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985. Nacht

Während sie in der besten Unterredung waren, kam der Herr
des Knaben an, klopfte an die Türe, und sie verbarg den Knaben unter einem
Korb. Kaum hatte der Neuangekommene sich gesetzt, und sich mit der Frau
unterhalten, als sich auch ihr Mann an der Türe einfand, und durch Klopfen
eingelassen zu werden verlangte. „Was ist zu tun?“, fragte der Fremde
erschrocken. – „Das Beste, was Du tun kannst,“ erwiderte sie,
„ist, dass Du Dich gegen mich grimmig anstellst, mich bedrohst, und mich
schiltst. Sobald aber mein Mann eingetreten ist, so verlasse diesen Ort ganz
unbesorgt.“ So tat er denn nun, und als ihr Mann herein trat, und einen
Waffenträger des Königs mit gezogenem Schwert erblickte, war er erstaunt, und
fragte seine Frau um die Ursache. Der Schwertträger aber streckte sein Schwert
in die Scheide, und ging davon.

„Ich war, lieber Mann,“ sagte nun die Frau,
„mit Waschen beschäftigt, als ein Knabe zu mir herein trat, und bei mir
Schutz gegen einen Ungerechten suchte, der ihn mit gezogenem Schwert verfolgte,
und ihn töten wollte. Da habe ich ihn denn unter jenen Korb versteckt, und
dieser Mann verfolgte ihn sodann bis hierher, und bedrohte mich, wie Du gesehen
hast, weil ich es leugnete, dass der Knabe bei mir sei. Gott sei Dank, dass Du
endlich gekommen bist, sonst wäre ich verloren gewesen.“ Er ging hierauf
zu dem Korb, und sagte zu dem Knaben: „Du hast nichts mehr zu befürchten.
Gehe in Frieden.“ Der Mann merkte auf diese Weise nicht, dass er von seiner
Frau doppelt betrogen worden war.

„Hier hast Du ein neues Beispiel von der List der
Frauen,“ fügte der Wesir hinzu, und dies bewog den König, den Tod seines
Sohnes aufzuschieben.

Bei Anbruch der dritten Nacht begab sich die Frau wieder
zum König, verlangte Gerechtigkeit gegen seinen Sohn, und erzählte folgende
Geschichte, um ihm zu beweisen, dass er seinen Wesiren nicht trauen dürfe:

Der
Königssohn und der Wesir

Ein König hatte einen Sohn, den er sehr liebte, und
seinen übrigen Kindern weit vorzog. Dieser äußerte einst gegen seinen Vater
den Wunsch, auf die Jagd zu gehen. Nachdem der König die dazu nötigen Befehle
erteilt hatte, trug er seinem Wesir auf, seinen Sohn zu begleiten und für alle
seien Bedürfnisse Sorge zu tragen. Mit allem nötigen versehen, gelangten sie
endlich an einen zur Jagd sehr günstigen Ort, in welchem sehr viel Wild war.
Der Sohn des Königs ging voran, ließ die Falken und Jagdhunde los, und sie
machten großen Fang von aller Art, als sie bereits auf die Rückkehr bedacht
waren, traf der Prinz auf eine sehr schöne Gazelle, die sich von ihren
Gefährten entfernt zu haben schien. Die Lust, sie zu fangen, bemächtigte sich
seiner, und er sagte zu dem Wesir, dass er sie verfolgen wolle. Er eilte ihr
auch wirklich sogleich nach, und entfernte sich durch die Verfolgung derselben
immer mehr von dem Wesir.

Schon begann es Abend zu werden, als die Gazelle sich in
eine Bergschlucht rettete. Dahin wollte sie der Prinz nicht weiter verfolgen. Er
wollte jetzt zurück. Allein es war schon dunkel, und er konnte den Weg dahin
nicht finden. Um sich nicht noch weiter zu verirren, beschloss er, auf derselben
Stelle den Morgen zu erwarten. Allein am Morgen war er nicht glücklicher. Er
irrte überall umher, ohne den Weg finden zu können. Endlich sah er von Fern
eine Stadt, und eilte auf sie zu. Allein bei seiner Hinkunft fand er sie ganz
wüste und zerstört. Ihre Ruinen setzten ihn in Erstaunen. Plötzlich sah er
unter einer Mauer ein schönes Mädchen sitzen, welches weinte und wehklagte. Er
näherte sich ihr, und fragte, wer sie wäre, und wer sie hierher gebracht habe.
Da antwortete sie ihm: „Ich heiße Namyme1),
Tochter des Netach2), des
Königs des grauen Landes. Ich war bei Nacht aus meines Vaters Haus gegangen,
als ein Geist auf mich losstürzte, der mich durch die Lüfte fort trug. Hier
bin ich nun schon seit drei Tagen dem Hunger und dem Durst ausgesetzt. Als ich
Dich indessen sah, gewann ich wieder Hoffnung zum Leben.“ Diese Rede
rührte den Prinzen, und von Mitleid durchdrungen, ließ er sie hinter sich auf
sein Pferd setzen. „Wenn mir Gott aus dieser wüsten Einöde hilft,“
sagte er zu ihr, „so verspreche ich, Dich zu Deiner Familie
zurückzuführen.“ Hierauf betete er, und empfahl sich Gott. Während er
seinen Weg weiter fortsetzte, kam er an einem Gesträuch vorbei, hinter welchem
eine Mauer war. „Hier,“ sprach das Mädchen zu dem Prinzen, „habe
ich etwas zu verrichten. Warte ein wenig auf mich.“ Der Prinz hielt sein
Pferd an. Sie stieg ab, und trat hinter die Mauer. Allein bald darauf kam sie
wieder hervor, und zwar in der Gestalt einer Flamme. Der Prinz war äußerst
darüber erschrocken, und wusste nicht, was er tun sollte. Sie aber nahm schnell
ihren vorigen Platz wieder ein, und sprach: „Mein Prinz, warum bist Du so
bekümmert, und warum ist Deine Gesichtsfarbe so verändert?“ –
„Ach,“ sagte er, „irgend eine Angelegenheit macht mir
Kummer.“ – „Nun wohl, Dein Vater ist König,“ erwiderte sie,
„bediene Dich seiner Reichtümer, benutze seine Schätze.“ – „Was
mich bekümmert,“ sagte der Prinz, „kann nicht durch Schätze
abgewandt, auch nicht durch Kriegsheere vermieden werden.“ – „Ihr
Leute sagt ja,“ sprach sie, „dass ihr einen Himmel und einen Gott
habt, der alles sieht, ohne gesehen zu werden, der allgegenwärtig, allmächtig,
allwissend ist, und über den keine Macht geht. Rufe diesen zu Hilfe gegen das,
was Dich betrübt.“ – „Sehr wohl,“ sagte er, „nur an ihn
kann ich mich wenden.“ Zugleich richtete er seinen Blick zum Himmel,
schüttete sein Herz in einem frommen Gebet vor Gott aus, und sprach: „O
mein Gott, zu Dir nehme ich meine Zuflucht in der Angelegenheit, die mich jetzt
bekümmert,“ und indem er dieses sagte, zeigte er auf sie. In demselben
Augenblick fiel sie, immer noch als Flamme, zur Erde, und wurde eine
ausgebrannte schwarze Kohle. Da lobte und dankte er Gott wegen seiner Rettung.
Seinen Weg weiter fortsetzend, gelangte er endlich in sein Land und zu seinem
Vater.

„Du musst wissen, o König,“ sagte die Frau
hinzu, „dass dieses alles auf Veranstaltung des Wesirs geschehen war,
welcher die Absicht hatte, den Sohn des Königs umkommen zu lassen. Du siehst
also, o König, dass den Wesiren nicht immer zu trauen ist.“ Der König
beschloss hierauf, keinem der Wesire mehr Gehör zu geben.


1)
Truglieb