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991. Nacht

Geschichte eines Mannes, der aus Reue sein
Leben lang nicht mehr gelacht hat

Ein sehr angesehener und begüterter Mann hatte einen
Sohn, den er sehr zeitig verlassen musste, denn ein schneller Tod nahm den Vater
von der Welt. Er hinterließ seinem Sohn sehr viele Reichtümer, welche dieser
aber, als er größer wurde, durch törichte Ausgaben sehr verminderte, indem er
nicht das Glück genossen hatte, von seinem Vater hierüber besondere Lehren
empfangen zu können. Diese Verschwendung ging so weit, dass er große Summen
und Geschenke von beträchtlichem Wert an seine Freunde austeilte, bis endlich
das ganze Vermögen seines Vaters verbraucht war. Dies brachte ihn indessen eben
nicht auf den Weg der Besserung. Vielmehr fing er nun an, seine Sklavinnen, so
wie auch seine äcker und Landhäuser zu verkaufen. Das dafür erhaltene Geld
verschwendete er dann ebenso töricht auf Spiel und alle Arten von
Lustbarkeiten. Endlich trieb er seine Torheit so weit, dass er zuletzt seine
Kleider verkaufte. Als auch dieses Mittel erschöpft war, und er nichts mehr
hatte, und vom Hunger gequält wurde, während auch seine Freunde ihm nicht mehr
beistehen wollten, beschloss er, sich für Lohn auf Tagearbeit zu vermieten. So
schwer ihm dies auch anfangs wurde, so gelang es ihm doch, sich seinen Unterhalt
zu verschaffen. Schon hatte er ein Jahr lang sich auf diese Art erhalten, als er
eines Tages, da er sich wie gewöhnlich an einen Ort gesetzt hatte, um
abzuwarten, ob ihn jemand mieten würde, von einem sehr ehrwürdigen Greis
angesprochen wurde. Da der Alte ihn sehr genau ansah, so fragte ihn der junge
Mann: „Kennst Du mich denn?“ – „Das wohl nicht,“ erwiderte
der Alte, „aber ich bemerke an Dir Spuren von Wohlstand, die mich
befremden.“ Worauf ihm jener antwortete: „Gewohnheit lässt sich
schwer vertilgen: Aber sage mir nur kurz, ob Du mich brauchen kannst?“ –
„Das könnte ich wohl,“ sagte der Greis, „wisse aber, dass wir
eine Gesellschaft von zehn Greisen ausmachen, die in einem Haus wohnen. Wir
haben niemanden, der unsere Ausgaben besorgte, und es wäre mir sehr angenehm,
wenn Du die Verpflichtung über Dich nehmen wolltest, für unsere Kleidung,
Speise und Trank zu sorgen. Auf diese Art könnte Dich Gott wieder in Deinen
vorigen Wohlstand versetzen.“ – „Das würde ich sehr gern
übernehmen,“ erwiderte er – „Nun wohl,“ erwiderte der Greis,
„doch habe ich noch folgende Bedingung, nämlich die, dass Du das tiefste
Stillschweigen über das alles beobachtest, was Du bei uns sehen wirst, und dass
Du, wenn Du uns weinen siehst, nie um die Ursache unserer Betrübnis
fragst.“ – „Diese Bedingungen gehe ich ein, ehrwürdiger Vater.“
– „Nun gut,“ sagte jener, „schicke Dich in Gottes Namen an.“
Der junge Mann stand nun auf und folgte dem Greis. Dieser führte ihn zuerst in
ein Bad, überreichte ihm dann ein sehr schönes Gewand, und so bekleidet
führte er ihn hierauf in sein Haus, welches ein sehr hohes und geräumiges
Gebäude war, und überfluss an allen Bequemlichkeiten hatte. Nachdem er mit ihm
durch mehrere Zimmer und Gemächer gegangen war, kamen sie in einen großen
Saal, dessen Wände mit farbigem Marmor ausgetäfelt waren. Die Decke war
himmelblau gemalt und der Fußboden mit den kostbarsten Teppichen belegt. In
diesem Saal saßen zehn Greise, einer dem anderen gegenüber. Sie waren mit
Trauerkleidern angetan, weinten, und kehrten sich an nichts, was um sie her
vorging. Der junge Mann war darüber sehr erstaunt und eben im Begriff, seinem
Gefährten darüber zu fragen, als er sich noch zu rechter Zeit an die Bedingung
erinnerte und seine Neugier bezähmte. Sie gingen hierauf in ein anderes Gemach,
und hier übergab ihm der Greis einen Kasten, in welchem sich dreißigtausend
Goldstücke befanden, und sagte: „Mein Sohn, von diesem Gold hier bestreite
unsere Ausgaben, bewahre aber wohl das Geheimnis, was ich Dir anvertraut
habe.“ Drei Jahre hatte der junge Mann sein Amt treu verwaltet, als einer
der Greise starb. Seien Gefährten nahmen ihn, wuschen ihn, wickelten ihn in ein
Leichentuch und begruben ihn in einem Garten, der hinter dem Haus war. Nach
Verlauf noch eines Jahres, in welchem der junge Mann seine Pflicht, wie
gewöhnlich erfüllt hatte, starb ein anderer Greis, den sie ebenso behandelten
und neben dem ersten begruben. Es hörte jedoch der Tod nicht auf, einen nach
dem anderen hinwegzuraffen, bis nur noch derjenige übrig war, der den jungen
Mann gemietet hatte. Mehrere Jahre bleiben sie nun in diesem Hause allein
wohnen, bis auch dieser letzte Greis erkrankte. Darüber geriet jener in die
tiefste Betrübnis, leistete ihm beständig Gesellschaft und teilte seine
Schmerzen und sein Leiden. Eines Tages sprach er zu dem Greis: „Mein Herr,
zwölf Jahre habe ich Euch bedient, nie habt ihr mich nachlässig gefunden,
sondern alle meine Sorgfalt habe ich Euch gewidmet.“ – „Das ist alles
wahr,“ sagte der Greis. „Ist Dir irgend etwas bekannt,“ fragte
ihn hierauf jener, „worüber Du mir Vorwürfe machen könntest?“ –
„Nein.“ – „Nun wohl,“ fuhr jener fort, „ich kann also
mit desto mehr Zutrauen die Bitte an Dich richten, mir die Ursache Deines
Weinens und der Betrübnis Deiner anderen Freunde zu sagen.“ – „Mein
Sohn,“ erwiderte jener, „das brauchst Du nicht zu wissen. Verlange
nicht von mir etwas, was ich nicht tun kann, denn ich habe ein Gelübde getan,
dieses niemandem zu sagen, damit er nicht in dieselbe Lage komme, in welche wir
versetzt worden sind. Wenn Du also von unserem harten Schicksal befreit bleiben
willst, so hüte dich, jemals jene Türe, (die er ihm mit der Hand zeigte), zu
öffnen. Kannst Du aber Deiner Neugierde nicht widerstehen, und lässt Du Dich
durch Deinen Vorwitz hinreißen, sie zu öffnen, dann wirst Du zwar die Ursache
unseres Betragens erfahren, aber Du wirst Deinen Schritt tief und lebenslang
bereuen.“ Die Krankheit des Greises nahm unterdessen täglich zu und
endlich starb er. Da wusch ihn sein Pfleger, besorgte alles nötige und begrub
ihn neben seinen Freunden.