß der Mann irgendwie Verdacht geschöpft hatte, aber es gelang mir, anscheinend völlig gleichgültig zu bleiben. Ich gab meinen Plan durchaus nicht auf, sondern dachte im Gegenteil nur desto stärker daran. Am nächsten Morgen brachte ich mir eine Wunde am Finger bei und machte damit mein ganzes Taschentuch blutig. Ich erwartete Lorenzo in meinem Bett und sagte ihm, sobald er kam, ich hätte einen so heftigen Hustenanfall gehabt, daß mir irgend ein Gefäß gesprungen wäre, und davon wäre all das Blut, das er sehe. Er solle mir einen Arzt kommen lassen.

Der Doktor kam, verordnete einen Aderlaß und schrieb ein Rezept. Ich sagte ihm, an meinem Unglück wäre Lorenzo schuld, weil er durchaus hätte fegen lassen wollen. Er machte ihm Vorwürfe darüber und erzählte uns, wie wenn ich ihn darum gebeten hätte, die Geschichte von einem jungen Mann, der kürzlich aus derselben Ursache gestorben wäre. Er sagte nichts sei so gefährlich, als Staub einzuatmen. Lorenzo schwor bei allen Heiligen, er habe nur ausfegen lassen, um mir einen Gefallen zu tun, und versprach, es solle nicht wieder vorkommen. Ich lachte bei mir selber, denn der Doktor hätte seine Sache nicht besser machen können, selbst wenn ich ihn ins Einvernehmen gezogen hätte. Die dabei anwesenden Gefängnisknechte waren hoch entzückt und nahmen sich fest vor, nur noch bei solchen Gefangenen auszufegen, die sie ärgerten oder schlecht behandelten.

Als der Arzt fort war, bat Lorenzo mich um Entschuldigung und versicherte mir, alle seine anderen Gefangenen befänden sich wohl, obgleich er regelmäßig bei ihnen ausfegen ließe. »Aber die Sache ist wichtig,« schloß er, »und ich werde sie darauf aufmerksam machen, denn ich betrachte sie alle als meine Kinder.«

Der Aderlaß tat mir wohl, denn er gab mir meinen Schlaf wieder und heilte mich von den krampfartigen Zuckungen, die mich zuweilen zu erschrecken begannen. Ich hatte wieder Appetit, und meine Kräfte nahmen täglich zu. Aber der Augenblick, mich ans Werk zu machen, war noch nicht gekommen; der Frost war zu stark, und meine Hände konnten nicht längere Zeit den Spieß halten, ohne steif zu werden. Mein Unternehmen erforderte viel Überlegung. Ich mußte alles vermeiden, was sich leicht voraussehen ließ. Ich mußte kühn und unerschrocken sein, um jeden Vorteil wahrzunehmen, den der Zufall mir darböte. Wer so vorgehen muß wie ich, befindet sich in einer sehr unglücklichen Lage; aber das Unangenehme und Schreckliche derselben vermindert sich um die Hälfte, sobald man alles gegen alles riskiert.

Die langen Winternächte waren fürchterlich für mich; denn ich mußte neunzehn tödlich lange Stunden im Finstern zubringen, und an den Nebeltagen, die in Venedig nicht selten sind, war das durch das Fenster einfallende Licht nicht stark genug, um dabei lesen zu können. Da kein fremder Gedanke meinen Geist beschäftigte, verfiel ich immer wieder auf meine Flucht; ein Gehirn aber, daß stets sich mit dem gleichen Gegenstand beschäftigt, kann leicht an einer Monomanie erkranken. Der Besitz einer elenden Küchenlampe hätte mich glücklich gemacht; aber wie sollte ich es anfangen, um mir solche Freude zu verschaffen! O edles Vorrecht des Denkens! Wie glücklich fühlte ich mich, als ich das Mittel gefunden zu haben glaubte, diesen Schatz zu erlangen! Um diese Lampe zu machen brauchte ich ihre einzelnen Bestandteile: ein Gefäß, Dochte, Öl, einen Feuerstein, einen Stahl, Zunder und Schwefelfaden. Das Gefäß konnte ein Tiegel sein, und ich besaß den, worin man mir Spiegeleier zubereitete. Unter dem Vorwand, das gewöhnliche Öl mache mir Beschwerden, ließ ich mir Lucca-Öl für meinen Salat kaufen. Meine baumwollene Steppdecke konnte mir Dochte liefern. Unter dem Vorwande, ich hätte heftige Zahnschmerzen, sagte ich zu Lorenzo, er müsse mir Bimstein besorgen; da er nicht wußte, was ich damit meinte, sagte ich ihm, ein Flintstein würde dieselben Dienste tun, wenn man ihn einen Tag in Essig liegen ließe; ich würde ihn dann eine Zeitlang auf den Zahn legen und das würde meine Schmerzen lindern. Lorenzo sagte mir, mein Essig sei ausgezeichnet und ich könne selber einen Stein hineinlegen. Mit diesen Worten zog er drei oder vier aus der Tasche und warf sie mir zu. Eine starke Stahlschnalle, die ich am Gürtel hatte, konnte mir als Feuerstahl dienen. Jetzt blieb mir noch übrig, Schwefel und Zunder zu beschaffen, und um diese beiden Gegenstände mußte ich alle meine Gedanken aufbieten. Endlich kam mir das Glück zu Hilfe. Ich hatte eine Art Röteln gehabt; nach der Heilung waren auf meinen Armen rote Flecken zurückgeblieben, die mir zuweilen ein Jucken verursachten. Ich sagte Lorenzo, er möchte den Arzt um ein Heilmittel bitten, und am nächsten Tage brachte er mir einen Zettel, den der Sekretär gelesen hatte. Der Doktor verordnete: »Einen Tag Diät und vier Unzen Süßmandelöl, und die Haut wird heilen; oder eine Einreibung mit Schwefelblüte; aber dieses örtliche Heilmittel ist gefährlich.«

»Aus der Gefahr mache ich mir nichts,« sagte ich zu Lorenzo. »Kauft mir diese Salbe, oder bringt mir Schwefel; denn Butter habe ich hier, und ich werde mir die Salbe selber machen. Habt ihr Schwefelfäden? So gebt sie mir.«

Zufällig hatte er solche in seinen Taschen. Er gab sie mir.

Wie wenig braucht es doch, um einen Menschen, der im Unglück ist, Freude und Trost zu bereiten! Aber in meiner Lage waren freilich diese Schwefelfäden keine Kleinigkeit; sie waren ein wahrer Schatz für mich.

Nun zerbrach ich mir mehrere Stunden lang den Kopf, um für das einzige, was mir noch fehlte, den Zunder, einen Ersatz zu schaffen, denn ich wußte nicht, unter welchem Vorwand ich ihn verlangen sollte. Da fiel mir ein, daß ich meinem Schneider gesagt hatte, er solle unter den Achseln meines Rockes Schwamm einlegen, damit der Stoff nicht vom Schweiß verdorben würde.

Der ganz neue Rock hing vor mir. Mir klopfte das Herz.

Der Schneider konnte vergessen haben, den Schwamm einzulegen. Ich schwebte zwischen Furcht und Hoffnung. Ich brauchte nur einen Schritt zu machen, um mir Gewißheit zu verschaffen; aber dieser Schritt war entscheidend, und deshalb wagte ich nicht, ihn zu tun. Endlich ging ich auf den Rock zu, aber ich fühlte mich so hoher Gnade beinahe unwürdig, fiel auf die Kniee und betete mit heißer Inbrunst zu Gott, der Schneider möchte meinen Befehl nicht vergessen haben. Nach diesem heißen Gebet nahm ich den Rock, schnitt das Futter auf und fand den Schwamm. Ich war wahnsinnig vor Freude. Es war nicht mehr als natürlich, daß ich Gott dankte: denn voll Vertrauen zu ihm hatte ich den Mut gehabt, meinen Schwamm zu suchen; so dankte ich ihm denn auch von ganzem Herzen.

Als ich ein wenig später über diese Gnadenhandlung nachdachte, wünschte ich mir Glück, dem Antrieb meines dankbaren Herzens gefolgt zu sein, aber ich lachte mitleidig über meine eigene Dummheit, daß ich den Herrn aller Dinge gebeten hatte, mich den Schwamm finden zu lassen. Ich hätte dieses lächerliche Gebet nicht gesprochen, bevor ich unter die Bleidächer kam, und ich würde es auch heute nicht tun.

Die Beraubung der körperlichen Freiheit führt zur Entartung der geistigen Fähigkeiten. Man muß Gott bitten, etwas zu gewähren, was der Natur entspricht, nicht aber, die natürliche Ordnung durch Wunder auf den Kopf zu stellen. Wenn der Schneider den Schwamm nicht unter die Achseln gelegt hatte, so konnte ich sicher sein, daß ich dort keinen finden würde; und wenn er ihn angebracht hatte, so konnte ich darauf rechnen, daß er auf keine Weise verschwunden war. Was wollte ich also vom Herrn der Natur?

Der Sinn meiner ersten Bitte läßt sich durch die Worte wiedergeben: »Lieber Gott! mache, daß ich den Schwamm unter den Achseln finde, einerlei, ob der Schneider ihn eingenäht hat oder nicht!«

Ohne Zweifel könnten manche Theologen und viele gute Leute meine Bitte fromm finden, denn sie würde ihnen auf dem Grunde des Glaubens zu beruhen scheinen und damit würden ste recht haben. Aber ich selber habe ebenfalls recht, wenn ich sie abgeschmackt und sogar strafbar finde; denn wenn wir allen Ernstes Gott um etwas bitten, was außerhalb der Ordnung der natürlichen Dinge liegt, so heißt das, ihn zum Diener unserer Leidenschaften machen zu wollen. Wenn ich aber Gott dafür gedankt hatte, daß mein Schneider nicht vergeßlich gewesen war, so fand ich mich im Einklang mit meiner gesunden Philosophie.

Da ich nunmehr alle Bestandteile besaß, so hatte ich bald eine Lampe. Man stelle sich die Befriedigung vor, die ich darüber empfand, daß ich sozusagen aus Finsternis Licht geschaffen hatte, und die nicht weniger süße Befriedigung, die Befehle meiner niederträchtigen Verfolger zu übertreten. Es gab keine Nächte mehr für mich, aber auch keinen Salat; denn obgleich ich ihn sehr gerne aß, opferte ich ihn doch gerne dem Bedürfnis, das Öl für meine Beleuchtung zu sparen. Ich setzte nun den Beginn der schwierigen Durchbrechung des Fußbodens auf den ersten Montag der Fastenzeit an; denn ich befürchtete zu sehr, daß der Karnevalstrubel mir Besuche verschaffen könnte. Meine Vorsicht war klug.

Am Faschingssonntag hörte ich mittags das Geräusch der Riegel und sah Lorenzo mit einem dicken Mann eintreten, in welchem ich den Juden Gabriele Schalon erkannte. Er war berühmt wegen seiner Geschicklichkeit, jungen Leuten Geld zu besorgen und sie dadurch in schlechte Händel zu bringen. Da wir uns kannten, begrüßten wir uns natürlich.

Seine Gesellschaft konnte mir nicht angenehm sein; aber man hatte mich natürlich nicht vorher gefragt. Er sagte Lorenzo, er solle in seine Wohnung gehen und ihm sein Essen, ein Bett und alles Notwendige holen; der Schließer antwortete ihm aber, das hätte noch Zeit bis zum andern Tage.

Dieser Jude war ein törichter Schwätzer, unwissend und dumm, außer in seinem Geschäft. Zunächst wünschte er mir Glück, daß man mich vor allen anderen bevorzugt habe, mit seiner Gesellschaft erfreut zu werden. Statt ihm zu antworten, bot ich ihm die Hälfte meines Essens an; er lehnte es ab, indem er mir sagte, er esse nur koscher und wolle lieber warten, um dafür zu Hause um so besser zu Abend zu essen.

»Wann denn?«

»Heute abend, haben Sie nicht gehört? Als ich mein Bett verlangte, sagte er mir, davon würden wir morgen sprechen. Dies will offenbar bedeuten, daß ich keins nötig habe. Finden Sie es wahrscheinlich, daß man einen Mann wie mich ohne Essen lassen kann?«

»Mit mir hat man’s so gemacht.«

»Das mag sein; aber zwischen uns ist doch ein gewisser Unterschied. Außerdem haben die Inquisitoren einen Fehler begangen, indem sie mich verhaften ließen. Ich bin überzeugt, sie sind schon in Verlegenheit, wie sie ihren Fehler wieder gut machen sollen.«

»Sie werden ihnen vielleicht eine Pension aussetzen; denn ein Mann von Ihrer Bedeutung muß gut behandelt werden.«

»Da haben Sie ganz recht; es gibt an der Börse keinen Makler, der dem Handel mehr Nutzen brächte, als ich, und die fünf Ältesten haben von den Ratschlägen, die ich Ihnen gab, großen Nutzen gehabt. Meine Verhaftung ist ein ganz außerordentliches Ereignis, und der Zufall hat es so gefügt, daß dadurch auch Sie ihr Glück gemacht haben.«

»Ach wirklich, wieso denn, bitte?«

»Es wird kein Monat vergehen, und ich werde Sie frei machen. Ich weiß, auf welche Art und zu wem ich darüber zu sprechen habe.«

»Ich rechne also auf Sie.«

»Das können Sie.«

Dieser blöde Gauner glaubte wirklich, er sei etwas. Er wollte mir erzählen, was man in der Stadt von mir sagte; da er aber nichts weiter wußte, als albernes Geschwätz von Dummköpfen gleicher Art, so langweilte er mich, und um ihn nicht mehr anhören zu müssen, nahm ich ein Buch. Der Kerl besaß die Frechheit, mich zu bitten, ich möchte doch nicht lesen. Seine Leidenschaft war sprechen; aber er sprach nur immer von sich selber.

Ich wagte in Gegenwart dieses Viehs nicht, meine Lampe anzuzünden. Als es Nacht wurde, entschloß er sich, etwas Brot und Cyperwein anzunehmen; dann mußte er sich’s auf meinem Strohsack bequem machen, der von allen neuen Ankömmlingen als Bett benützt wurde.

Am nächsten Morgen bekam er ein Bett und Nahrungsmittel von zu Hause. Ich mußte diese elende Last zwei Monate lang erdulden; denn bevor er ihn in die Quattro schickte, mußte der Sekretär ihn mehrere Male verhören, um allerlei Gaunereien aufzuklären und ihn eine ganze Anzahl unerlaubter Verträge rückgängig machen zu lassen. Er gestand mir selber, daß er von Herrn Domenico Michele Renten gekauft hatte, die dem Käufer erst nach dem Tode des Vaters des Verkäufers gehören konnten. »Allerdings,« sagte er nur, »hat er sich einverstanden erklärt, fünfzig Prozent zu verlieren, aber man muß in Betracht ziehen, daß der Käufer hätte alles verlieren können, wenn der Verkäufer vor dem Vater gestorben wäre.«

Als ich endlich sah, daß der verdammte Geselle nicht ging, entschloß ich mich, meine Lampe wieder anzuzünden, nachdem ich mir von ihm hatte versprechen lassen, daß er schweigen würde. Er hielt sein Versprechen nur, solange er bei mir war, denn Lorenzo erfuhr es. Glücklicherweise legte er keinen Wert darauf.

Der Tölpel war mir wirklich zur Last, erstens weil ich seinetwegen nicht an meiner Flucht arbeiten konnte, zweitens weil er mich am Lesen hinderte. Er war anspruchsvoll, unwissend, abergläubisch, prahlerisch, ängstlich und zuweilen verzweifelt. Er meinte, ich sollte mit lautem Geschrei in seine Klagen einstimmen, so oft er vor Angst Tränen vergoß, und er wiederholte unaufhörlich, die Haft richte seinen guten Ruf zugrunde. Hierüber beruhigte ich ihn mit einer Ironie, die er nicht verstand, indem ich ihm versicherte, sein Ruf stehe schon so lange fest, daß er von dieser neuen Schlappe nichts zu fürchten habe. Er hielt dies für ein Kompliment. Er wollte nicht zugeben, daß er habsüchtig sei; eines Tages jedoch zwang ich ihn hierzu, indem ich ihm das Geständnis entriß, daß er bereit sein würde, sein ganzes Leben unter den Bleidächern zu verbringen, wenn die Inquisitoren ihm für jeden Tag der Haft hundert Zechinen geben wollten.

Er war Talmudist wie alle heutigen Juden, und er wollte mich glauben machen, er sei sehr gelehrt in seiner Religion und hänge sehr an ihr; aber ich entlockte ihm eines Tages ein Lächeln der Zustimmung, als ich ihm sagte, er würde Moses abschwören, wenn der Papst ihn zum Kardinal machen wollte. Als Sohn eines Rabbiners besaß er große Kenntnisse im Zeremoniell seiner Religion; aber er glaubte, das Wesentliche der Religion bestehe in der Beobachtung der äußeren Form; eine Meinung, die ich bei den meisten Menschen gefunden habe.

Dieser Jude war außerordentlich fett; drei Viertel seines Lebens verbrachte er im Bett, und da er oft bei Tage schlief, lag er nachts und ärgerte sich, daß er nicht schlafen konnte, um so mehr, da er meine ruhigen Atemzüge hörte. Eines Tages weckte er mich auf, als ich im schönsten Schlummer lag.

»Was wollen Sie?« rief ich emporfahrend.

»Mein lieber Freund, ich kann nicht schlafen; haben Sie Mitleid mit mir und lassen Sie uns ein bißchen plaudern.«

»Und Sie nennen mich ihren Freund, abscheulicher Mensch? Ich glaube gern, daß Ihre Schlaflosigkeit eine wahre Qual für Sie ist; aber wenn Sie sich noch einmal einfallen lassen, mir das einzige Gut zu rauben, das ich habe, so stehe ich auf und erdrossele Sie!« rief ich in heller Wut.

»Bitte, verzeihen Sie mir und verlassen Sie sich darauf, es wird nicht wieder vorkommen.«

Vielleicht würde ich ihn nicht erwürgt haben; aber ganz gewiß hatte ich die größte Lust dazu. Ein Gefangener, der das Glück hat, im festen Schlafe zu liegen, ist während dieser Zeit kein Sklave mehr; im Schlafe fühlt er nicht die Last seiner Ketten. Ein Gefangener muß also den Unbescheidenen, der ihn aufweckt, als einen Henkersknecht ansehen, der ihn seiner Freiheit beraubt, um ihn wieder ins Elend zurückzustoßen; denn das Erwachen bringt ihn wieder zum Gefühl seines ganzen Unglücks. Dazu kommt noch, daß der schlafende Gefangene meistens träumt, daß er frei sei, gerade wie ein unglücklicher Hungernder im Traume sich an einer besetzten Tafel sitzen sieht.

Ich wünschte mir Glück, daß ich meine große Arbeit nicht vor seiner Ankunft begonnen hatte, um so mehr, da er verlangte, daß ausgefegt würde. Als er es zum ersten Mal verlangte, mußte ich über die Gefängnisknechte lachen; sie sagten ihm nämlich, ich würde den Tod davon haben. Er bestand auf seiner Forderung, und da blieb mir denn nichts anderes übrig, als mich krank zu stellen; denn ich mußte in meinem eigenen Interesse entgegenkommend sein.

Am Mittwoch der heiligen Woche meldete Lorenzo uns, am Nachmittag werde der Sekretär uns den üblichen Osterbesuch machen, um diejenigen zu beruhigen, die das Sakrament des heiligen Abendmahls zu empfangen wünschten, und um zu erfahren, ob sie nichts gegen den Kerkermeister vorzubringen hätten.

»Also, meine Herren, wenn Sie sich über mich zu beschweren haben, so tun Sie es. Kleiden Sie sich vollständig an; denn dies verlangt die Etikette«

Ich befahl Lorenzo, mir für den nächsten Tag einen Beichtiger kommen zu lassen.

Ich zog mich vollständig an, und der Jude folgte meinem Beispiel; doch nahm er zum Voraus Abschied von mir, so sicher glaubte er zu sein, der Sekretär würde ihm die Freiheit wiedergeben, sobald er mit ihm gesprochen hätte.

»Mein Vorgefühl,« sagte er zu mir, »ist von der Art derer, die mich noch niemals getäuscht haben.«

»Ich wünsche Ihnen dazu Glück, aber machen Sie die Rechnung nicht ohne den Wirt.«

Er verstand mich nicht.

Der Sekretär kam. Sobald unser Kerker ausgestoßen war, lief der Jude hinaus und warf sich auf beide Kniee vor ihm nieder. Vier oder fünf Minuten lang hörte ich nur sein Weinen und Geschrei; denn der Sekretär sagte kein Wort zu ihm. Der Jude kam zurück, und Lorenzo sagte mir, ich solle herauskommen. Mit meinem acht Monate alten Bart und in einem Rock, der für Liebesabenteuer im Monat August gemacht worden war, mußte ich bei der herrschenden Kälte einen recht komischen Anblick darbieten. Ich schlotterte vor Frost, und dies war mir sehr unangenehm, denn ich fürchtete, der Sekretär könnte sich einbilden, daß ich vor Furcht zitterte. Da ich mich tief bücken mußte, um aus meinem Loch hinauszukriechen, so war die Verbeugung bereits gemacht. Ich richtete mich wieder auf, sah ihn mit ruhigem Gesicht an, ohne einen übelangebrachten Stolz zu zeigen, und wartete, daß er das Wort an mich richten würde. Der Sekretär schwieg ebenfalls, und so standen wir wie zwei Bildsäulen einander gegenüber. Als er nach zwei Minuten sah, daß ich nichts zu ihm sagte, grüßte der Herr Sekretär mich mit einer leichten Neigung des Kopfes und ging. Ich kehrte in meinen Kerker zurück, zog mich so schnell wie möglich aus und legte mich in mein Bett, um mich wieder zu erwärmen. Der Jude war erstaunt, daß ich dem Sekretär nichts gesagt hätte, während doch in Wirklichkeit mein Schweigen viel mehr gesagt hatte als sein feiges Geschrei. Ein Gefangener wie ich durfte nur vor seinem Richter den Mund auftun, um auf dessen Fragen zu antworten.

Am grünen Donnerstag nahm ein Jesuit mir die Beichte ab, und zwei Tage darauf reichte ein Priester von San Marco mir das heilige Abendmahl. Meine Beichte schien dem lieben Sohne des heiligen Ignatius zu wortkarg zu sein, und er hielt es für angebracht, Ermahnungen an mich zu richten, bevor er mich ledig sprach.

»Beten Sie zu Gott?« fragte er mich.

»Vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen! Denn in der Lage, worin ich mich befinde, kann alles, was in mir vorgeht, mein Denken, meine Ungeduld und sogar jede Verirrung meines Geistes in den Angen der göttlichen Weisheit, die allein mein Herz sieht, nichts anderes als ein Gebet sein.«

Der Jesuit lächelte leise und antwortete mit einer mehr metaphysischen als moralischen Auseinandersetzung, die mit meiner Bemerkung gar nichts zu tun hatte. Ich würde ihn in allen Punkten widerlegt haben, hätte er mich nicht durch eine Prophezeiung erstaunt, welche großen Eindruck auf mich machte. Er sagte: »Da Sie von uns die Relegion gelernt haben, so üben Sie sie wie wir, beten Sie wie wir und erfahren Sie, daß Sie erst am Tage des Heiligen, dessen Namen Sie tragen, von hier loskommen werden!«

Nach diesen Worten erteilte er mir die Absolution und verließ mich. Es ist unglaublich, welchen Eindruck der Mann mir hinterließ; ich wehrte mich dagegen; aber es war mir unmöglich, mich von dem Gedanken frei zu machen. Ich machte mich ans Werk und nahm im Kalender alle Heiligen durch.

Der Jesuit war der Gewissensrat des alten Senators Flaminio Corner, der damals Staatsinquisitor war. Der alte Herr war ein berühmter Schriftsteller, großer. Politiker, sehr fromm und Verfasser von Erbauungsbüchern und asketischen Schriften in lateinischer Sprache. Sein Ruf war ohne Makel.

Da ich also erfahren hatte, daß ich am Tage meines Schutzheiligen mein Gefängnis verlassen sollte, und da ich annehmen durfte, daß der Jesuit, der es mir mitgeteilt hatte, es aus sicherer Quelle wußte, so freute ich mich vor allem, einen Schutzheiligen zu haben. Aber wer ist es? fragte ich mich. Das hätte mir selber der Jesuit nicht sagen können. Sankt Jakob vom Compo-Stella, dessen Namen ich trug, konnte es nicht sein; denn gerade am Tage dieses Heiligen hatte Messer-Grande meine Türe erbrochen. Ich nahm den Kalender her und fand als nächsten Heiligen Sankt Georg, der ja in einigem Rufe steht, an den ich aber niemals gedacht hatte. Ich hielt mich also an den heiligen Markus, dessen Fest auf den fünfundzwanzigsten des Monats fiel und dessen Schutz ich als Venetianer beanspruchen konnte. An ihn richtete ich nun meine Gebete, aber vergebens; denn sein Fest ging vorüber, und ich war immer noch eingesperrt. Nun wählte ich mir den heiligen Jakob, den Bruder Jesu Christi, der vor dem heiligen Philipp kommt, aber wiederum sah ich mich getäuscht. Dann wandte ich mich an den heiligen Antonius, der, wie man in Padua sagt, täglich dreizehn Wunder tut. Für mich tat er kein einziges. So ging ich von einem zum andern und gewöhnte mich unmerklich daran, auf den Schutz der Heiligen nur in der Weise zu hoffen, wie man auf alles hofft, das man wünscht. Ich glaubte nicht mehr daran und setzte zuletzt ein wahres Zutrauen nur in meinen heiligen Spieß und in die Kraft meiner Arme. Indessen hat die Verheißung des Jesuiten sich doch erfüllt, denn ich verließ die Bleikammern am Allerheiligentage, und ganz gewiß mußte, wenn ich einen Heiligen für mich hatte, dieser sich unter denen befinden, zu deren Ehre das Fest gefeiert wird.

Vierzehn Tage nach Ostern befreite man mich von meinem lästigen Israeliten; anstatt nach Hause zu kommen, wurde der arme Teufel auf zwei Jahre in die Quattro geschickt; als er wieder loskam, ließ er sich in Triest nieder, wo er seine Tage beschloß.

Sobald ich mich allein sah, ging ich eifrig ans Werk. Ich mußte mich beeilen, weil ich immer zu befürchten hatte, daß man mir irgend einen neuen Gast schickte, der ebenso lästig war, wie der Jude, und das Ausfegen verlangte. Ich schob mein Bett zur Seite, zündete meine Lampe an und warf mich platt auf den Fußboden; meinen Spieß hatte ich in der Hand und ein Tuch lag neben mir, um die Splitter des Fußbodens aufzunehmen. Ich mußte die Bretter dadurch zerstören, daß ich die Spitze meines Werkzeugs hineinbohrte. Die Stücke, die ich losbrach, waren anfangs nur so groß wie ein Weizenkorn, bald aber wurden sie größer.

Das Brett war von Lärchenholz und sechzehn Zoll breit. Ich begann meine Arbeit an der Stelle, wo das Brett sich an ein anderes anfügte, und da kein Nagel oder eiserner Beschlag vorhanden war, so ging die Arbeit ganz glatt. Nach sechsstündiger Arbeit knotete ich mein Tuch zusammen und legte es auf die Seite, um es am nächsten Morgen hinter den Papierhaufen auszuleeren, der sich in der Dachkammer befand. Die Splitter bildeten einen vier- oder fünfmal größeren Umfang als das Loch, woraus ich sie hervorgeholt hatte. Die Krümmung mochte etwa dreißig Grad betragen und ihr Durchmesser zirka zehn Zoll. Ich rückte mein Bett wieder an seine Stelle, und als ich am nächsten Tage mein Tuch ausleerte, vergewisserte ich mich, daß meine Splitter nicht gesehen werden konnten.

Am nächsten Tage hatte ich das erste Brett, das zwei Zoll dick war, durchbrochen; aber unter demselben fand ich ein zweites, das mir von derselben Beschaffenheit zu sein schien. In meiner Furcht, neue Besuche zu erhalten, verdoppelte ich meine Anstrengungen und war in drei Wochen mit drei Brettern fertig, aus denen der Fußboden bestand. Nun aber glaubte ich mich verloren, denn ich stieß auf eine Schicht von Marmorstücken, die man in Venedig Terrazzo marmorin nennt. Es ist der gewöhnliche Fußboden aller venetianischen Häuser, ausgenommen in den Wohnungen der Armen; denn selbst die vornehmsten Herren ziehen den Terrazzo dem schönsten Parkett vor. Ich war betroffen, als ich sah, daß mein Spieß nicht in diese zusammengekettete Masse eindrang. Dieses Hindernis hätte mich beinahe gänzlich entmutigt. Da fiel mir ein, daß nach Titus Livius Hannibal sich einen Weg durch die Alpen gebahnt, indem er die Felsen durch Hacken oder andere Werkzeuge zerbrechen ließ, nachdem er sie vorher mit Essig erweicht hatte. Ich glaubte, daß Hannibal dies nicht aceto vollbracht hätte, sondern aceta, was in seinem paduanischen Latein recht wohl dasselbe wie Ascia[R1 Zimmeraxt] bedeuten konnte; wer kann übrigens dafür bürgen, daß ein Abschreiber keine Fehler macht? Nichtsdestoweniger goß ich eine Flasche starken Weinessig, den ich besaß, in mein Loch hinein; und sei es nun die Wirkung des Essigs gewesen, sei es, daß ich ausgeruht war und mehr Kraft und Geduld zur Arbeit mitbrachte – genug, ich sah bald, daß ich die neue Schwierigkeit überwinden würde. Ich mußte nicht die Marmorstücke zerbrechen, sondern vielmehr mit der Spitze meines Werkzeugs den Kitt, der sie verband, zerpulvern. Bald bemerkte ich zu meiner großen Freude, daß die Hauptschwierigkeit nur an der Oberfläche lag. In vier Tagen war die ganze Mosaik zerstört, ohne daß die Spitze meines Spießes den geringsten Schaden gelitten hatte.

Unter der Steinschicht fand ich wieder ein Brett, aber dies hatte ich erwartet. Es mußte meiner Meinung nach das letzte sein, das heißt: das erste von unten an gerechnet, in der Decke, die sich über dem Saal befand. Ich nahm es mit einiger Schwierigkeit in Angriff; denn da mein Loch zehn Zoll tief war, war die Handhabung meines Spießes schon recht unbequem. Tausendmal empfahl ich mich der Barmherzigkeit Gottes. Die Freigeister, welche behaupten, das Gebet sei nichts wert, wissen nicht, was sie sagen. Ich aber weiß aus Erfahrung, daß ich immer viel stärker war, nachdem ich zu Gott gebetet hatte. Dies genügt, um die Nützlichkeit des Gebetes zu erweisen, mag nun die Vermehrung der Kraft unmittelbar von Gott herrühren oder nur von dem Vertrauen, das man zu ihm hat.

Am 25. Juni feiert allein auf der ganzen Welt die Republik Venedig die wunderbare Erscheinung des heiligen Markus unter der symbolischen Form eines geflügelten Löwen in der Kirche des Dogen. Man ist überzeugt, diese Erscheinung habe gegen Ende des elften Jahrhunderts stattgefunden; sie zeigte der hohen Weisheit des zu jener erleuchteten Zeit herrschenden Senates an, daß es angebracht sei, den heiligen Theodor, der nicht mehr Einfluß genug hätte, den Venetianern bei ihren Vergrößerungsplänen zu helfen, nunmehr auf die Seite zu schieben und dafür den Schüler des heiligen Petrus und des heiligen Paulus zu erwählen. An diesem Tage lag ich gegen drei Uhr nachmittags völlig nackt und schweißüberströmt glatt auf dem Bauch und arbeitete an der Fertigstellung meines Loches; neben mir stand meine angezündete Lampe, um mir bei der Arbeit zu leuchten. Plötzlich hörte ich zu meinem tödlichen Entsetzen den Riegel des ersten Korridors kreischen und dessen Tür sich öffnen. Entsetzlicher Augenblick! Ich blies die Lampe aus, ließ meinen Spieß im Loch, warf das Tuch mit den Holzsplittern hinein und brachte schnell, so gut ich es konnte, mein Bett in Ordnung, indem ich Strohsack und Matratze darüber hinwarf. Dann sank ich wie tot auf mein übriges Bettzeug hin. In demselben Augenblick öffnete sich die Tür meines Kerkers. Wäre er zwei Minuten früher gekommen, so hätte Lorenzo mich überrascht. Er wäre beinahe auf mich getreten; als ich aber einen Schmerzensschrei ausstieß, trat er zurück und rief: »Mein Gott, lieber Herr, Sie tun mir wirklich leid; man erstickt ja hier wie in einem Backofen. Stehen Sie auf und danken Sie Gott, der Ihnen ausgezeichnete Gesellschaft schickt! Nur herein, herein, Exzellenz!« sagte er zu dem Unglücklichen, der ihm folgte.

Ohne auf meine Nacktheit Rücksicht zu nehmen, ließ der Kerl den Illustrissimo eintreten, der bei meinem Anblick entsetzt zurückwich, während ich vergeblich nach meinem Hemd suchte. Der Neue glaubte in die Hölle gekommen zu sein und rief: »Wo bin ich? In was für ein Loch steckt man mich, großer Gott! Welche Hitze! Welcher Gestank! Wer ist hier drinnen?« Lorenzo ließ ihn hinausgehen und bat mich, ein Hemd abzuziehen und einen Augenblick in die Dachkammer einzutreten. Dann sagte er dem neuen Gefangenen, er habe Befehl, ihm ein Bett und alles Notwendige zu besorgen, und lasse uns bis zu seiner Rückkehr in der Dachkammer; unterdessen werde der schlechte Geruch, der nur von Öl herrühre, sich aus dem Gefängnis verziehen. Welche Überraschung für mich, ihm diese letzten Worte sagen zu hören! In der Übereilung hatte ich versäumt, den Docht auszudrücken, nachdem ich die Lampe ausgeblasen hatte. Da Lorenzo mich nicht darüber befragte, so nahm ich an, er müsse alles wissen, und nur der unglückselige Jude hatte mich verraten können. Wie freute ich mich, daß er ihm nicht noch mehr hatte sagen können!

In diesem Augenblick fühlte ich den Abscheu schwinden, den ich bisher gegen Lorenzo empfunden hatte.

Nachdem ich ein Hemd angezogen und meinen Schlafrock übergeworfen, ging ich hinaus und fand meinen neuen Gefährten beschäftigt, mit Bleistift aufzuschreiben, was der Schließer ihm bringen sollte. Kaum war sein Blick auf mich gefallen so rief er aus: »Ah, Casanova!« Ich erkannte sofort den Abbate Fenarolo aus Brescia, einen Mann von etwa fünfzig Jahren, liebenswürdig, reich und in der guten Gesellschaft beliebt. Er umarmte mich, und als ich ihm sagte, ich hätte eher ganz Venedig hier oben zu sehen erwartet als ihn, konnte er seine Tränen nicht zurückhalten, und auch ich weinte vor Rührung. Sobald wir allein waren, sagte ich ihm, ich würde ihm, wenn sein Bett gebracht würde, den Alkoven anbieten, aber ich bäte ihn, diesen nicht anzunehmen. Ferner bat ich ihn, er möchte nicht verlangen, daß ausgefegt würde; den Grund würde ich ihm später mitteilen. Er versprach mir, er werde alles aufs strengste geheim halten, und sagte mir, er schätze sich glücklich, daß man ihn zu mir geführt habe. Er erzählte mir ferner: da niemand das Verbrechen kenne, wegen dessen ich unter den Bleidächern sei, so wolle ein jeder es erraten. Die einen behaupteten, ich sei das Oberhaupt einer neuen Sekte; andere, Frau Memmo habe den Inquisitoren eingeredet, ich verführe ihre Söhne zum Atheismus; noch andere behaupteten, Antonio Condulmer habe mich als Staatsinquisitor wegen Störung des öffentlichen Friedens einsperren lassen, weil ich die Theaterstücke des Abbate Chiari ausgepfiffen habe und mit dem Gedanken umgegangen sei, eigens nach Padua zu reisen, um ihn zu töten.

Alle diese Anschuldigungen waren bis zu einem gewissen Grade begründet und erhielten dadurch einen Anstrich von Wahrscheinlichkeit; im Grunde aber waren sie alle vollständig falsch. Ich machte mir zu wenig aus der Religion, um mir mit der Begründung einer neuen den Kopf zu zerbrechen. Die geistvollen Söhne der guten Frau Memmo waren eher dazu angetan, zu verführen, als verführt zu werden, und der Herr von Condulmer hätte viel zu tun gehabt, wenn er alle Leute hätte einsperren lassen, die den Abbate Chiari auspfiffen. Diesem Abbate aber und Exjesuiten hatte ich verziehen, denn der berühmte Vater Origo, ebenfalls Exjesuit, hatte mich gelehrt, mich dadurch an Chiari zu rächen, daß ich in allen Gesellschaften Gutes von ihm sagte, wodurch die boshaften Zuhörer dazu angeregt wurden, tausend Satiren gegen ihn vorzubringen; so fand ich mich gerächt, ohne mir selber Mühe zu machen.

Gegen Abend brachte man ein gutes Bett, schöne Wäsche, wohlriechende Wasser, ein gutes Abendessen und ausgezeichnete Weine. Der Abbate bezahlte den gewöhnlichen Tribut, d. h. er aß nichts. Dafür speiste ich ausgezeichnet für zwei. Sobald Lorenzo uns guten Abend gewünscht und bis zum nächsten Tage wieder eingeschlossen hatte, holte ich meine Lampe hervor, die ich leer fand, denn das Tuch hatte alles Öl aufgesaugt. Ich mußte darüber herzlich lachen, indem ich mir die Verwirrung vorstellte, die dadurch hätte hervorgerufen werden können, daß durch den Docht das Tuch angezündet worden und dadurch eine Feuersbrunst ausgebrochen wäre. Ich teilte meine Gedanken meinem Genossen mit, der darüber ebenfalls lachte; hierauf zündete ich meinen Lichtspender wieder an, und wir verbrachten die Nacht in sehr angenehmen Gesprächen. Folgendes war die Geschichte meiner Verhaftung:

»Gestern nachmittag um drei Uhr stiegen Frau Alessandri, Graf Martinengo und ich in eine Gondel. Wir fuhren nach Padua, um dort die Oper zu sehen und dann sofort nach Venedig zurückzukehren. Während des zweiten Aktes trieb mich mein böser Geist, einen Augenblick in den Spielsaal zu gehen, wo ich das Unglück hatte, den österreichischen Gesandten Grafen Rosenberg mit abgenommener Maske zu sehen. Zehn Schritte von ihm stand Frau Ruzzini, deren Mann als Gesandter der Republik nach Wien gehen soll. Ich begrüßte beide und wollte mich entfernen, als der Gesandte laut zu mir sagte: ›Sie sind recht glücklich, daß Sie einer so liebenswürdigen Dame den Hof machen können. In solchen Augenblicken macht die Stellung, die ich hier einnehme, das schönste Land für mich zu einer Galere. Bitte sagen Sie ihr, die Gesetze, die mich hier verhindern, mit ihr zu sprechen, seien in Wien nicht in Geltung; dort würde ich sie nächstes Jahr sehen und ihr dann den Krieg erklären!‹ Frau Ruzzini sah, daß von ihr gesprochen wurde, und fragte mich, was der Graf gesagt habe; ich erzählte es ihr Wort für Wort. ›Antworten Sie ihm,‹ sagte sie zu mir, ›ich nehme die Kriegserklärung an, und wir werden sehen, wer von uns beiden am besten fechten kann.‹ Ich glaubte kein Verbrechen zu begehen, indem ich diese Antwort überbrachte, die doch im Grunde nur ein Kompliment war. Nach der Oper nahmen wir ein leichtes Abendessen zu uns; dann fuhren wir zurück und kamen um Mitternacht hier an. Ich wollte gerade zu Bett gehen, als ein Bote mir einen Brief überbrachte. Dieser enthielt den Befehl, mich um ein Uhr mittags in der Bussola einzufinden, da der Sekretär des Rates der Zehn, Herr Businello, mit mir zu sprechen habe. Erstaunt über einen solchen Befehl, der stets von schlimmer Vorbedeutung ist, und ärgerlich, ihm gehorchen zu müssen, begab ich mich zur bestimmten Stunde an den bezeichneten Ort; der Herr Sekretär würdigte mich nicht eines einzigen Wortes und befahl, mich hierher zu bringen.«

Gewiß war der vom Grafen Fenarolo begangene Fehltritt nichts weniger als ein Verbrechen; aber es gibt Gesetze, die man in aller Unschuld übertreten kann, und deren Übertretung trotzdem strafbar ist. Ich wünschte ihm Glück dazu, daß ihm sein Verbrechen bekannt sei, und sagte ihm, man werde ihn nach achttägiger Haft entlassen und ihn zugleich bitten, sechs Monate in Brescia zu verbringen. »Ich glaube nicht,« sagte er zu mir, »daß man mich acht Tage hier läßt.« Ich beließ ihn bei seinem Glauben; aber meine Weissagung erfüllte sich. Ich beschloß, ihm gute Gesellschaft zu leisten, um seine Erbitterung über die Verhaftung zu lindern, und ich versetzte mich so vollständig in seine Lage, daß ich meine eigene völlig vergaß.

Am nächsten Tage gleich nach Sonnenaufgang brachte Lorenzo Kaffee und einen Korb mit allem, was zu einem guten Mittagessen nötig ist. Der Abbate war sehr überrascht, denn er begriff nicht, wie man von ihm annehmen konnte, daß er zu solcher Stunde Lust zum Essen hätte. Man ließ uns eine Stunde in der Dachkammer spazieren gehen; hierauf schloß man uns wieder ein, und damit waren wir für den Tag erledigt. Die Flöhe, die uns peinigten, veranlaßten ihn, mich zu fragen, warum ich nicht ausfegen ließe. Unmöglich konnte ich ihn glauben lassen, daß ich an solcher Unsauberkeit Gefallen fände oder daß meine Haut härter sei als die seinige. Ich sagte ihm alles. Er war betrübt, mich gewissermaßen gezwungen zu haben, ihm ein so wichtiges Geständnis zu machen; aber er ermutigte mich, meine Arbeit eifrig fortzusetzen und sie womöglich noch an demselben Tage zu beendigen. Er wolle mir helfen, mich in den untern Saal herabzulassen und wolle hierauf den Strick wieder hoch ziehen; indessen wolle er seine eigene Angelegenheit nicht durch eine Flucht verschlimmern. Ich zeigte ihm das Modell einer Vorrichtung, mittels derer ich sicher war, das Bettuch, das mir als Strick dienen sollte, nach dem Gebrauch zu mir herunter zu ziehen; das war ein kleines Stäbchen, an dessen einem Ende ein langer Bindfaden befestigt war. Mein Strick sollte an meiner Bettstelle nur mittels dieses Stäbchens befestigt sein; der Bindfaden hing bis zum Fußboden des Inquisitorensaales hinunter; sobald ich unten war, machte ich mit einem Ruck das Stäbchen frei und die Bettücher fielen zu Boden. Er überzeugte sich von der sicheren Wirkung und wünschte mir Glück dazu. Diese Vorsichtsmaßregel war unerläßlich; denn wenn die Bettücher hängen geblieben wären, hätte ich durch sie sofort verraten werden müssen. Lorenzo wäre es augenblicklich gewahr geworden, wenn er durch den Saal der Gefängnisse ging. Dann hätte er mich sofort gesucht, gefunden und angehalten. Mein edler Genosse ließ sich von mir überzeugen, daß ich meine Arbeit aufschieben mußte; denn ich mußte vor einer Überraschung auf der Hut sein, da ich noch mehrere Tage brauchte, um das Loch fertig zu machen, das dem Schließer Lorenzo das Leben kosten sollte. Konnte wohl der Gedanke mich zurückhalten, daß ich meine Freiheit auf Kosten eines solchen Menschen erkaufte? Ich hätte ebenso gehandelt, und wenn auch meine Flucht allen Sbirren der Republik und sogar den Inquisitoren selber hätte das Leben kosten sollen. Sogar das Heiligste von allem, das Vaterland, wird ein Nichts dem Menschen, den es unterdrückt!

Meine gute Laune hielt meinem Gefährten nicht alle Anfälle von Schwermut fern. Er liebte Frau Alessandri, vormals Sängerin und jetzige Geliebte oder Gattin seines Freundes Martinengo, und er wurde ohne Zweifel erhört; aber je glücklicher ein Liebhaber ist, desto unglücklicher wird er, wenn man ihn von der Geliebten fern hält. Er seufzte, er vergoß Tränen, und oft rief er aus, er liebe eine Frau, die ein Muster aller Tugenden sei. Ich beklagte ihn, und es fiel mir nicht ein, ihm zum Troste zu sagen, daß die Liebe nur eine Kleinigkeit sei. Dieser Trost, den oft die Toren Liebenden geben, ist kein Trost; es ist nicht einmal wahr, daß die Liebe nur eine Kleinigkeit ist.

Die acht Tage, die ich ihm prophezeit hatte, vergingen sehr schnell. Ich verlor den lieben Gefährten, aber ich hielt mich nicht damit auf, ihm nachzutrauern: er bekam seine Freiheit wieder, und das war für mich Grund genug, mich zu freuen. Ich dachte nicht daran, ihn zur Verschwiegenheit zu ermahnen; der geringste Zweifel in dieser Hinsicht hätte seine schöne Seele beleidigt. Während der acht Tage, die er bei mir verbrachte, nährte er sich nur von Suppe, Früchten und Canarienwein; sein gutes Essen verzehrte ich, und dies machte ihm viel Freude. Beim Abschied schworen wir uns die innigste Freundschaft.

Am nächsten Tage legte Lorenzo mir Rechnung über mein Geld ab. Es war ein Rest von vier Zechinen zu meinen Gunsten vorhanden, und er wurde gerührt, als ich ihm sagte, daß ich sie seiner Frau schenkte. Ich sagte ihm nicht, daß es Mietgeld für die Lampe sei, aber er konnte sich dies wohl denken.

Ich nahm nun meine Arbeit wieder auf und setzte sie ohne Unterlaß fort; am 23. August sah ich sie fertig. Daß es so lange dauerte, daran war ein sehr natürliches Ereignis schuld: das letzte Brett durchbohrte ich mit der größten Vorsicht, indem ich ganz allmählich einen Splitter nach dem andern abhob, bis das Brett sehr dünn geworden war; als ich bis an die Oberfläche vorgedrungen war, legte ich mein Auge an ein kleines Loch, durch welches ich das Zimmer der Inquisitoren sehen mußte. Ich sah es auch wirklich, bemerkte aber zur gleichen Zeit einen Balken von etwa acht Zoll Dicke. Was ich immer gefürchtet hatte, war geschehen: ich war auf einen der Deckbalken gestoßen. Dies zwang mich, meine Öffnung nach der entgegengesetzten Seite zu erweitern; denn durch den Balken wäre der Durchgang so eng geworden, daß meine ziemlich kräftige Gestalt niemals hindurch gekonnt hätte. Ich vergrößerte also das Loch um ein Viertel, wobei ich zwischen Furcht und Hoffnung schwebte; denn es hätte wohl sein können, daß der Raum zwischen diesem bis zum nächsten Deckbalken nicht ausreichte. Als ich mit der Erweiterung fertig war, erlaubte ein zweites kleines Loch mir, festzustellen, daß Gott mein Werk gesegnet hatte. Die kleinen Löcher stopfte ich sorgfältig wieder zu, damit nichts in den Saal hinunterfalle und kein Strahl meiner Lampe von dort aus gesehen werden könne; denn dadurch wäre ich entdeckt worden und wäre verloren gewesen.

Ich setzte meine Entweichung auf die Nacht vor dem Augustinustage fest, weil ich wußte, daß aus Anlaß dieses Festes der Große Rat sich versammelte und daß infolgedessen niemand sich in der Bussola befinden würde, die unmittelbar an das Zimmer stieß, durch das ich auf meiner Flucht hindurch mußte. Die Ausführung sollte also am 27. stattfinden; aber am Mittag des 25. August stieß mir ein Unglück zu, dessen Erinnerung mich noch jetzt schaudern macht, obgleich seitdem so viele Jahre verflossen sind.

Genau um zwölf Uhr hörte ich das Geräusch der Riegel, und ich glaubte zu sterben; mich befiel ein so heftiges Herzklopfen, daß ich fürchtete, mein letzter Augenblick sei gekommen. Halb bewußtlos warf ich mich in meinen Lehnstuhl und wartete. Lorenzo trat in die Dachkammer ein und rief mir mit fröhlicher Stimme durch mein Gitterfenster zu: »Ich wünsche Ihnen Glück zu der guten Nachricht, die ich bringe.«

Ich glaubte, er wollte mir melden, daß ich frei wäre, denn an etwas anderes dachte ich nicht. Ich erzitterte bei dem Gedanken; denn ich fühlte, daß durch die Entdeckung des Lochs meine Begnadigung rückgängig gemacht worden wäre.

Lorenzo trat ein und sagte mir, ich solle mitkommen.

»Wartet, ich werde mich anziehen.«

»Das ist nicht nötig; denn Sie brauchen nur von diesem schlechten Gefängnis nach einem andern ganz neuen zu gehen, wo Sie durch zwei Fenster eine Aussicht über halb Venedig haben und wo Sie aufrecht stehen können.«

»Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe und sagte zu ihm: »Gebt mir Essig und sagt dem Sekretär, ich danke dem Tribunal für diese Gnade, aber ich bitte, mich hier zu lassen.«

»Sie machen mich lachen, mein Herr! Sind sie verrückt geworden? Man will Sie aus der Hölle befreien und Sie ins Paradies bringen, und Sie weigern sich! Vorwärts, vorwärts! Der Befehl muß befolgt werden; stehen Sie auf! Ich werde Ihnen den Arm geben und werde durch die Knechte ihre Sachen und ihre Bücher hinüber bringen lassen.«

Da ich sah, daß jeder Widerstand vergeblich war, stand ich auf. Ich fühlte eine große Erleichterung, als ich hörte, daß einem der Sbirren befohlen wurde, mir meinen Lehnstuhl nachzutragen: also folgte mir mein Spieß und mit ihm die Hoffnung. Gar zu gern hätte ich auch mein schönes Loch mitnehmen mögen, das mir so viele Mühe gekostet, und worauf ich so viele Hoffnungen gesetzt hatte, die nun alle verloren waren. Ich kann wohl sagen: als ich diesen schrecklichen Ort der Schmerzen verließ, blieb meine ganze Seele dort zurück.

Auf Lorenzos Schultern gestützt, der durch seine dummen Späße mich zu erheitern glaubte, durchschritt ich zwei enge Korridore. Dann ging es drei Stufen hinab, und ich betrat einen sehr hellen Saal; in der linken Ecke desselben führte eine kleine Türe in einen anderen, zwei Fuß breiten und ungefähr zwölf Fuß langen Korridor, und in der Ecke war mein neues Gefängnis. Dieses hatte ein vergittertes Fenster nach dem Korridor hinaus, der durch zwei ebenfalls vergitterte Fenster sein Licht erhielt, und durch diese hatte man eine herrliche Aussicht bis zum Lido.

Ich war in diesem traurigen Augenblick nicht in der Stimmung, mich daran zu freuen. Indessen sah ich später mit Vergnügen, daß durch dieses Fenster, wenn es offen war, ein sanfter und frischer Wind eindrang, der die unerträgliche Hitze milderte. Dies war ein wahrer Balsam für den Unglücklichen, der hier oben atmen mußte, besonders während der heißen Jahreszeit.

Wie der Leser sich denken kann, fanden alle diese Beobachtungen erst später statt. Als ich mein neues Gefängnis betreten hatte, ließ Lorenzo meinen Lehnstuhl hineinstellen; dann entfernte er sich mit den Worten, den Rest meiner Sachen werde er mir bringen lassen.

Zenos Stoizismus und die Ataraxie der Pyrrhonianer beschäftigen den Geist mit sonderbaren Vorstellungen. Sie werden gepriesen und belacht, bewundert und verspottet. Nur bedingungsweise halten die Gelehrten sie für möglich. Aber nach meiner Meinung kann jeder Richter über moralisch Mögliches und Unmögliches immer nur von sich selber sprechen; denn wenn man redlich ist, kann man eine innere Kraft nicht anerkennen, deren Keim man nicht in sich selber fühlt. Und so finde ich in mir selbst, daß der Mensch durch eine mühe- und kunstvoll erworbene Kraft vielleicht Wehklagen über den Schmerz unterdrücken und sich gegen seine ersten Anfälle erwehren kann. Aber dies ist auch alles. Das abstine et sustine – Enthaltsamkeit und Geduld kennzeichnet einen guten Philosophen. Aber die körperlichen Schmerzen, die ein Stoiker empfindet, werden denen eines Epikuräers nichts nachgeben. Die Schmerzen brennen heftiger den, der sie verbirgt, als den, der sich durch Klagen eine wirkliche Erleichterung verschafft. Der Mensch, der bei einem für ihn entscheidenden Ereignis gleichgültig erscheinen will, trägt nur den leeren Schein des Gleichmuts zur Schau, falls er nicht etwa blödsinnig oder verrückt ist. Der sich völliger Ruhe rühmt, der lügt – und Sokrates möge mir diese Bemerkung nicht übel nehmen. Ich will dem Zeus alles glauben, sobald er mir zeigt, daß er das Geheimnis gefunden hat, der Natur das Erbleichen und Erröten, das Lachen und Weinen zu verwehren.

Unbeweglich wie eine Bildsäule saß ich in meinem Lehnstuhl und erwartete das Gewitter. Und doch hatte ich keine Furcht. Mich lähmte nur der niederschmetternde Gedanke, daß alle Mühe und Pläne verloren waren. Trotzdem empfand ich keine Reue, sondern nur Bedauern. Nicht an die Zukunft zu denken war der einzige Trost, den ich mir beschaffen konnte.

Indem ich meine Gedanken zu Gott erhob, konnte ich nicht umhin, das neue Unglück, das mich traf, als eine Strafe anzusehen, die Gott selber mir sandte, weil ich nicht geflohen war, sobald die Mittel dazu bereit waren. Indessen, wenn ich auch anerkannte, daß ich drei Tage früher hätte entspringen können, so mußte ich doch die Strafe zu hart finden; denn ich hatte mein Unternehmen nur aus Vorsicht aufgeschoben, und dies schien mir eher eine Belohnung zu verdienen; denn wenn ich meiner eigenen Ungeduld gefolgt wäre, so hätte ich allen Gefahren getrotzt. Aus Gründen der Vernunft hatte ich meine Flucht auf den 27. August verschoben; um gegen diese Vernunft zu handeln, hätte es einer Offenbarung bedurft, und so verrückt hatte mich das Buch der Maria von d’Agrada noch nicht gemacht.