Henriette empfängt Herrn d’Antoine. – Ich verliere diese liebenswürdige Frau, die ich bis Genf begleite. – Ich kehre über den St. Bernhard nach Parma zurück. – Brief Henriettens. – Meine Verzweiflung. – De la Haye schließt sich mir an. – Ärgerliches Abenteuer mit einer Schauspielerin und dessen Folgen. – Ich werde fromm. – Bavois. – Mystifikation eines renommistischen Offiziers.
Das Herz schwer von Sorgen kam ich nach Hause und berichtete sofort Henrietten alles, was mir Herr d’Antoine gesagt hatte; hierauf übergab ich ihr seinen Brief, der vier Seiten lang war. Sie las ihn aufmerkfam in sichtlicher Erregung und sagte mir dann: »Lieber Freund, nimm es nicht übel, aber die Ehre zweier Familien erlaubt mir nicht, dich diesen Brief lesen zu lassen; ich sehe mich gezwungen, Herrn d’Antoine zu empfangen, der mein Verwandter zu sein behauptet.«
»So beginnt also jetzt«, rief ich aus, »der letzte Akt! Furchtbarer Gedanke! Mir naht das Ende eines allzu vollkommenen Glückes! Ich Unglücklicher! Wozu brauchte ich so lange in Parma zu bleiben! Welche Verblendung! Von allen Städten der Welt, Frankreich ausgenommen, war Parma die einzige, die ich fürchten mußte; und hierhin habe ich dich geführt, während ich mit dir nach jedem anderen Ort gehen konnte; denn du kanntest keinen anderen Willen als den meinen. Meine Schuld ist um so größer, da du mir niemals deine Befürchtungen verhehlt hast. Ach, warum habe ich diesen verhängnisvollen Dubois bei uns eingeführt! Mußte ich nicht voraussehen, daß seine Neugier uns früher oder später Unheil bringen würde! Und ich kann diese Neugier nicht einmal verdammen, denn sie ist vollkommen natürlich. Ich kann nur allen Vollkommenheiten schuld geben, mit denen die Natur dich begabt hat! Vollkommenheiten, die mich glücklich gemacht haben und die mich jetzt in einen Abgrund der Verzweiflung stürzen werden, denn ach, ich sehe die entsetzlichste Zukunft voraus!«
»Ich bitte dich, mein zärtlicher Freund, sieh nichts voraus und mäßige dich. Laß uns unsere ganze Vernunft anwenden, um über den Ereignissen zu stehen. Ich werde auf diesen Brief nicht antworten; aber du mußt ihm schreiben, er möge morgen um drei Uhr in seinem Wagen hierherkommen, und du mußt ihn bitten, sich anmelden zu lassen.«
»Ach, welch qualvolles Opfer legst du mir auf?«
»Du bist mein bester, mein einziger Freund; ich verlange nichts, ich lege dir keinen Zwang auf; aber würdest du dich weigern …«
»Nein, niemals, nichts! Verfüge über mich im Leben und Sterben!«
»Ich wußte deine Antwort voraus, du wirst bei mir sein, wenn er kommt; aber nachdem du dich anstandshalber einige Augenblicke unterhalten hast, wirst du unter irgend einem Vorwand in ein Zimmer gehen und uns allein lassen. Herr d’Antoine kennt meine ganze Geschichte; er kennt meine Verfehlungen, aber auch meine Gründe, und er weiß, daß er als Ehrenmann und als Verwandter mich vor jedem Schimpf bewahren muß. Er wird nur im Einverständnis mit mir handeln, und wenn er daran denken sollte, gegen die Bedingungen zu verstoßen, die ich ihm vorschreiben werde, so werde ich nicht nach Frankreich gehen, sondern dir folgen, wohin du willst, und dir mein ganzes übriges Leben widmen. Bedenke jedoch, lieber Freund, daß verhängnisvolle Umstände es dahin bringen können, daß wir unsere Trennung als den besten Entschluß betrachten müßten. Wir müssen stark sein, um diesen Entschluß zu fassen und hoffen zu können, daß wir nicht unglücklich werden. Vertraue auf mich und sei überzeugt, ich werde meine Maßnahmen zu treffen wissen, um mir den Anteil von Glück zu sichern, dessen ich werde genießen können, nachdem ich des einzigen Menschen beraubt bin, dem jemals meine ganze zärtliche Liebe gegolten hat. Du wirst, das erwarte ich von deiner großen Seele, in derselben Weise für deine Zukunft sorgen, und ich bin gewiß, daß du Erfolg haben wirst. Unterdessen laß uns alle traurigen Vorgefühle von uns fern halten, die die Augenblicke verdüstern könnten, die uns noch beschieden sind.«
»Ach, warum sind wir nicht sofort nach der verhängnisvollen Begegnung mit diesem unseligen Günstling des Fürsten abgereist.«
»Wir hätten vielleicht sehr übel daran getan; denn möglicher Weise würde alsdann Herr d’Antoine sich entschlossen haben, meiner Familie seinen Eifer zu beweisen, indem er Nachforschungen angestellt hätte, um uns zu entdecken. Hierdurch hätte ich Gewalttätigkeiten ausgesetzt werden können, die du nicht geduldet haben würdest und die uns beide ins Unglück gestürzt haben würden.«
Ich tat alles, was sie wollte; aber von diesem Augenblicke an begann unsere Liebe traurig zu werden, und die Traurigkeit ist eine Krankheit, die schließlich die Liebe tötet. Wir saßen oft stundenlang einander gegenüber, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Nur Seufzer brachen aus unserer Brust hervor, trotz allen Anstrengungen, die wir machten, sie zurückzuhalten. Als am andern Morgen Herr d’Antoine kam, befolgte ich genau die Weisung, die sie mir gegeben hatte, und verbrachte allein sechs tödlich lange Stunden, zum Schein mit Schreiben beschäftigt.
Meine Tür stand offen, und in dem Spiegel meines Zimmers konnten wir uns gegenseitig sehen. Sie verbrachten diese sechs Stunden mit Schreiben, indem sie sich von Zeit zu Zeit unterbrachen, um über, ich weiß nicht was, zu sprechen; aber ihre Besprechung mußte sehr wichtig sein. Der Leser kann sich leicht die Qualen dieser Tortur ausdenken: ich konnte nicht erraten, worum es sich handelte, aber ich wußte, daß mein Glück zerstört wäre.
Sobald der furchtbare d’Antoine gegangen war, kam Henriette zu mir, und als ich sah, daß ihr die Tränen hoch in den Augen standen, stieß ich einen Seufzer aus, auf den sie sich bemühte, mit einem Lächeln zu antworten.
»Ist es dir recht, lieber Freund, wenn wir morgen abreisen?«
»Oh, Himmel, gewiß ist es mir recht! Wohin soll ich dich führen?«
»Wohin du willst; aber wir müssen in vierzehn Tagen wieder hier sein.«
»Hier, traurige Illusion!«
»Ja leider! Ich habe mein Wort gegeben, in Parma zu sein und hier die Antwort auf einen von mir geschriebenen Brief zu empfangen. Du kannst dich darauf verlassen, daß wir keinerlei Gewalttat zu befürchten haben; aber ich kann es hier nicht länger aushalten.«
»Ach, und ich verfluche den Augenblick, wo mein Fuß diese Stadt betreten hat; ist es dir recht, daß wir nach Mailand gehen?«
»Nach Mailand? Sehr schön.«
»Da wir unglücklicherweise hierher zurückmüssen, können Caudagna und seine Schwester mit uns gehen.«
»Vortrefflich.«
»Laß mich nur machen; sie bekommen einen Wagen für sich und nehmen dein Violoncello mit; mir scheint, du müßtest Herrn d’Antoine mitteilen, wohin du gehst.«
»Mir scheint im Gegenteil, ich bin ihm darüber keine Rechenschaft schuldig; um so schlimmer für ihn, wenn er einen Augenblick daran zweifeln kann, daß ich mein Wort halten werde.«
Am nächsten Tage packten wir die zu einer vierzehntägigen Abwesenheit notwendigen Sachen ein und reisten ab. Wir kamen in unfroher Stimmung, ohne daß wir unterwegs etwas erlebt hätten, in Mailand an und blieben dort, ganz für uns allein, vierzehn Tage; wir sahen dort kein anderes Gesicht, als den Gastwirt, einen Schneider und eine Schneiderin. Ich machte meiner Henriette ein Geschenk, einen Luchspelz, den sie sehr wert hielt.
Henriette fragte mich aus Zartgefühl niemals nach dem Zustand meiner Börse; ich wußte ihr Dank dafür; aber ich trug auch Sorge, sie niemals ahnen zu lassen, daß diese der Erschöpfung nahe war; bei unserer Rückkehr nach Parma hatte ich noch drei bis vierhundert Zechinen. Am Tage nach unserer Rückkehr lud Herr d’Antoine sich ohne Umstände zum Essen ein. Nach dem Kaffee ließ ich ihn mit seiner Verwandten allein. Ihre Verhandlung dauerte ebensolange wie die erste, und es wurde dabei beschlossen, daß wir uns trennen müßten. Sobald d’Antoine fort war, kam sie zu mir und sagte es mir, und lange ließen wir in düsterem Schweigen unsere Tränen zusammenfließen.
»Wann werde ich mich von dir trennen müssen, heißgeliebtes Weib?«
»Fasse dich, mein zärtlicher Freund: wir trennen uns in Genf, wohin du uns führen wirst. Besorge mir morgen eine passende Kammerjungfer. Mit ihr werde ich mich von Genf aus an meinen Bestimmungsort begeben.«
»Wir werden also noch einige Tage zusammen verbringen! Ich kenne nur Dubois, dem ich mich anvertrauen könnte, um mir eine anständige Person zu besorgen, und es ist mir ärgerlich, daß dieser neugierige Mensch durch sie erfahren könnte, was dir nicht lieb wäre.«
»Er wird nichts erfahren; denn in Frankreich nehme ich eine andere.«
Dubois fühlte sich geehrt durch den Auftrag und kam drei Tage darauf zu Henrietten, um ihr eine Frau in mittleren Jahren vorzustellen; sie war ziemlich gut angezogen und wußte sich anständig zu benehmen. Aber sie war arm und daher glücklich, eine Gelegenheit zu finden, um nach ihrer französischen Heimat zurückzukehren. Ihr Mann, ein früherer Offizier, war vor einigen Monaten gestorben und hatte sie von allem entblößt zurückgelassen. Henriette nahm sie in ihren Dienst und sagte ihr, sie möchte sich bereit halten, jeden Augenblick abreisen zu können, sobald Dubois ihr Bescheid geben würde. Am Tage vor unserer Abreise kam Herr d’Antoine zu uns zum Essen; beim Abschied gab er Henrietten einen geschlossenen Brief für Genf.
Wir reisten von Parma mit Einbruch der Nacht ab und hielten nur in Turin zwei Stunden an, um einen Bedienten anzunehmen, der uns bis Genf begleiten sollte. Am nächsten Tage überschritten wir den Mont-Cenis in Sänften, zu Tal fuhren wir im Bergschlitten. Am fünften Tage kamen wir in Genf an und stiegen im Gasthof zur Wage ab. Am nächsten Tage gab Henriette mir einen Brief an den Bankier Tronchin, der, sobald er ihn gelesen hatte, mir sagte, er werde mir persönlich tausend Louis überbringen. Ich ging nach Hause, und wir setzten uns zu Tische. Wir saßen noch beim Essen, als der Bankier sich melden ließ. Er gab uns die tausend Louis in Gold und sagte Henrietten, er werde ihr zwei Leute besorgen, für die er bürgen könne. Sie antwortete ihm, sie würde abreisen, sobald sie den Wagen hätte, den er nach dem ihr von mir überbrachten Brief besorgen sollte. Er versicherte ihr, am nächsten Tage würde alles bereit sein, und empfahl sich. Es war ein furchtbarer Augenblick. Wir saßen, wie zu Eis erstarrt, unbeweglich in düsterem Schweigen; tiefste Traurigkeit drückte uns zu Boden.
Endlich brach ich das Schweigen, um ihr zu sagen, der Wagen, den Herr Tronchin ihr liefern würde, könnte unmöglich so bequem und sicher sein, wie der meine. Ich bäte sie daher, diesen zu nehmen; ich würde in dieser Gefälligkeit ein Zeichen der Fortdauer ihrer Liebe sehen.
»Ich werde dafür, liebe Freundin, den Wagen nehmen, den der Bankier dir liefert.«
»Ich willige ein, lieber Freund; es wird für mich eine Herzenserleichterung sein, noch einen Gebrauchsgegenstand zu besitzen, der dir gehört hat.«
Mit diesen Worten steckte sie mir fünf Rollen mit je hundert Louis in die Tasche. Ein schwacher Trost für mein Herz, das durch die grausame Trennung zerrissen war. Während der letzten vierundzwanzig Stunden bestand unsere Beredsamkeit nur in Trauern, Seufzern und jenen banalen, aber energischen Ausrufen, die zwei glücklich Liebende an die allzu strenge Vernunft richten, die sie inmitten ihres Glücks zwingt, sich auf ewig zu trennen. Henriette suchte mir mit keiner Hoffnung zu schmeicheln, um meine Qual zu mildern; im Gegenteil: »Da nun einmal die Notwendigkeit uns zwingt, uns zu trennen,« sagte sie, »so bitte ich dich, mein einziger Freund, erkundige dich niemals nach mir; und solltest du jemals zufällig mir begegnen, so tue, als kenntest du mich nicht.«
Sie gab mir hierauf einen Brief für Herrn d’Antoine, ohne mich zu fragen, ob ich nach Parma zurückkehren würde; aber selbst wenn ich nicht die Absicht gehabt hätte, so würde ich mich doch auf der Stelle dazu entschlossen haben. Sie bat mich auch, von Genf erst abzureisen, nachdem ich einen Brief empfangen hätte, den sie mir von der ersten Haltestelle, wo sie die Pferde wechseln würde, zu schicken gedächte. Mit Tagesanbruch reiste sie ab; sie hatte bei sich ihre Gesellschaftsdame, ein Lakai saß auf dem Bock und ein anderer ritt als Kurier voran. Ich folgte ihr mit den Augen, solange ich den Wagen sehen konnte, und stand noch lange Zeit, nachdem meine Augen schon nichts mehr sahen, unbeweglich immer auf demselben Fleck; denn alle meine Gedanken galten nur dem teueren Wesen, das ich verlor, und die ganze Welt war in meinen Augen nichts mehr.
In mein Zimmer zurückgekehrt, befahl ich dem Kellner, nicht früher bei mir einzutreten, als bis die Pferde, die Henrietten entführt hatten, wieder zurück wären. Ich legte mich zu Bett, in der Hoffnung, der Schlaf werde meiner bedrängten Seele, die meine Tränen nicht beruhigen konnten, zu Hilfe kommen.
Der Postillon kam erst am nächsten Tage zurück; er war bis Châtillon gewesen. Er überbrachte mir einen Brief, worin ich nur das traurige Wort Adieu fand. Der Mann sagte mir, sie seien ohne den geringsten Unfall in Châtillon angekommen, und die gnädige Frau habe sogleich ihren Weg nach Lyon fortgesetzt. Da ich von Genf erst am nächsten Tag abreisen konnte, verbrachte ich allein auf meinem Zimmer einen der traurigsten Tage meines Lebens. Ich entdeckte auf einer der Fensterscheiben folgende Worte, die sie mit der Spitze eines ihr von mir geschenkten Diamanten eingeritzt hatte: Du wirst auch Henrietten vergessen! Diese Prophezeiung war nicht dazu angetan, mich zu trösten; aber welche Ausdehnung gab sie dem Wort: Vergessen! Sie konnte damit nur meinen, daß mit der Zeit die tiefe Wunde vernarben würde, die sie meinem Herzen geschlagen hatte, und sie hätte diese nicht noch zu vertiefen brauchen, indem sie mir diese Art von Vorwurf machte. Nein, ich habe sie nicht vergessen, denn noch jetzt, da mein Kopf mit weißen Haaren bedeckt ist, ist ihr Andenken ein wahrer Balsam für mein Herz. Wenn ich bedenke, daß ich auf meine alten Tage nur in Erinnerung glücklich bin, so finde ich, daß mein langes Leben mehr glücklich als unglücklich gewesen sein muß, und nachdem ich Gott gedankt habe, der die Ursache aller Ursachen ist, wünsche ich mir Glück, mir selber gestehen zu können, daß das Leben ein Gut ist.
Am andern Morgen reiste ich mit einem Bedienten, den Herr Tronchin mir empfahl, nach Italien zurück. Trotz der schlechten Jahreszeit wählte ich den Weg über den St. Bernhard, den ich in drei Tagen mit sieben Mauleseln überstieg. Diese trugen mich, meinen Bedienten, meinen Koffer und den Wagen, der für die reizende Frau, die ich unwiederbringlich verloren hatte, bestimmt war. Ein Mensch, der von einem großen Schmerz niedergedrückt wird, hat den Vorteil, daß ihm sonst nichts lästig erscheint; es ist eine Art von Verzweiflung, die auch ihre Vorteile hat. Ich spürte nichts von Hunger und Durst, nichts von dem Frost, der die Natur in diesem schrecklichen Teil der Alpen zu Eis erstarren ließ, nichts von den Strapazen, die mit diesem mühseligen und gefährlichen Alpenübergang untrennbar verbunden sind.
Ich kam bei ziemlich guter Gesundheit in Parma an und stieg in einer schlechten Herberge ab, weil ich hoffte, daß mich dort niemand kennen würde. In dieser Erwartung wurde ich jedoch getäuscht; denn ich traf hier de la Haye, der in einem Kämmerchen neben dem meinen wohnte. Überrascht über das Wiedersehen mit mir, machte er mir ein langes Kompliment, um mich auszuhorchen, ich enttäuschte jedoch seine Neugier, indem ich ihm sagte, ich wäre müde und wir würden uns wiedersehen.
Am nächsten Tage ging ich aus, um Herrn d’Antoine Henriettens Brief zu überbringen. Er öffnete ihn in meiner Gegenwart und fand darin einen andern Brief mit meiner Adresse eingeschlossen; diesen übergab er mir, ohne ihn zu lesen, obwohl er offen war. Später fiel ihm ein, es könnte vielleicht die Absicht seiner Verwandten gewesen sein, daß er ihn lesen sollte, weil sie ihn nicht versiegelt hätte. Er bat mich daher, von dem Brief Kenntnis nehmen zu dürfen, was ich ihm mit Vergnügen erlaubte, nachdem ich ihn selber gelesen hatte. Er las ihn und sagte mir, als er ihn zurückgab, mit großer Herzlichkeit, ich könnte bei jeder Gelegenheit über ihn und seinen Kredit verfügen.
Henriettens Brief lautete folgendermaßen:
»Mein einziger Freund! Ich habe Dich verlassen müssen; aber vermehre nicht Deinen Schmerz, indem Du an den meinigen denkst. Laß uns so vernünftig sein, uns vorzustellen, daß wir einen angenehmen Traum gehabt haben, und laß uns nicht über unser Schicksal klagen; denn niemals ist ein köstlicher Traum so lang gewesen. Wir können uns rühmen, volle drei Monate uns gegenseitig vollkommen glücklich gemacht zu haben. Es gibt wohl kaum zwei Menschen, die dasselbe von sich sagen können. Laß uns uns niemals vergessen; laß uns recht oft die glücklichen Augenblicke unserer Liebe uns zurückrufen, um sie in unseren Seelen zu erneuern, die trotz der Trennung in dieser Erinnerung ebenso hohen Genuß finden werden, wie wenn unsere Herzen Brust an Brust klopften. Erkundige Dich nicht nach mir; und wenn Du durch Zufall erfahren Solltest, wer ich bin, so beachte es nicht. Ich werde Dir Freude bereiten, indem ich Dir mitteile, daß ich in meine Angelegenheiten gute Ordnung gebracht habe und daß ich nun für den Rest meiner Lebenszeit so glücklich sein werde, wie ich es nur kann, da ich Dich nicht mehr habe. Ich weiß nicht, wer Du bist; aber ich weiß, daß kein Mensch auf der Welt Dich besser kennt als ich. Ich werde in meinem Leben keinen Liebhaber mehr haben, aber ich wünsche, daß Du es Dir nicht einfallen läßt, mir darin nachzuahmen. Ich wünsche, daß Du noch andere liebst, ja sogar, daß Deine gute Fee Dich eine andere Henriette finden lasse. Leb wohl, leb wohl!«
Fünfzehn Jahre später sah ich das anbetungswürdige Weib wieder. Wie das zuging, wird der Leser sehen, wenn wir so weit sind.
Ich ging nach Hause. Die Zukunft war mir gleichgültig, und in eine tiefe Traurigkeit versunken, schloß ich mich ein und legte mich zu Bett. Meine Niedergeschlagenheit bewirkte eine Art von Betäubung. Das Leben war mir nicht zur Last, aber nur, weil ich nicht daran dachte; und ich würde daran gedacht haben, wenn ich mir auch nur im geringsten aus dem Leben etwas gemacht hätte. Ich befand mich in einem Zustande völliger Apathie. Sechs Jahre später befand ich mich in einer ähnlichen Lage; aber da war nicht die Liebe an meinem Leiden schuld, sondern das berüchtigte und schreckliche Gefängnis unter den Bleidächern von Venedig. Nicht viel besser war ich daran im Jahre 1768, als man mich in das Gefängnis Buen Retiro in Madrid warf. Doch greifen wir den Ereignissen nicht vor. Nach Verlauf von vierundzwanzig Stunden war meine Erschöpfung sehr groß; aber sie war mir nicht unangenehm, und in meiner Geistesverfassung hatte der Gedanke, daß ich an einer Steigerung der Erschöpfung vielleicht sterben könnte, seine Reize für mich. Ich sah mit Freuden, daß niemand mich belästigte, um mir Essen anzubieten, und ich wünsche mir Glück, meinen Bedienten entlassen zu haben. Nach weiteren vierundzwanzig Stunden war meine Schwäche so groß, daß ich schon für verhungert gelten konnte.
In diesem Zustand befand ich mich, als de la Haye an meine Tür klopfte. Ich hätte nicht geantwortet, wenn er nicht beim Klopfen gesagt hätte, man müsse unbedingt mit mir sprechen. Ich öffnete, obgleich ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, und legte mich sofort wieder zu Bett.
»Ein Fremder,« sagte er, »der einen Wagen braucht, möchte den Ihrigen kaufen.«
»Ich will ihn nicht verkaufen.«
»Entschuldigen Sie gütigst, wenn ich Sie gestört habe; aber Sie sehen krank aus.« ..
»Ja, ich habe nötig, daß man mich in Ruhe läßt.«
»Was haben Sie denn für eine Krankheit?« Er trat an mein Bett, ergriff meine Hand und fand meinen Puls außerordentlich schwach.
»Was haben Sie gestern gegessen?«
»Seit zwei Tagen nichts, Gott sei Dank!«
Er ahnte sofort die Wahrheit, geriet in Besorgnis und beschwor mich, eine Fleischbrühe zu mir zu nehmen. Er war in seinem Zureden so eindringlich und so teilnahmsvoll, daß ich ebensosehr aus Schwäche, wie aus Langeweile mich überreden ließ. Ohne ein einziges Wort von Henrietten zu sagen, hielt er mir eine Predigt über das zukünftige Leben, über die Eitelkeit dieser Welt, die wir gleichwohl dem Himmel vorzögen, und über unsere Pflicht, niemals unser Leben anzutasten, das uns nicht gehörte. Ich hörte ihn an, ohne zu antworten; aber ich hörte ihn immerhin an; de la Haye machte sich sogleich diesen Vorteil zunutze, erklärte, er würde mich nicht verlassen, und bestellte eine kleine Mahlzeit. Ich hatte weder die Kraft, noch den Willen, Widerstand zu leisten; und sobald das Essen aufgetragen war, nahm ich eine Kleinigkeit zu mir. De la Haye rief Viktoria und beschäftigte sich den ganzen Tag nur damit, mich durch scherzhafte Bemerkungen aufzuheitern.
Den nächsten Tag verbrachte er wieder mit mir, denn diesmal hatte ich ihn gebeten, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten. Es kam mir vor, als habe meine Traurigkeit nicht abgenommen, aber das Leben schien mir doch wieder dem Tode vorzuziehen; und in Anbetracht, daß ich ihm vielleicht die Erhaltung meines Lebens verdankte, faßte ich Freundschaft für ihn. Man sehe, wie meine Zuneigung den höchsten Grad erreichte, und der Leser wird jedenfalls höchst erstaunt sein, auf welche Weise dies zuging. Drei oder vier Tage darauf machte Dubois, dem de la Haye alles gesagt hatte, mir einen Besuch und lud mich ein, mit ihm auszugehen. Ich ging in die Komödie, wo ich die Bekanntschaft einiger korsischer Offiziere machte, die in Frankreich im Regiment Royal Italien gedient hatten; auch lernte ich einen jungen Sizilianer namens Paterno kennen, den größten Brausekopf, den man sich denken konnte. Der junge Mensch war in eine Schauspielerin verliebt, die ihn zum besten hielt; er machte mir Spaß durch die Aufzählung aller ihrer anbetungswürdigen Eigenschaften und wegen der schlechten Behandlung, die sie ihm widerfahren ließ; denn obgleich sie ihn zu jeder Stunde in ihrer Wohnung empfing, wies sie ihn schroff zurück, so oft er ihr irgend eine Gunst rauben wollte. Nebenbei richtete sie ihn zugrunde, indem sie fortwährend Diners und Soupers in kleinem Kreise geben ließ, ohne daß er irgend einen Vorteil dabei gehabt hätte.
Er hatte mich schließlich neugierig gemacht, und nachdem ich mir die Schöne auf der Bühne angesehen und sie nicht übel gefunden hatte, beschloß ich, sie kennen zu lernen, und Paterno machte sich ein Vergnügen daraus, mich bei ihr einzuführen.
Ich fand sie entgegenkommend, und da ich wußte, daß sie nichts weniger als reich war, so bezweifelte ich nicht, daß fünfzehn oder zwanzig Zechinen mehr als hinreichend sein würden, um sie zahm zu machen. Ich sprach mich darüber zu Paterno aus, aber er antwortete mir lachend: Wenn ich ihr einen derartigen Vorschlag zu machen wagte, würde sie meine Besuche nicht mehr annehmen. Er nannte mir Offiziere, die sie nicht mehr hätte sehen wollen, um sie für derartige Anträge zu bestrafen. »Immerhin wäre es mir recht lieb,« schloß er, »wenn Sie den Versuch machen und mir nachher wahrheitsgemäß sagen wollten, wie er abgelaufen ist.«
Ich fühlte meine Eitelkeit gestachelt und versprach es ihm.
Ich besuchte sie in ihrem Ankleidezimmer, und als sie gelegentlich die Schönheit meiner Uhr lobte, sagte ich ihr, es läge nur an ihr, um den und den Preis in ihren Besitz zu gelangen. Sie antwortete mir, dem Katechismus ihres Handwerks entsprechend: ein anständiger Mensch könne derartige Anträge einem anständigen Mädchen nicht machen.
»Solchen, die es nicht sind, biete ich nur einen Dukaten«, sagte ich ihr, und damit ging ich.
Als ich Paterno ihre Bemerkung erzählte, war er vor Freude außer sich; aber ich wußte, woran ich war, denn cosi son tutte, und trotz ihren Aufforderungen ging ich nicht mehr zu ihr zum Abendessen; diese Soupers waren sehr langweilig und die ganze Familie der Schauspieler machte sich dabei über den Dummkopf lustig, der die Kosten bestritt.
Sieben oder acht Tage darauf sagte Paterno mir, die Schauspielerin hätte ihm den Vorfall genau so wie ich erzählt und hätte ihm gesagt, ich besuchte sie nicht mehr, weil ich Angst hätte, daß sie mich beim Wort nähme, wenn ich meinen Antrag erneuerte.
Ich beauftragte ihn, ihr zu sagen, ich würde sie wieder besuchen, aber nicht, um ihr Anträge zu machen, sondern um die Anträge zu verachten, die sie mir vielleicht machen würde. Mein Hasenfuß richtete den Auftrag so gut aus, daß die Schauspielerin ganz gereizt ihm sagte, er möchte mich zu einem Besuch bei ihr herausfordern. Fest entschlossen, sie noch am gleichen Abend von meiner Verachtung zu überzeugen, ging ich nach dem zweiten Akt eines Stückes, worin sie nicht mehr auftrat, in ihre Loge. Sie schickte einen Herrn fort, den sie bei sich hatte, und sagte, sie hätte mit mir zu sprechen; dann verschloß sie die Tür, setzte sich graziös auf meinen Schoß und fragte mich, ob ich sie wirklich so sehr verachtete. In einer derartigen Lage hat man nicht den Mut, eine Frau zu beleidigen; statt zu antworten, ging ich grade auf die Sache los, ohne auch nur jenen Widerstand zu finden, der den Appetit schärft. Trotzdem ließ ich auch bei dieser Gelegenheit, wie immer, mich von einem Gefühl betölpeln, das ganz unangebracht ist, wenn ein kluger Mann sich dummerweise mit Frauenzimmern dieser Sorte einläßt; ich gab ihr zwanzig Zechinen, und ich muß gestehen, das war ein teuerer Preis für nagende Reue. Sie war sehr zufrieden, und wir lachten miteinander über Paternos Dummheit, der nicht zu wissen schien, daß Herausforderungen dieser Art stets so enden.
Am anderen Tage traf ich den armen Sizilianer und sagte ihm, ich hätte mich sehr gelangweilt und wollte nicht mehr hingehen. Ich hatte in der Tat diese Absicht; aber ein sehr triftiger Grund, den die Natur mir drei Tage darauf auseinandersetzte, zwang mich, ihm nicht nur aus einfachem Ekel Wort zu halten. Aber obgleich es mir höchst peinlich war, mich in einer solchen entehrenden Lage zu befinden, so glaubte ich doch nicht das Recht zu haben, mich darüber zu beklagen: ich sah im Gegenteil in diesem Unglück nur eine gerechte Strafe dafür, daß ich mich einer neuen Lais hingegeben, nachdem ich das Glück besessen hatte, eine Henriette zu besitzen. Da mein Fall nicht in das Gebiet der Empirie fiel, so glaubte ich mich Herrn de la Haye anvertrauen zu müssen, der alle Tage mit mir speiste, da er mir seine Armut nicht zu verhehlen suchte und mir durch sein Alter und seine Erfahrung ehrwürdig war. Er besorgte mir einen geschickten Chirurgen, der auch Zahnarzt war. Gewisse, ihm bekannte Symptome zwangen ihn, mich dem Gott Merkur zu weihen; und diese Kur nötigte mich, der Jahreszeit wegen sechs Wochen lang das Bett zu hüten. Es war während des Winters 1749. Während ich von einer häßlichen Krankheit genas, impfte de la Haye mir eine andere ein, die kaum besser, oder vielleicht sogar schlimmer war, und von der ich nicht geglaubt hätte, angesteckt werden zu können. Der Vlame, der mich nur frühmorgens eine Stunde verließ, um, wie er sagte, seine Andacht zu verrichten, machte mich zum Frömmler und zwar in solchem Grade, daß ich ihm zugab, ich müßte mich glücklich schätzen, mir eine Krankheit zugezogen zu haben, die der erste Anlaß gewesen wäre zur Rettung meiner Seele. Ich dankte Gott mit Inbrunst und vollkommen aufrichtig, daß er sich Merkurs bedient hätte, um meinen bis dahin von Finsternis umhüllten Geist zum reinen Licht der Wahrheit zu führen. Ohne Zweifel war dieser in meiner Vernunft sich vollziehende Wechsel der Weltanschauung eine Wirkung der durch das Quecksilber hervorgerufenen Schwächung. Dieses unreine und stets bösartige Mittel hatte mir dermaßen den Geist geschwächt, daß ich wie blödsinnig war und mir einbildete, ich wäre bisher in einem großen Irrtum befangen gewesen. Ich faßte daher in meiner neuen Weisheit den Entschluß, in Zukunft einen ganz anderen Lebenswandel zu führen. De la Haye weinte oft zum Troste mit, wenn er mich in meiner Zerknirschung weinen sah, die er mit unbegreiflicher Geschicklichkeit meiner armen, kranken Seele einzuflößen verstanden hatte. Er sprach mit mir vom Paradies und von den Dingen der anderen Welt, wie wenn er persönlich dort gewesen wäre, und ich lachte ihn nicht aus! Er hatte mich daran gewöhnt, auf meine Vernunft zu verzichten. Um aber auf diese göttliche Gabe verzichten zu können, ist es notwendig, daß man ihren Weg nicht mehr erkennt; man muß dumm geworden sein. Ein Beispiel: Eines Tages sagte er mir, man wisse nicht, ob Gott die Welt in der Tagundnachtgleiche des Frühlings oder des Herbstes geschaffen habe. »Angenommen, daß eine solche Schöpfung stattgefunden hat,« antwortete ich ihm trotz dem Quecksilber, »ist diese Frage an sich kindisch; denn die Jahreszeit kann immer nur für einen Teil der Erde gelten.«
De la Haye hielt mir entgegen, meine Ideen seien heidnisch, und ich dürfte solche Vernunftschlüsse nicht mehr ziehen. Ich gab nach.
Der Mann war Jesuit gewesen; aber er wollte dies nicht nur nicht zugeben, sondern er konnte nicht einmal vertragen, wenn man davon sprach. Eines Tages verführte er mich vollends, indem er mir sein Leben erzählte.
»Nachdem ich meine Schulbildung empfangen und mit einigen Erfolgen Wissenschaften und Künsten obgelegen hatte, verbrachte ich zwanzig Jahre als Mitglied der Universität Paris. Hierauf diente ich dem Heere im Geniekorps; seitdem habe ich dem Publikum mehrere Werke geschenkt, die anonym erschienen sind; man bedient sich derselben in allen Schulen zum Unterricht der Jugend. Nachdem ich mich vom Dienst zurückgezogen hatte, habe ich, da ich vermögenslos bin, die Erziehung mehrerer junger Leute geleitet, von denen einige heutzutage in der Welt mehr durch ihre Sitten denn durch ihre Gaben glänzen. Mein letzter Schüler war der Sohn des Marchese Botta. Jetzt habe ich keine Stellung mehr und lebe, wie Sie sehen, im Vertrauen auf Gott. Vor vier Jahren machte ich die Bekanntschaft des Baron Bavois aus Lausanne, eines Sohnes des Generals Bavois, der ein Regiment des Herzogs von Modena kommandierte und der später das Unglück hatte, zu viel von sich reden zu machen. Der junge Baron, wie sein Vater Calvinist, war kein Freund des müßigen Lebens, das er im väterlichen Hause hätte verbringen können; er bat mich, ihm denselben Unterricht wie dem Marchese Botta zu geben, damit er die militärische Laufbahn einschlagen könnte. Ich war hocherfreut, seine schönen Anlagen ausbilden zu können, und gab alles andere auf, um mich ganz und gar dieser Beschäftigung widmen zu können. Bald entdeckte ich, daß er in betreff der Religion wohl wußte, daß er im Irrtum lebte; er hielt nur aus Familienrücksichten an Seinem Glauben fest. Sobald ich sein Geheimnis kannte, war es mir leicht, ihm zu zeigen, daß seine höchsten Interessen auf dem Spiele ständen, indem sein Seelenheil davon abhinge. Diese Wahrheit leuchtete ihm ein, und er überließ sich ganz meiner liebevollen Fürsorge. Ich ging mit ihm nach Rom, wo ich ihn dem Papste Benedikt dem Vierzehnten vorstellte, der ihm nach feinem Glaubenswechsel eine Leutnantsstelle bei den Truppen des Herzogs von Modena verschaffte. Leider hat mein teurer Proselyt, der erst fünfundzwanzig Jahre alt ist, monatlich nur sieben Zechinen, von denen er nicht leben kann; denn seit seinem Religionswechsel empfängt er gar nichts mehr von seinen Verwandten, denen seine sogenannte Abtrünnigkeit ein Greuel ist. Er würde sich gezwungen sehen, nach Lausanne zurückzukehren, wenn ich ihn nicht unterstützte. Da ich aber leider arm und stellungslos bin, kann ich ihn nur mit den Almosen unterstützen, die ich ihm verschaffe, indem ich mich an die Börse der mir bekannten guten Seelen wende.
»Mein Schüler, der ein dankbares Herz hat, möchte gerne seine Wohltäter kennen; aber sie wollen nicht bekannt sein, und sie haben recht; denn um verdienstlich zu sein, muß das Almosen von jedem Gefühl der Eitelkeit frei sein. Ich habe, Gott sei Dank, durchaus keinen Anlaß zur Eitelkeit. Ich bin überglücklich, daß ich an einem jungen, prädestinierten Mann Vaterstelle vertreten kann und daß ich als schwaches Werkzeug in Gottes Hand zur Rettung seiner Seele beigetragen habe. Der gute und schöne Jüngling setzt all sein Vertrauen in mich und schreibt mir regelmäßig jede Woche zweimal. Die Diskretion erlaubt mir nicht, Ihnen seine Briefe mitzuteilen, aber Sie würden vor Rührung weinen, wenn Sie sie läsen. An ihn habe ich gestern die drei Louis geschickt, die ich von Ihnen bekam.«
Mit diesen Worten stand mein Bekehrer auf und trat ans Fenster, um seine Tränen zu trocknen. Ich war gerührt und voll Bewunderung für die Tugend de la Hayes und seines Zöglings, der, um seine Seele zu retten, sich in die harte Notwendigkeit versetzt sah, von Almosen zu leben. Ich weinte ebenfalls und sagte in meiner erwachenden Frömmigkeit, ich wollte nicht nur nicht von ihm genannt sein, sondern wünschte nicht einmal die Summen zu kennen, die er für ihn entnähme; ich bäte ihn demgemäß, über meine Börse zu verfügen, ohne mir Rechenschaft abzugeben. Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, so kam de la Haye mit offenen Armen auf mich zu und küßte mich. Indem ich das Wort des Evangeliums buchstäblich befolgte, sagte er mir, bahnte ich mir den Weg zum Himmel.
Der Geist ist vom Körper abhängig; dies ist ein Vorrecht der Materie. Mit leerem Magen wurde ich Fanatiker, und in der Höhlung, die durch das Quecksilber in meinem Hirn entstanden war, fand der Enthusiasmus eine Zufluchtsstätte. Ohne Herrn de la Haye ein Wort davon zu sagen, begann ich, an meine drei Freunde, die Herren Bragadino usw. pathetische Briefe über meinen Tartüff und seinen Zögling zu schreiben, und teilte ihnen dadurch meinen Fanatismus mit. Wie du weißt, mein lieber Leser, verbreitet nichts sich so rasch wie die Pest, und was ist der Fanatismus jeder Art anders, als eine Pestkrankheit des Geistes?
Ich ließ sie ahnen, daß das Wohlergehen unserer Gesellschaft von der Angliederung dieser beiden tugendhaften Persönlichkeiten abhinge. Ich ließ es sie ahnen, aber da ich Jesuit wurde, ohne es zu wissen, so sagte ich es ihnen nicht geradezu: es war besser, wenn der Gedanke von diesen einfachen aber tatsächlich tugendhaften Männern auszugehen schien.
»Gott will,« schrieb ich ihnen – denn die Betrügerei muß sich stets mit dem Schilde dieses heiligen Namens decken – »daß Sie alle Ihre Kräfte aufbieten, um in Venedig eine ehrenvolle Anstellung für Herrn de la Haye und einen Platz in dem von ihm gewählten Beruf für den jungen Bavois zu beschaffen.«
Herr von Bagadino schrieb mir, Herr de la Haye könne mit mir in seinem Palazzo wohnen, und Bavois könne an seinen Protektor, den Papst, schreiben und ihn bitten, ihn an den venetianischen Gesandten zu empfehlen; dieser werde darüber an den Senat schreiben, und dann könne Bavois gewiß sein, daß er eine gute Stelle erhalten werde.
Es war damals die Frage des Patriarchats von Aquileja in der Schwebe, worüber die Republik gemeinsam mit dem Kaiser von Österreich zu entscheiden hatte. Da dieser jedoch das jus elegendi für sich allein in Anspruch genommen hatte, war Papst Benedikt zum Schiedsrichter ernannt worden. Da der Papst seinen Spruch noch nicht gefällt hatte, so war es klar, daß die Republik bei einer Empfehlung von ihm das größte Entgegenkommen gezeigt haben würde. Während diese Angelegenheit schwebte und wir einen Brief aus Venedig erwarteten, der uns über die Wirkung der Empfehlung Seiner Heiligkeit berichtete, hatte ich ein kleines komisches Erlebnis, das ich meinen Lesern nicht vorenthalten darf:
Zu Beginn des Monats April war ich von meiner letzten Wunde geheilt und hatte meine alte Gesundheit wiedererlangt. Ich ging täglich mit meinem Bekehrer in die Kirchen und versäumte keine einzige Predigt. Ich verbrachte aber auch die Abende mit ihm im Kaffeehaus, wo wir stets recht gute Gesellschaft von Offizieren fanden. Unter ihnen war auch ein Provençale, der die ganze Gesellschaft durch seine Aufschneidereien unterhielt und durch die Erzählung seiner militärischen Laufbahn, durch die er sich im Dienste mehrerer Mächte, besonders in Spanien, ausgezeichnet hätte; da er amüsant war, so taten alle, als glaubten sie ihm jedes Wort, damit seine Erzählungen nicht ins Stocken kämen. Als ich ihn eines Tages aufmerksam ansah, fragte er mich, ob ich ihn kenne. »Ob ich Sie kenne? Das will ich meinen! Haben wir nicht zusammen an der Schlacht bei Arbela teilgenommen?« Bei diesen Worten erhob sich allgemeines Gelächter; der Prahlhans geriet jedoch nicht aus der Fassung und sagte eilig: »Ei, meine Herren, was finden Sie denn daran lächerlich? Ich war da, und der Herr kann mich da wohl gesehen haben; es kommt mir in der Tat so vor, als erkenne ich ihn wieder.« Hierauf nannte er mir das Regiment, wo wir gedient hatten; wir umarmten uns und machten uns schließlich gegenseitig ein Kompliment über das Glück, uns in Parma wiederzutreffen. Nach diesem wirklich komischen Auftritt entfernte ich mich, begleitet von meinem unzertrennlichen Bekehrer. Am nächsten Tage saß ich noch mit meinem Freunde bei Tisch, als der provençalische Prahlhans, den Hut auf dem Kopf, in mein Zimmer trat und sagte: »Mein Herr von Arbela, ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen: beeilen Sie sich und folgen Sie mir. Wenn Sie Angst haben, so nehmen Sie soviel Freunde mit, wie Sie wollen; ich bin für ein halbes Dutzend gut.«
Ich springe auf, ergreife ein Pistol, schlage auf ihn an und sage in festem Ton: »Niemand hat das Recht, in meinem Zimmer meine Ruhe zu stören: Hinaus! oder ich schieße Ihnen eine Kugel durch den Kopf!«
Mein Provençale zieht seinen Degen und fordert mich heraus, ihn zu ermorden; aber im selben Augenblick wirft de la Haye sich zwischen uns, indem er dabei scharf auf den Fußboden aufstampft. Der Wirt kommt herauf und droht dem Offizier, er würde die Wache holen lassen, wenn er nicht augenblicklich ginge.
Er ging, indem er ausrief, ich hätte ihn öffentlich beleidigt, und er würde dafür sorgen, daß die Genugtuung, die ich ihm dafür schulde, ebenso öffentlich wäre wie die Beleidigung. Da ich sah, daß die Sache eine tragische Wendung nehmen konnte, besprach ich mich nach seinem Fortgehen mit de la Haye über die Mittel, eine gütliche Beilegung herbeizuführen; aber wir brauchten uns nicht lange den Kopf zu zerbrechen, denn eine halbe Stunde darauf erschien ein Offizier des Infanten-Herzogs von Parma und befahl mir, mich sofort nach der Hauptwache zu begeben, wo der Platzmajor, Herr de Bertolan, mit mir zu sprechen hätte. Ich bat de la Haye, mich als Zeuge sowohl für die von mir im Kaffeehaus geäußerten Worte wie für die Vorfälle in meiner Wohnung zu begleiten. Ich kam zum Major, bei dem ich mehrere Offiziere fand; unter ihnen auch Herrn Prahlhans.
Herr de Bertolan war ein geistvoller Mann; er lächelte leise, als er mich erblickte. Dann aber sagte er mir mit dem größten Ernst:
»Mein Herr, da Sie sich über diesen Offizier in der Öffentlichkeit lustig gemacht haben, so ist es nur recht und billig, daß Sie ihm die öffentliche Genugtuung geben, die er verlangt; als Platzmajor sehe ich mich genötigt, eine solche von Ihnen zu fordern, damit die Sache freundschaftlich beigelegt werden kann.«
»Herr Major,« antwortete ich, »es kann durchaus keine Rede davon sein, daß ich dem Herrn Genugtuung zu geben habe; denn es ist nicht wahr, daß ich mich über ihn lustig gemacht und ihn dadurch beleidigt habe; ich habe ihm gesagt, es komme mir so vor, als hätte ich ihn in der Schlacht bei Arbela gesehen, und ich habe daran nicht mehr zweifeln dürfen, als er selber mir gesagt hat, daß er nicht nur dort gewesen sei, sondern mich sogar wiedererkenne.«
»Ja,« unterbrach mich der Offizier, »aber ich habe Rodela verstanden und nicht Arbela, und jedermann weiß, daß ich dort gefochten habe; Sie aber haben Arbela gesagt, und Sie können das nur in der Absicht gesagt haben, um sich über mich lustig zu machen; denn es ist mehr als zweitausend Jahre her, daß diese Schlacht geliefert wurde; dagegen fand die bei Rodela in Afrika zu unserer Zeit statt, und ich diente dort unter dem Befehl des Herzogs von Montemar.«
»Zunächst, mein Herr, kann es Ihnen nicht zukommen, über meine Absichten zu urteilen; aber ich bestreite Ihnen gar nicht, daß Sie bei Rodela gewesen sind, da Sie es sagen. Hiermit ändert sich jedoch die Szene, und nunmehr verlange ich eine Genugtuung für mich, wenn Sie zu leugnen wagen, daß ich an der Schlacht bei Arbela teilgenommen habe. Ich diente dort unter dem Herzog von Montemar, denn, soviel ich weiß, war dieser nicht dabei; aber ich war Adjutant Parmenios, unter dessen Augen ich verwundet wurde. Sollten Sie von mir verlangen, Ihnen die Narbe zu zeigen, so werden Sie begreifen, daß ich dies nicht könnte; denn der Leib, den ich damals hatte, ist nicht mehr vorhanden, und in demjenigen, den ich heute trage, bin ich erst dreiundzwanzig Jahre alt.«
»Das scheint mir lauter Unsinn zu sein; aber jedenfalls habe ich Zeugen, daß Sie sich über mich lustig gemacht haben, denn Sie haben mir gesagt, Sie hätten mich in dieser Schlacht gesehen und, Potz Blitz! das ist nicht möglich, denn ich war nicht dabei. Auf alle Fälle verlange ich Genugtuung.«
»Und ich ebenfalls. Unsere Rechte sind zum mindesten gleich, wenn die meinigen nicht gar besser sind; denn Ihre Zeugen sind auch die meinigen; und die Herren werden aussagen, daß Sie behauptet haben, Sie hätten mich bei Rodela gesehen; und Potz Blitz! das ist nicht möglich, denn ich war nicht dabei.«
»Ich kann mich geirrt haben.«
»Ich auch; und folglich haben wir gegenseitig nichts voneinander zu verlangen.«
Der Major biß sich auf die Lippen, um nicht laut herauszulachen, und sagte: »Mein lieber Herr, ich kann nicht finden, daß Sie das geringste Recht haben, Genugtuung zu verlangen, da der Herr, genau wie Sie, zugibt, daß er sich geirrt haben kann.«
»Aber,« antwortete der Offizier, »ist es glaubhaft, daß er sich bei der Schlacht bei Arbela befunden hat?«
»Der Herr überläßt es Ihnen, dies zu glauben oder nicht zu glauben; gerade, wie er das Recht hat, zu sagen, daß er dort war, bis Sie ihm das Gegenteil bewiesen haben. Wollen Sie von ihm verlangen, daß er darum den Degen zieht?«
»Davor soll mich der liebe Gott bewahren. Lieber will ich die Sache als erledigt erklären.«
»Nun, meine Herren, so bleibt mir nur noch übrig, Sie aufzufordern, sich als zwei Ehrenmänner zu umarmen.«
Dies taten wir sehr herzlich.
Am nächsten Tage kam der Provençale ein bißchen verlegen zu mir und lud sich zum Mittagessen ein; ich nahm ihn freundlich auf. So endete diese komische Geschichte zur großen Befriedigung des Herrn de la Haye.