Die Gräfin Coronini. – Liebesverdruß. – Versöhnung. – Erste Zusammenkunft. – Philosophische Abschweifung.

Meine schöne Nonne hatte nicht mit mir gesprochen, und das war mir ganz recht; denn ich war so verblüfft, so von Bewunderung hingerissen, daß sie durch die unzusammenhängenden Antworten, die ich wahrscheinlich auf ihre Fragen gegeben hätte, vielleicht einen sehr niedrigen Begriff von meinem Geiste bekommen haben würde. Ich sah ein, daß sie überzeugt sein müßte, sie würde die Demütigung einer verneinenden Antwort nicht zu befürchten haben; aber ich bewunderte trotzdem ihren Mut, daß sie in ihrer Lage sich immerhin einer solchen Gefahr aussetzte. Ich konnte mir die Kühnheit nur schwer erklären, und ich begriff nicht, wie sie sich ihre Freiheit verschaffen konnte, deren sie sich offenbar erfreute. Ein Kasino in Murano! Die Möglichkeit, in Venedig mit einem jungen Mann unter vier Augen zu Nacht zu speisen! Dies alles war mir unklar, und ich kam schließlich zu der Annahme, daß sie einen offiziellen Liebhaber haben müßte, der seine Freude daran hätte, sie glücklich zu machen, indem er ihre Launen befriedigte. Dieser Gedanke verletzte allerdings meinen Stolz ein wenig; aber das Ergebnis war zu pikant, die Schöne selber zu anziehend, als daß ich mich nicht über meine Bedenken hätte hinwegsetzen sollen. Ich sah mich auf bestem Wege, meiner lieben C. C. untreu zu werden, oder ich war es vielmehr in Gedanken bereits; aber ich gestehe, daß ich trotz meiner Liebe zu dem reizenden Mädchen durchaus keine Gewissensbisse darüber verspürte. Mir schien, an einer Untreue dieser Art könnte sie keinen Anstoß nehmen, wenn sie sie zufällig entdecken sollte; denn diese kleine Abweichung vom Wege war nur dazu angetan, mich in Atem zu erhalten und mich ihr zu retten, denn dadurch konnte ich dem Kummer entgehen, der mich dahinsiechen ließ.

Durch eine mit Herrn Dandolo verwandte Nonne war ich der Gräfin Coronini vorgestellt worden. Diese Gräfin war sehr schön gewesen und hatte viel Geist; als sie sich nicht mehr mit den Hofintriguen beschäftigen mochte, die bis dahin ihr ganzes Leben ausgefüllt hatten, zog sie sich ins Kloster Santa Giustina zurück, um dort die Ruhe zu suchen, nach der sie verlangte, als alles andere ihr zum Ekel geworden war. Da sie eines hohen Rufes genossen hatte, sah sie an ihrem Sprechgitter noch immer alle fremden Gesandten und die ersten Würdenträger der Republik. Die Kosten der Unterhaltung wurden auf beiden Seiten von der Neugierde bestritten; die Gräfin wußte in ihren Klostermauern alles, was in der Stadt vorfiel, und zuweilen behauptete sie sogar mehr zu wissen als dies. Die Dame nahm mich stets sehr gut auf, indem sie mich als jungen Menschen behandelte, dem sie jedesmal, wenn er sie besuchte, sehr angenehme moralische Lehren gab. Ich war sicher, bei geschicktem Verhalten irgendetwas über M. M. zu erfahren, und beschloß daher, gleich am nächsten Morgen nach meinem Besuch bei der schönen Nonne der Gräfin meine Aufwartung zu machen.

Sie empfing mich auf die gewohnte Weise. Nachdem wir über allerlei Nichtigkeiten geplaudert hatten, wie man es in der guten Gesellschaft zu tun pflegt, bevor man zu einem vernünftigen Gespräch kommt, brachte ich die Unterhaltung auf die Klöster von Venedig. Wir sprachen von dem Geist und Ansehen einer Nonne, namens Celsi, die trotz ihrer Häßlichkeit in allen Angelegenheiten, die ihr am Herzen lagen, einen bedeutenden Einfluß ausübte. Hierauf unterhielten wir uns von der reizenden jungen Schwester Micheli, die den Schleier genommen hatte, um ihrer Mutter zu beweisen, daß sie die Klügere sei. Dann kam das Gespräch auf mehrere andere, von denen man sagte, daß sie galant seien, und ich nannte M. M., indem ich die Bemerkung machte, diese müsse wohl auch zu den galanten gehören, aber sie sei ein Rätsel. Die Gräfin antwortete mir lächelnd, im allgemeinen sei das allerdings richtig, aber das Rätsel bestehe nicht für alle Welt. »Unbegreiflich ist nur, warum sie die Laune gehabt hat, den Schleier zu nehmen, obgleich sie schön, reich, unabhängig, klug, sehr gebildet, und, soviel ich weiß, ein Freigeist ist. Sie nahm den Schleier ohne jeden körperlichen oder moralischen Grund, es war einfach eine Laune von ihr.«

»Halten Sie sie für glücklich, Frau Gräfin ?«

»Ja; wenn sie nicht etwa ihren Schritt bereut oder später dazu kommt, ihn zu bereuen. Sollte aber dieser Fall je eintreten, so halte ich sie für vernünftig genug, es niemanden merken zu lassen.«

Die geheimnisvolle Miene der Gräfin brachte mich zu der Überzeugung, daß M. M. einen Liebhaber haben müsse. Ich beschloß jedoch, mir darüber nicht den Kopf zu zerbrechen, sondern maskierte mich und fuhr am Nachmittag nach Murano. An der Klosterpforte läutete ich und fragte klopfenden Herzens nach M. M.; ich käme im Auftrage der Gräfin S. Das kleine Sprechzimmer war geschlossen; die Pförtnerin zeigte mir ein anderes, in das ich eintreten sollte. Ich tat dies, nahm meine Maske ab, setzte mich und wartete auf das Kommen meiner Göttin.

Mein Herz schlug Sturmmarsch. Ich wartete voll Ungeduld, und trotzdem war das Warten mir angenehm; denn ich fürchtete mich vor dem Augenblick der ersten Begegnung. Eine Stunde verging mir ziemlich schnell; dann aber begann mir das Warten doch ein bißchen lang zu werden. Ich dachte die Pförtnerin hätte mich vielleicht nicht richtig verstanden; daher klingelte ich nochmals am Eingang und fragte, ob man Schwester M. M. benachrichtigt hätte. Eine Stimme antwortete mir: Ja. Ich setzte mich wieder, und nach einigen Minuten kam eine zahnlose alte Nonne zu mir herein und sagte mir: »Mutter M. M. ist für den ganzen Tag beschäftigt.« Hierauf ging sie hinaus, ohne mir soviel Zeit zu lassen, daß ich ein einziges Wort hätte sprechen können.

Dies war nun einer von den schrecklichen Augenblicken, wie sie einer, der Abenteuern nachjagt, zuweilen erlebt. Sie sind der bitterste Schmerz, den es gibt. Sie demütigen, schmettern nieder, töten!

Ich fühlte mich erniedrigt. Meine erste Empfindung war größte Verachtung meiner selbst, die an Wut grenzte; mein zweites Gefühl war unwillige Verachtung der Nonne, über die ich das strenge Urteil fällte, das sie zu verdienen schien und das allein mich in meinem Schmerz tröstete. Wahnsinnig, elend, schamlos mußte ich sie nennen, um nur mich selbst zu trösten. So konnte sie gegen mich nur gehandelt haben, wenn sie das schamloseste aller Weiber und wenn sie jeder Vernunft bar war; denn die beiden Briefe, die ich von ihr hatte, genügten, um ihre Ehre zu vernichten, wenn ich hätte rächen wollen; und auf meine Rache mußte sie doch gefaßt sein. Sie mußte wahnsinnig sein, diese Rache herauszufordern. Ich hätte sie auch unbedingt für wahnsinnig gehalten, wenn ich nicht ihr Gespräch mit der Gräfin angehört hätte.

Aber ich erhob mich aus dem Tumult von Scham und Zorn, der meine Seele niederbeugte, während einzelner heller Momente, die nur anbrachen. Zeit bringt Rat, sagte ich bei mir selber; sie bringt auch Ruhe, und durch Überlegung kommt Klarheit in die Gedanken. Im Grunde war es doch ein ganz gewöhnliches Erlebnis und es würde mir als solches von Anfang an erschienen sein, wenn nicht die Reize der Nonne und meine eigene Eitelkeit mich geblendet hätten. Schließlich fühlte ich, daß es nur an mir läge, über das Mißgeschick zu lachen, und daß kein Mensch würde merken können, ob ich wirklich aufrichtig darüber lachte oder nur so täte. Sophismen sind ja so schnell bei der Hand!

Trotz allen diesen schönen Vorsätzen dachte ich aber doch an Rache. Nur durfte nichts Niedriges sich in diese einmischen. Ich wollte ihr nicht den Triumph gönnen, mich mit ihrem schlechten Spaß angeführt zu haben, und darum durfte ich mich nicht beleidigt zeigen. Sie hatte mir sagen lassen, sie wäre beschäftigt. So war mir meine Rolle vorgeschrieben, ich mußte den Gleichgültigen spielen. Ohne Zweifel sagte ich mir, wird sie ein anderes Mal nicht beschäftigt sein; aber sie soll es nur versuchen, mich noch einmal in ihr Netz zu locken! Ich werde ihr zeigen, daß ich über ihr schändliches Benehmen nur gelacht habe. Selbstverständlich mußte ich ihre Briefe zurückschicken; aber dies mußte mit einem Briefchen geschehen, dessen Galanterie ihr kein Lächeln der Befriedigung entlocken würde. Am unangenehmsten war es mir, daß ich verpflichtet war, in ihre Kirche zu gehen; aller Wahrscheinlichkeit nach wußte sie nicht, daß ich C. C. zuliebe hinging, und sie hätte sich einbilden können, ich käme nur in der Hoffnung, ihr Gelegenheit zu geben, daß sie sich bei mir entschuldigte und mit mir ein neues Stelldichein verabredete. Sie sollte an meiner Verachtung durchaus nicht zweifeln können ; außerdem glaubte ich, daß die Zusammenkünfte, die sie mir angeboten hatte, nur in ihrer Phantasie möglich wären und daß sie Sie mir nur vorgespiegelt hätte, um damit Eindruck auf mich zu machen.

Mit dem Bedürfnis der Rache legte ich mich zu Bett; darüber nachdenkend schlief ich ein, und ich erwachte mit dem Entschluß, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Ich schrieb an sie; da ich aber sicher sein wollte, daß meinem Brief nicht der Liebesverdruß anzumerken wäre, der an mir nagte, so ließ ich ihn auf meinem Schreibtisch liegen, um ihn am nächsten Tag ruhigen Blutes nochmal zu lesen. Diese Vorsicht war gut, denn als ich vierundzwanzig Stunden später den Brief wieder durchlas, fand ich ihn unwürdig und zerriß ihn in tausend Fetzen. In dem Brief kamen Sätze vor, in denen sich meine Schwäche, meine Liebe, mein Verdruß verrieten, die daher nicht nur nicht sie gedemütigt, sondern im Gegenteil ihr Stoff geliefert hätten, sich über mich lustig zu machen.

Am Mittwoch schrieb ich an C. C., triftige Gründe zwängen mich, die Messen in ihrer Klosterkirche nicht mehr zu besuchen. Hierauf verfaßte ich einen anderen Brief an meine Nonne, der am Donnerstag dasselbe Schicksal wie der vorige hatte, weil ich beim Durchlesen wieder die gleichen Mängel entdeckte. Es kam mir vor, als könnte ich überhaupt nicht mehr schreiben; nach Verlauf von zehn Tagen bemerkte ich, daß ich zu verliebt war, um mich anders ausdrücken zu können als wie mein Herz es verlangte:

Sincerum est nisi vas, quodcunque in fundis acescit.
Ist das Gefäß nicht rein, wird sicherlich sauer der Inhalt.

M. M.s Gesicht hatte auf mich einen so tiefen Eindruck daß dieser nur durch das abstrakteste aller Wesen, die Zeit, verwischt werden konnte.

In der dummen Lage, in der ich mich befand, war ich hundertmal in der Versuchung, zur Gräfin S. zu gehen und mich bei ihr zu beklagen; Gott sei Dank aber war ich so vorsichtig, niemals ihre Schwelle zu überschreiten. Der Gedanke, daß die unbedachte Nonne in tausend Ängsten schweben müßte, da in meinen Händen zwei Briefe sich befanden, die ihren guten Ruf vernichten und dem Kloster großen Schaden zufügen konnten – dieser Gedanke brachte mich endlich nach zehn Tagen zu dem Beschluß, ihr die Briefe mit folgendem Begleitschreiben zurückzuschicken:

»Ich bitte Sie, mir zu glauben, Madame, daß ich nur aus reiner Vergeßlichkeit Ihnen Ihre beiden Briefe noch nicht zurückschickte. Sie finden sie anbei. Niemals habe ich daran gedacht, den Grund meines Wesens zu verleugnen und gegen Sie eine feige Rache auszuüben. Ich verzeihe Ihnen recht leicht die beiden riesigen Unbesonnenheiten, die Sie begangen haben, sei es, daß Sie dabei ganz gedankenlos Ihrer Natur gefolgt sind, sei es, daß Sie vielleicht sich über mich lustig machen wollten. Gestatten Sie mir jedoch, Ihnen den Rat zu geben, einem anderen gegenüber es nicht ebenso zu machen, denn Sie könnten an jemanden geraten, der nicht so zartfühlend wäre wie ich. Ich kenne Ihren Namen, ich weiß, wer Sie sind. Aber seien Sie ruhig, es ist so gut, wie wenn ich gar nichts wüßte. Übrigens ist es ja möglich, daß Sie meiner Verschwiegenheit wenig Wert beimessen; aber wenn das der Fall ist, so finde ich Sie sehr bedauernswert. Wie Sie sich wohl denken können, Madame, werden Sie mich nicht mehr in Ihrer Kirche sehen; aber seien Sie überzeugt, daß dies für mich kein Opfer bedeutet: ich brauche nur einfach anderswohin zu gehen, um die Messe zu hören. Doch muß ich Ihnen sagen, aus welchem Grunde ich künftighin nicht mehr in Ihrem Kloster erscheinen werde: Ich finde es ganz natürlich, wenn Sie zu den beiden von Ihnen begangenen Unbesonnenheiten noch eine dritte nicht minder große hinzugefügt haben: nämlich die, sich Ihrer Heldentaten einer Mitnonne gegenüber zu rühmen, und ich will Ihnen keinen Stoff liefern, in Ihrer Zelle oder in Ihrem Boudoir über mich zu lachen. Finden Sie es nicht allzu lächerlich, daß ich trotz den fünf oder sechs Jahren, die ich älter bin als Sie, noch nicht alle Scham abgestreift und noch nicht das ganze mir überkommene Anstandsgefühl mit Füßen getreten habe – oder, wenn Sie es lieber so ausgedrückt sehen wollen: daß ich noch einige Vorurteile mir bewahrt habe. Ich bin der Meinung, es gibt Vorurteile, die man niemals gänzlich von sich abschütteln darf. Lassen Sie sich, Madame, diesen kleinen Denkzettel gefallen, denn auch ich nehme ja gutmütig genug den hin, den Sie offenbar nur zum Spaß mir erteilt haben; ich verspreche Ihnen, ihn für mein ganzes Leben mir zur Lehre dienen zu lassen.«

Ich hielt diesen Brief den Umständen nach für sehr zahm. Nachdem ich ihn fertig gemacht hatte, maskierte ich mich und suchte mir einen Forlanen oder Friauler, der mich nicht kennen konnte. Ich gab ihm eine halbe Zechine und versprach ihm den gleichen Betrag für den Augenblick, wo er mir melden würde, daß er den Brief richtig im Kloster auf Murano abgegeben hätte. Ich gab ihm alle nötigen Weisungen und nahm ihm das Versprechen ab, daß er sich entfernen würde, sobald er den Brief der Pförtnerin übergeben hätte, selbst wenn man ihm sagen sollte, daß er warten möchte. Ich muß hier bemerken, daß die Forlanen in Venedig Dienstmänner waren, die ein besonderes Vertrauen genossen; man hatte niemals gehört, daß einem von ihnen auch nur der geringste Vertrauensbruch vorgeworfen werden konnte. Dasselbe galt früher auch von den Savoyarden in Paris; aber alles wird anders auf dieser Welt. Ich begann die Geschichte zu vergessen – jedenfalls weil ich unbewußt dachte, ich hätte zwischen ihr und mir eine unüberschreitbare Schranke aufgerichtet. Da bemerkte ich zehn Tage später beim Verlassen der Oper denselben Forlanen mit seiner Laterne in der Hand. Ohne mir etwas dabei zu denken, rief ich ihn an und fragte ihn, ob er mich kenne. Die Maske behielt ich vor dem Gesicht. Er sah mich an, musterte mich von oben bis unten und verneinte meine Frage.

»Hast du deinen Auftrag in Murano gut ausgerichtet?«

»Ah, Gott sei gelobt, Herr, daß ich das Glück habe Sie zu finden.

Ich habe Ihnen wichtige Dinge mitzuteilen. Ich habe Ihren Brief hingebracht, habe ihn abgeliefert, wie Sie mir’s befohlen hatten, und bin sofort weggegangen, als ich ihn in den Händen der Pförtnerin sah, obgleich die Nonne mir sagte, ich möchte warten.

Bei meiner Rückkehr fand ich Sie nicht mehr vor – aber einerlei. Am anderen Morgen in aller Frühe kam einer meiner Kameraden, der an der Klosterpforte gewesen war, als ich den Brief abgab, weckte mich auf und sagte mir, ich müßte nach Murano kommen, die Pförtnerin wollte durchaus mit mir sprechen. Ich ging hin. Nachdem ich ein paar Augenblicke hatte warten müssen, ließ die Schwester mich ins Sprechzimmer eintreten, wo eine Nonne, schön wie der Tag, länger als eine Stunde mich mit allen möglichen Fragen bestürmte, die sämtlich darauf hinausgingen, daß ich ihr sagen sollte, wer Sie wären, oder doch wenigstens, an welchem Orte ich Sie finden könnte. Wie Sie wissen, konnte ich ihr keine befriedigende Antwort geben. Schließlich ging sie hinaus, befahl mir aber zu warten und kam zwei Stunden darauf mit einem Brief wieder, den sie mir übergab. Sie sagte mir, wenn es mir gelänge, Brief an Sie zu bestellen und ihr eine Antwort zu überbringen, so würde sie mir zwei Zechinen geben. Unterdessen sollte ich, bis ich Sie aufgefunden hätte, jeden Tag ins Kloster kommen und ihr den Brief zeigen; dafür würde ich jedesmal vierzig Soldi erhalten. Bis jetzt habe ich auf diese Art zwanzig Lire verdient; ich fürchte sie wird des Dinges überdrüssig, und es steht nur bei Ihnen, guter Herr, mich zwei Zechinen verdienen zu lassen, indem Sie zwei Zeilen auf den Brief antworten.«

»Wo ist dieser Brief?«

Bei mir zu Hause, eingeschlossen; denn ich habe immer Angst, ich könnte ihn verlieren.«

»Ja, wie soll ich ihn denn dann beantworten?«

Haben Sie die Güte, hier auf mich zu warten; in weniger als einer Viertelstunde bin ich mit dem Brief wieder hier.«

»Ich werde nicht auf dich warten, denn diese Antwort hat gar kein Interesse für mich. Aber sage mir, wie hast du der Nonne Hoffnung machen können, daß du mich auffinden würdest? Du bist ein Spitzbube; denn es ist nicht wahrscheinlich, daß sie dir den Brief anvertraut haben würde, wenn du ihr nicht Hoffnung gemacht hättest, du würdest mich ausfindig machen!«

»Ich bin kein Spitzbube, denn ich habe genau ausgeführt, was Sie mir aufgetragen hatten. Aber ich habe ihr allerdings Ihren Anzug,Ihre Schnallen, Ihren Wuchs genau beschrieben; und ich versichere Ihnen, seit zehn Tagen sehe ich mir ganz genau jede Maske von Ihrer Figur an. Aber vergeblich. Jetzt erkenne ich allerdings Ihre Schuhschnallen wieder, ich glaube aber, Sie haben heute einen anderen Rock an. Ach, Herr! es kostet Ihnen doch nichts, eine einzige Zeile zu schreiben. Seien Sie doch so gut und warten Sie in dem Kaffeehause hier einen Augenblick auf mich!«

Ich konnte meiner Neugier nicht länger widerstehen und entschloß mich, nicht auf ihn zu warten, wohl aber ihn nach seinem Hause zu begleiten. Ich brauchte nur zu schreiben: Ich habe den Brief erhalten. Damit verschaffte ich mir eine Genugtuung und ließ fogleich den Forlanen zwei Zechinen verdienen. Am nächsten Tage wechselte ich Schuhschnallen und Maske und konnte dann aller Nachforschungen lachen.

Ich begleitete also meinen Fertanen bis an seine Tür; er ging hinein und brachte mir den Brief heraus. Ich gehe mit ihm in ein Wirtshaus, lasse mir ein Zimmer geben, ein gutes Feuer anmachen und sage dem Mann, er solle warten. Ich öffne den dicken Brief, und das erste, was meine Augen sehen, sind die beiden Briefe, die ich ihr zurückgeschickt hatte, um sie wegen der Folgen ihrer Unbesonnenheit zu beruhigen.

Bei diesem Anblick bekam ich so heftiges Herzklopfen, daß ich mich setzen mußte: die Rücksendung der Briefe war ein sicheres Zeichen meiner Niederlage. Außer diesen beiden Briefen sah ich ein kleines Briefchen, das an M. M. überschrieben und mit S. unterzeichnet war. Ich las es, es enthielt nur folgende Worte: »Die Maske, die mich hin- und zurückbegleitete, hätte, glaube ich, überhaupt nicht den Mund aufgetan, wenn ich nicht die Bemerkung gemacht hätte, die Reize Deines Geistes seien noch verführerischer als die Deines Antlitzes. Er antwortete mir: Das eine habe ich gesehen, und das andere glaube ich. Ich fuhr fort, ich könnte nicht begreifen, warum Du gar nicht mit ihm gesprochen hättest, und er antwortete lächelnd: Ich wollte mich ihr nicht vorstellen lassen; sie hat mich dafür bestraft, indem sie von meiner Anwesenheit keine Notiz nahm. Das war unser ganzes Gespräch. Ich wollte Dir dies Briefchen heute früh schicken, aber es war mir unmöglich. Lebe wohl!«

Nachdem ich dies Billett gelesen hatte, das genau der Wahrheit entsprach und der Nonne als Entlastungsbeweis dienen konnte, verminderte sich mein Herzklopfen. Die Aussicht, mich einer Ungerechtigkeit überführt zu sehen, entzückte mich; ich faßte Mut und las folgenden Brief:

»Eine Schwachheit, die ich für sehr verzeihlich halte, machte mich neugierig, zu erfahren, was sie unterwegs zur Gräfin über mich gesagt hatten; ich benutzte einen günstigen Augenblick, um ihr unbemerkt zu sagen, sie möchte mir spätestens am nächsten Morgen Mitteilung darüber machen, denn ich sah voraus, daß Sie mir im Laufe des Nachmittags einen pflichtschuldigen Besuch abstatten würden. Ihr Briefchen, das ich Ihnen sende, mit der Bitte, es zu lesen, ist mir erst zugegangen, als Sie seit einer halben Stunde fort waren.

Erstes Verhängnis.

Da ich diesen Brief noch nicht erhalten hatte, als Sie mich rufen ließen, besaß ich nicht die Kraft, Ihren Besuch anzunehmen. Dies war eine gräßliche Schwachheit – die Sie aber, wie ich hoffe, für ebenso verzeihlich halten werden. Denn es war das zweite Verhängnis. Ich befahl der Laienschwester Ihnen zu sagen: ich sei für den ganzen Tag krank. Dies war eine sehr berechtigte Entschuldigung, einerlei, ob sie wahr oder falsch war; denn es war eine Anstandslüge, die durch die Worte: für den ganzen Tag als bloße Ausrede erkennbar war. Sie waren schon fortgegangen, und es war mir nicht mehr möglich, Sie zurückholen zu lassen, als das alberne alte Weib mir meldete, sie habe Ihnen gesagt, ich sei beschäftigt.

Dies war das dritte Verhängnis!

Sie können sich nicht vorstellen, was ich der dummen Nonne am liebsten alles gesagt und angetan hätte; aber hier im Kloster darf man gar nichts sagen oder tun; man muß Geduld haben und sich verstellen und noch obendrein Gott danken, daß die Versehen in Dummheit und nicht in Bosheit ihren Ursprung haben; denn das letztere kommt in Klöstern gar nicht selten vor. Ich sah sofort – wenigstens zum Teil – voraus, wie es denn auch wirklich gekommen ist; denn alles konnte wohl, glaube ich, menschliche Vernunft doch nicht voraussehen. Ich erriet, daß Sie sich für genasführt hielten, und daß Sie empört sein würden, und ich empfand darob einen unaussprechlichen Kummer; denn ich sah keine Möglichkeit, Ihnen vor dem nächsten Feiertag die Wahrheit kundzugeben. Mein Herz rief diesen Tag mit glühender Sehnsucht herbei: wie hätte ich wohl ahnen können, daß Sie den Entschluß fassen würden, nicht mehr in unsere Messe zu gehen. Geduldig trug ich mein Unglück bis zum nächsten Sonntag; aber als ich mich in meiner Hoffnung getäuscht sah, da wurde mein Schmerz unerträglich; und er wird mich töten, wenn Sie sich weigern, meine Rechtfertigung anzuerkennen. Ihr Brief hat mich völlig unglücklich gemacht, und ich werde meiner Verzweiflung erliegen, wenn Sie bei dem grausamen Entschluß beharren, von dem Ihr Brief mir spricht. Sie halten sich für gefoppt. Weiter können Sie nichts sagen. Aber wird nun dieser mein Brief Sie von Ihrem Irrtum überführen? Selbst wenn Sie glaubten, ich hätte Sie schmachvoll betrogen, so konnten Sie – dies müssen Sie zugeben! – mir einen so schrecklichen Brief doch nur schreiben, wenn Sie mich für ein gradezu abscheuliches Ungeheuer hielten, wie eine Frau von vornehmer Geburt und Erziehung es unmöglich sein kann. Ich lege die beiden Briefe wieder bei, die Sie mir zurückschickten, weil Sie glaubten, dadurch meine Unruhe zu beschwichtigen, die Sie aber grausamerweise einer ganz falschen Ursache zuschreiben. Ich verstehe mich besser als Sie auf Gesichter; seien Sie überzeugt: was ich tat, habe ich nicht aus Unbesonnenheit getan; denn ich habe Sie niemals auch nur einer unschönen Handlungsweise für fähig gehalten, geschweige denn einer Schlechtigkeit. Sie müssen in meinen Gesichtszügen nur die Seele eines schamlosen Tollkopfes entdeckt haben – und das bin ich nicht. Sie werden vielleicht an meinem Tode schuld sein oder zum mindesten mich für mein ganzes Leben unglücklich machen, wenn Sie es unterlassen, nun auch sich zu rechtfertigen; denn ich meinerseits glaube mich im vollsten Maße gerechtfertigt zu haben.

Ich hoffe, Sie werden, selbst wenn Ihnen an meinem Leben nichts liegen sollte, doch einsehen, daß Ihre Ehre erheischt, mich zu einer Unterredung aufzusuchen. Kommen Sie selber und nehmen Sie alles zurück, was Sie mir geschrieben haben! Sie müssen es, und ich verdiene es! Sollten Sie nicht begreifen, wie verhängnisvoll Ihr Brief auf mich gewirkt hat, wie verhängnisvoll er auf das Herz jeder unschuldigen und nicht gradezu wahnwitzigen Frau wirken müßte – so könnte ich, trotz meinem Unglück, Sie nur bedauern; denn alsdann hätten Sie gar keine Kenntnis vom Menschenherzen. Aber ich bin gewiß, Sie werden wiederkommen – wenn es nur dem Mann, dem ich diesen Brief übergebe, gelingt, Sie aufzufinden. Leben Sie wohl! Ich erwarte von Ihnen Leben oder Tod!«

Ich brauchte diesen Brief nicht zweimal zu lesen. Ich war verwirrt, verzweifelt. M.M. hatte recht. Ich ließ sofort den Friauler hereinkommen und fragte ihn, ob er am Morgen mit ihr gesprochen und ob sie krank ausgesehen hätte. Er antwortete mir, er hätte sie jeden Tag trauriger und abgespannter gefunden und sie hätte rote Augen.

»Warte draußen auf mich!«

Ich setzte mich zum Schreiben nieder und war erst bei Tagesanbruch mit meinem wortreichen Geschreibsel fertig. Mein Brief an das edelste Weib, das ich in meinem Ärger so falsch beurteilt hatte, lautete folgendermaßen:

»Ich bin schuldig, Madame, und kann gar nichts zu meiner Verteidigung anführen. Von ihrer Unschuld aber bin ich vollkommen überzeugt. Ich wäre untröstlich, wenn ich nicht die süße Hoffnung hegte, meine Verzeihung zu erlangen, und Sie werden mir diese nicht verweigern, wenn Sie gütigst bedenken, was mich hat schuldig werden lassen. Ich sah Sie, Sie blendeten meine Augen, und ich konnte ein Glück nicht fassen, das mir als eine Chimäre erschien; ich glaubte, ich wäre in einem jener köstlichen Träume befangen, die beim Erwachen verschwinden. Erst vierundzwanzig Stunden später konnte ich Gewißheit erlangen, ob meine Zweifel wirklich unberechtigt wären; und wer könnte die Ungeduld schildern, womit ich auf diesen glücklichen Augenblick wartete. Endlich war er da, und von Begierde und Hoffnung getrieben flog mein Herz Ihnen entgegen, während ich im Sprechzimmer saß und die Minuten zählte. Eine Stunde verging mir jedoch ziemlich schnell; dies war eine natürliche Wirkung meiner Ungeduld und der Art von Rührung, in die mich der Gedanke versetzte, daß ich Sie würde eintreten sehen. Aber gerade in dem Augenblick, wo ich ganz sicher glaubte, ich würde das geliebte Gesicht sehen, dessen Züge sich auf den ersten Blick unauslöschlich in mein Herz eingegraben hatten – da sah ich die widerlichste alte Vettel, die mir mit kalter, mürrischer Miene sagte, Sie seien für den ganzen Tag beschäftigt. Ehe ich noch zu mir kommen konnte, war sie schon wieder fort. Stellen Sie sich meine Betäubung und alle meine Gefühle vor. Der Blitz hätte mich nicht plötzlicher und furchtbarer treffen können. Hätten Sie mir durch dieselbe Laienschwester zwei Zeilen geschickt, zwei Zeilen von Ihrer Hand – ich wäre, wenn auch nicht zufrieden, so doch gefaßt und Ihrem Willen gehorsam fortgegangen.

Aber nun kommt ein viertes Verhängnis, das Sie bei Ihrer köstlichen pikanten Rechtfertigung nicht mit aufgeführt haben. Ich hielt mich für gefoppt, mein Stolz empörte sich und Entrüstung brachte für einen Augenblick meine Liebe zum Schweigen. Die Scham erstickte mich. Ich glaubte, jedermann müßte auf meinem Gesicht das ganze Entsetzen lesen, das ich in mir verspürte; ich sah in Ihnen nur ein entsetzliches Ungeheuer, in Engelsgestalt. Mein Geist war ganz über den Haufen geworfen, und nach elf Tagen verlor ich den kleinen Rest von Vernunft, der mir noch geblieben war. Dies muß ich wenigstens annehmen, denn an jenem Tage schrieb ich den Brief, über den Sie mit Recht sich beklagen, den ich aber damals für ein Meisterstück von Mäßigung hielt.

Jetzt ist, hoffe ich, alles in Ordnung, und schon heute früh um elf Uhr werden Sie mich zärtlich, gehorsam und reuig zu Ihren Füßen sehen. Sie werden mir vergeben, himmlisches Weib, oder ich selber räche Sie für die Unbill, die ich Ihnen angetan habe. Nur um eine einzige Gnade wage ich Sie zu bitten: verbrennen Sie meinen Brief und lassen Sie zwischen uns niemals mehr von ihm die Rede sein. Ich habe ihn erst abgesandt, nachdem ich vier andere einen nach dem andern zerrissen hatte. Ermessen Sie daraus, in welcher Gemütsverfassung ich mich befand.

Ich lasse den Dienstmann sofort nach Ihrem Kloster gehen, damit Ihnen beim Erwachen schon mein Brief übergeben wird. Der Mann würde mich niemals entdeckt haben, wenn mich nicht mein guter Geist getrieben hätte, ihn anzusprechen, als ich aus der Oper kam. Ich werde seiner nicht mehr bedürfen. Antworten Sie mir nicht und empfangen Sie die aufrichtigsten Beteuerungen eines Herzens, das Sie anbetet!«

Als der Brief fertig war, rief ich meinen Friauler herein, gab ihm eine Zechine und ließ mir von ihm versprechen, sofort nach Murano zu fahren und der Nonne meinen Brief nur zu ihren eigenen Händen zu übergeben. Sobald er fort war, warf ich mich auf das Bett, aber vor Ungeduld und Sehnsucht konnte ich kein Auge zutun.

Der Leser kann sich denken, daß ich in meiner Ungeduld pünktlich zur Stelle war. Man ließ mich in das kleine Sprechzimmer eintreten, wo ich sie zum erstenmal gesehen hatte, und bald kam sie.

Als ich sie hinter dem Gitter sah, sank ich auf beide Knie nieder; aber sie bat mich schnell wieder aufzustehen, weil man mich sehen könnte. Ihr Gesicht war wie von Feuer übergossen, ihr Blick aber erschien mir himmlisch. Sie setzte sich, und ich nahm auf einem Stuhle ihr gegenüber Platz. So saßen wir mehrere Minuten lang und sahen uns an, ohne ein Wort zu sagen. Endlich brach ich jedoch das Schweigen, indem ich in zärtlichem aber halb ersticktem Ton sie fragte, ob ich auf meine Vergebung hoffen könnte. Sie streckt nur durch das Gitter hindurch ihre schöne Hand entgegen, und ich bedeckte diese mit Tränen und mit Küssen.

»Unsere Bekanntschaft«, hub sie an, »hat mit einem heftigen Gewitter begonnen; hoffen wir, daß sie fortan vollkommen und auf die Dauer ruhig sein werde. Wir sprechen uns heute zum erstenmal, aber nach dem zwischen uns Vorgefallenen müssen wir uns gegenseitig vollkommen kennen. Ich hoffe, unser Bund wird ebenso zärtlich wie aufrichtig sein, und wir werden uns gegenseitig unsere Fehler zu vergeben wissen.«

»Kann ein Engel wie Sie Fehler haben?«

»Oh, lieber Freund, wer hätte denn keine?«

»Wann werde ich das Glück haben können, Sie ohne allen Zwang und ganz der Freude meines Herzens folgend, von der Tiefe meiner Gefühle überzeugen zu dürfen?«

»Wir speisen in meinem Kasino zu Abend, sobald Sie wollen; nur muß ich es zwei Tage vorher wissen. Oder auch: ich komme nach Venedig, und wir essen bei Ihnen, wenn Ihnen das nicht unbequem ist.«

»Es würde nur mein Glück erhöhen. Ich glaube Ihnen sagen zu müssen, daß ich mich in sehr angenehmen Verhältnissen befinde; daß ich Geldausgaben nicht scheue, sondern im Gegenteil liebe. Alles aber, was ich habe, gehört dem Wesen, das ich anbete.«

»Ihre Mitteilung, lieber Freund, ist mir sehr angenehm, um so angenehmer, da auch ich Ihnen sagen kann, daß ich reich bin und meinem Geliebten keinen Wunsch versagen kann.«

»Sie haben aber gewiß schon einen?«

»Ja ; und er ist es, der mich reich macht. Er ist mein unumschränkter Gebieter. Ich habe niemals Heimlichkeiten vor ihm. Wenn wir übermorgen unter vier Augen sind und ich ganz die Ihre bin, sollen Sie mehr darüber erfahren .«

»Aber ich hoffe doch, Ihr Liebhaber . . .«

»Wird nicht dabei sein – verlassen Sie sich darauf. Haben Sie auch eine Geliebte?«

»Ich hatte eine. Aber ach, man hat sie nur mit Gewalt entrissen, und ich lebe seit sechs Monaten in vollkommenem Zölibat.«

»Sie lieben sie noch?«

»Ich kann nicht an sie zurückdenken, ohne sie zu lieben. Sie kommt Ihnen fast gleich an Schönheit und Reiz, aber ich sehe voraus, um Ihretwillen werde ich sie vergessen!«

»Wenn Sie glücklich waren, beklage ich Sie aufrichtig. Man entriß sie Ihnen, und Sie flohen die Welt, um sich Ihrem Kummer hinzugeben. Ich habe Sie erraten; aber wenn es so kommt, daß ich mich des Platzes bemächtige, den sie noch in Ihrem Herzen einnimmt, dann, mein holder Freund, soll kein Mensch mich daraus vertreiben!«

»Aber was wird Ihr Liebhaber dazu sagen?«

»Er wird entzückt sein, mich mit einem Geliebten wie Sie zärtlich und glücklich zu sehen. Dies ist nun mal sein Charakter.«

»Ein bewunderungswürdiger Charakter! Zu solchem Heroismus würde mir Charakter und Kraft fehlen.«

»Was für ein Leben führen Sie in Venedig?«

»Ich besuche Theatergesellschaften, Kasinos und kämpfe dort mit dem Glück, das mir bisweilen hold, bisweilen auch feindlich ist.«

»Besuchen Sie die fremden Gesandten?«

»Nein; ich stehe in allzu engen Beziehungen zu Patriziern; aber ich kenne sie alle.«

»Wie kommt es, daß Sie sie kennen, da Sie doch nicht mit ihnen verkehren?«

»Ich habe Sie im Ausland kennen gelernt: in Parma den spanischen Botschafter, Herzog von Montalegre; in Wien den Grafen Rosenberg; in Paris vor ungefähr zwei Jahren den französischen Botschafter.«

»Es wird gleich Mittag läuten, lieber Freund, es ist Zeit, daß wir uns trennen. Kommen Sie übermorgen zur selben Stunde, und ich werde Ihnen die nötigen Unterweisungen geben, damit Sie abends mit mir zusammen speisen können.«

»Unter vier Augen?«

»Das versteht sich.«

»Darf ich wagen, Sie um ein Unterpfand Ihres Versprechens zu bitten? Denn das Glück, das Sie mir verheißen, ist ja so groß!«

»Was für ein Unterpfand wollen Sie?«

»Daß Sie sich an das kleine Fenster stellen und mir erlauben, mich an die Stelle der Gräfin S. zu versetzen.«

Sie stand auf und drückte mit dem anmutigsten Lächeln auf die Feder; nachdem ich den innigsten Kuß empfangen hatte, ging ich. Ihre Augen begleiteten mich bis an die Tür, und ihr liebevoller Blick hätte mich dort festgehalten, wenn sie nicht endlich gegangen wäre.

Ich verbrachte die beiden Tage des Wartens in solcher Freude und Ungeduld, daß ich nicht essen noch schlafen konnte; mir schien, ich hätte noch niemals solches Glück in der Liebe gehabt, oder vielmehr: mir schien, als sollte ich zum erstenmal in meinem Leben wirklich glücklich sein.

Meine neue Eroberung war von vornehmer Herkunft, war schön und geistvoll; aber zu diesen tatsächlichen Vorzügen kam noch ein eingebildeter hinzu, der nur mein Glück beinahe unfaßbar machte: ich hatte mit einer Vestalin zu tun. Eine verbotene Frucht wurde mir geboten, und wer wüßte nicht, daß seit Evas Tagen bis auf unsere Zeit gerade die verbotene Frucht uns immer am süßesten dünkt. Ich sollte einem allmächtigen Gatten ins Gehege kommen; und darum stand in meinen Augen M. M. hoch über allen Königinnen.

Wäre nicht in diesen Augenblicken meine Vernunft von der Leidenschaft verblendet gewesen, So hätte ich wohl gesehen, daß diese Nonne auch nicht anders beschaffen sein konnte als alle die hübschen Frauen, die ich in den dreizehn Jahren gekannt, seitdem ich zum erstenmal das Schlachtfeld der Liebe betreten hatte. Aber welcher Verliebte würde sich wohl mit solchem Gedanken abgeben! Er weist ihn verächtlich von sich, wenn er ihm zufällig sich aufdrängen sollte. M. M. mußte durchaus hoch über der schönsten Frau der Welt stehen.

Die animalische Natur – was die Chemiker das animalische Reich nennen – verschafft sich instinktmäßig die drei Mittel, die sie notwendig braucht, um sich in Ewigkeit fortzupflanzen.

Diese Mittel sind drei wirkliche Bedürfnisse, die die Natur allen Geschöpfen eingepflanzt hat. Sie müssen sich nähren, und diese Notwendigkeit wäre eine dumme und verdrießliche Last für sie, wenn sie nicht die Empfindung des Hungers hätten und ein Vergnügen daran fänden, diesen zu befriedigen. Sie müssen ihre Art fortpflanzen; dies ist eine unumgängliche Notwendigkeit, in der sich die ganze Weisheit des Schöpfers offenbart; denn ohne Fortpflanzung und Vermehrung würde nach dem immer gültigen Gesetz der Entartung, des Vergehens und des Sterbens alles zunichte werden. Mögen nun der heilige Augustin und andere, die nicht vernünftiger sind als er, sagen, was sie wollen – die Geschöpfe würden sich mit der Arbeit der Fortpflanzung nicht befassen, wenn sie nicht ihr Vergnügen daran fänden und wenn das große Werk sie nicht durch einen unwiderstehlichen Reiz anzöge. Endlich haben alle Geschöpfe eine ganz entschiedene und unbewegliche Neigung, ihre Feinde zu vernichten. Und sicherlich kann es nichts Vernünftigeres geben; denn der Selbsterhaltungstrieb macht es ihnen zur Pflicht, die Zerstörung alles dessen, was ihnen schaden kann, mit allen Kräften zu wünschen und zu erstreben.

Wenn nun aber auch diese Gesetze allgemein gültig sind, so handelt doch jede Art für sich allein. Die drei Empfindungen Hunger, Lustbegierde, Haß werden von den Tieren rein gewohnheitsmäßig befriedigt, und wir brauchen sie nicht zu den Genüssen zu rechnen; denn von Genuß kann nur im Bezug auf ein Individuum die Rede sein. Der Mensch allein ist mit vollkommenen Organen begabt; daher ist wirklicher Genuß nur ihm eigentümlich, denn mit der erhabenen Fähigkeit des Denkens begabt, erkennt er den Genuß: er sucht ihn, mischt ihn mit anderen Genüssen, vervollkommnet ihn und erweitert ihn durch Überlegung und Erinnerung. Ich bitte dich, lieber Leser: ärgere dich nicht und begleite mich noch ein bißchen weiter. Ich bin heute ja nur noch der Schatten des munteren Casanova. Ich schwatze gern. Aber wenn du mir deshalb davonliefest, so wäre das nicht höflich oder jedenfalls nicht nett von dir.

Der Mensch ist nicht besser als ein Tier, wenn er sich den erwähnten drei Neigungen hingibt, ohne Vernunft und Urteil zu Hilfe zu rufen. Aber wenn die Neigungen durch ein geistiges Element ins Gleichgewicht gebracht werden, dann werden diese Empfindungen Genüsse, und zwar vollkommene Genüsse. Es ist ein unerklärliches Gefühl, durch das allein es uns möglich ist, sogenanntes Glück zu genießen, und das wir nur empfinden, ohne es beschreiben zu können.

Ein mit Vernunft begabter sinnlicher Mensch verschmäht die Völlerei, weist mit Verachtung Ausschweifung und Wollust von sich und will nichts von jener brutalen Rache wissen, die der ersten Zornesaufwallung entspringt. Aber er ist lecker und befriedigt seinen Appetit nur auf eine Weise, die seiner Natur entspricht. Er ist verliebt, aber er genießt des geliebten Wesens nur, wenn er sicher ist, daß es seinen Genuß teilt, und dies kann nur der Fall sein, wenn ihre Liebe gegenseitig ist. Wenn ihm eine Beleidigung widerfährt, rächt er sich erst, nachdem er mit kaltem Blut die sichersten Mittel erwogen hat, die ihm die Rache zu einem Genuß machen. Wenn er zuweilen grausamer ist, so tröstet er sich, weil er mit Überlegung gehandelt hat; endlich ist zuweilen seine Rache so edel, daß sie im Verzeihen besteht. Bei solcher Auffassung sind die drei Wandlungen das Werk der Seele, die sich zur Dienerin der Leidenschaften macht, um Genuß davon zu haben. Wir erdulden zuweilen Hunger, um uns die Speisen, die ihn stillen sollen, besser schmecken zu lassen; wir verzögern den Liebesgenuß, um ihn lebhafter zu machen, und wir verschieben den Augenblick der Rache, um sie sicherer zu machen. Andererseits freilich kann man an einem verdorbenen Magen sterben; in der Liebe lassen wir uns oft durch Sophismen täuschen, und der Mensch, den wir vernichten wollen, entgeht oft unserer Rache. Aber Vollkommenes gibt es eben nicht, und dieses Risiko nehmen wir daher gern in den Kauf.