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95. Nacht

Herr, Euer Majestät kann sich denken, wie groß das
Erstaunen des Kalifen über diesen grässlichen Anblick war. Aber er ging aus
dem Erstaunen in einem Augenblick in Zorn über, und indem er auf den Wesir
einen furchtbaren Blick warf, sagte er zu ihm: „Unglücklicher, auf solche
Weise wachst du also über die Handlungen meiner Völker? Man begeht ungestraft
unter deiner Verwaltung Meuchelmorde in meiner Hauptstadt und wirft meine
Untertanen in den Tiger, damit sie am Tage des Gerichts um Rache gegen mich
schreien! Wenn du die Ermordung dieser Frau nicht schnell durch den Tod ihres
Mörders rächst, so schwöre ich bei dem heiligen Namen Gottes, dass ich dich
und vierzig deiner Verwandten hängen lasse!“ – „Beherrscher der
Gläubigen,“ erwiderte ihm der Großwesir, „ich bitte Euer Majestät,
mir Zeit zu gönnen, um Untersuchungen anzustellen.“ – „Ich gebe dir
dazu nur drei Tage,“ versetzte der Kalif, „sieh nun zu!“

Der Wesir Giafar ging in einer großen Verwirrung von
Gefühlen nach Hause. „Ach,“ sagte er, „wie werde ich in einer so
großen und volkreichen Stadt als Bagdad einen Mörder ausfindig machen können,
der dieses Verbrechen gewiss ohne Zeugen begangen, und diese Stadt vielleicht
schon verlassen hat? Ein anderer als ich würde irgend einen Elenden aus einem
Gefängnis nehmen und ihn zur Befriedigung des Kalifen hinrichten, aber ich will
mein Gewissen nicht mit einer solchen Untat belasten und lieber sterben, als um
solchen Preis mich retten.“

Er befahl den ihm untergebenen polizeilichen und
richterlichen Beamten, dem Verbrecher sorgfältig nachzuspüren. Sie setzten
sich selbst und ihre Leute in Bewegung, da sie nicht weniger als der Wesir von
dieser Angelegenheit betroffen waren. Aber wie sehr sie sich auch bemühten,
alle ihre Bemühungen waren unnütz, sie konnten den Urheber des Meuchelmordes
nicht ausfindig machen, und der Wesir sah wohl ein, dass es ohne eine besondere
Hilfe des Himmels um sein Leben geschehen wäre.

In der Tat kam am dritten Tag ein Gerichtsdiener zu diesem
unglücklichen Staatsbeamten und forderte ihn auf, ihm zu folgen. Der Wesir
gehorchte, und als der Kalif ihn gefragt hatte, wer der Mörder wäre,
antwortete er ihm mit tränenden Augen. „Ich habe niemand gefunden, der mir
auch nur die geringste Nachricht davon hätte geben können.“ Der Kalif
machte ihm zorn- und wuterfüllte Vorwürfe, und befahl, ihn und vierzig
Barmekiden1)
an der Pforte des Palastes aufzuhängen.

Während man sich mit Aufrichtung der Galgen beschäftigte
und die vierzig Barmekiden aus ihren Häusern holte, rief ein öffentlicher
Ausrufer auf Befehl des Kalifen in allen Vierteln der Stadt folgendes aus:

„Wer die Genugtuung haben will, den Wesir Giafar und
vierzig Barmekiden, seine Verwandten, aufhängen zu sehen, der komme auf den
Platz vor dem Palast.“

Als alles geschehen war, brachten die Blutrichter und eine
große Anzahl von Gerichtsdienern den Großwesir nebst den vierzig Barmekiden
herbei, stellten jeden von ihnen an den Fuß des für ihn gebauten Galgens und
legten ihm den Strick um den Hals, an welchem er in die Höhe gezogen werden
sollte. Das Volk, mit welchem der ganze Platz angefüllt war, konnte dieses
traurige Schauspiel nicht ohne Schmerz und Tränen sehen, denn der Großwesir
Giafar und die Barmekiden waren wegen ihrer Rechtschaffenheit, ihrer
Freigebigkeit und ihrer Uneigennützigkeit nicht nur in Bagdad, sondern im
ganzen Reich des Kalifen geliebt und geehrt.

Nichts hinderte die Ausführung des unwiderruflichen
Befehls dieses zu strengen Prinzen, und man war nahe daran, den
rechtschaffensten Leuten der Stadt das Leben zu nehmen, als ein junger, sehr
wohl gebildeter und wohl gekleideter Mann sich durch die Menge bis zum Großwesir
drängte, ihm die Hand küsste und zu ihm sagte: „Erhabener Wesir,
Oberhaupt der Emire dieses Hauses, Zuflucht der Armen, ihr seid des Verbrechens
nicht schuldig, wegen dessen ihr euch hier befindet. Entfernt ihr euch, und
lasst mich für den Tod der in den Tiger geworfenen Frau büßen. Ich bin ihr
Mörder, und verdienen, deshalb bestraft zu werden.“

Obgleich diese Rede dem Wesir viel Freude machte, so hatte
er doch Mitleid mit dem jungen Mann, dessen Gesichtsbildung gar nichts
Unheimliches, sondern im Gegenteil etwas Einnehmendes hatte, und er wollte ihm
eben antworten, als ein großer Mann, von schon weit vorgerücktem Alter, der
sich auch durch das Gedränge einen Weg gebahnt hatte, vor den Wesir trat und zu
ihm sagte: „Herr, glaubt nichts von dem, was der junge Mann euch sagt.
Niemand als ich hat die im Kasten gefundene junge Frau umgebracht. Mich allein
muss die Bestrafung treffen. Ich beschwöre euch im Namen Gottes nicht den
Unschuldigen statt des Schuldigen zu bestrafen“ – „Herr,“
erwiderte der junge Mann, sich zum Wesir wendend, „ich beschwöre euch, das
ich es bin, der diese schlechte Handlung begangen hat, und dass niemand aus der
Welt mitschuldig ist. „Mein Sohn,“ unterbrach ihn der Greis, „die
Verzweiflung hat dich hierher geführt, und du willst deinem Geschick
zuvorkommen. Was mich betrifft, ich bin schon lange auf der Welt und reif, sie
zu verlassen. Lass mich also mein Leben für das deinige opfern. Herr,“
fügte er hinzu, indem er sich an den Großwesir wandte, „ich wiederhole es
euch, ich bin der Mörder, lasst mich hinrichten. Zögert nicht.“

Der Streit des Greises und des jungen Mannes veranlasste
den Wesir, sie beide, mit gern erteilter Erlaubnis des Beamten, welcher
beauftragt war, bei der Hinrichtung zu befehligen, vor den Kalifen zu führen.
Er küsste die Erde siebenmal, und sprach: „Beherrscher der Gläubigen, ich
bringe vor Euer Majestät diesen Greis und diesen jungen Mann, die sich beide,
jeder allen, als Mörder der Frau anklagen.“ Der Kalif fragte nun die sich
Anklagenden, wer von ihnen beiden die Frau so grausam zerstückt und in den
Tiger geworfen hätte. Der junge Mann versicherte, dass er es gewesen sei, da
aber der Greis das Gegenteil behauptete, sagte der Kalif zum Großwesir:
„Geh, lass sie alle beide hängen.“ – „Aber, Herr,“ sagte
der Wesir, „nur einer ist der Verbrecher. Es wäre eine Ungerechtigkeit,
den anderen hinrichten zu lassen.“

Diesen Worten entgegnete der junge Mann: „Ich
schwöre bei dem großen Gott, der die Himmel zu ihrer Höhe erhoben hat, ich
habe die Frau vor vier Tagen getötet, gevierteilt und in den Tiger geworfen.
Wenn das, was ich sage, nicht wahrhaft ist, so will ich am Tag des Gerichts
keinen Teil mit anderen haben. Ich also bin der, welcher bestraft werden
muss.“ Der Kalif war von diesem Schwur überrascht, und glaubte ihm um so
eher, da der Greis nichts darauf erwiderte. Deshalb sagte er, indem er sich zu
dem jungen Mann wandte: „Unglücklicher, warum hast du ein so abscheuliches
Verbrechen gegangen, und aus welchem Grunde kommst du, um dich selbst zum Tod
darzubieten?“ – „Beherrscher der Gläubigen,“ antwortete er,
„wenn man alles das aufzeichnete, was sich zwischen mir und dieser Frau
zugetragen hat, so gäbe das eine Geschichte, die den Menschen sehr nützlich
sein könnte.“ – „Erzähle sie uns,“ versetzte der Kalif,
„ich befehle es.“ Der junge Mann gehorchte und fing seine Erzählung
folgendermaßen an:


1)
Die Barmekiden sind, nächst den regierenden Häusern, eine der erlauchtesten
Familien Asiens. Der erste, der dieses Geschlecht berühmt gemacht hat, nannte
sich Abu Aly Jahia Ben Chaled Ben Barmek. Mit allen bürgerlichen und
kriegerischen Tugenden begabt, wurde er vom Kalifen Mahadi zum Hofmeister seines
Sohnes Harun Arreschyd gewählt. Er hatte vier Kinder, namens Fadhel, Giafar
(der von welchem hier die Rede ist), Muhammed und Mussa, welche nicht von der
Tugend des Vaters entarteten, und den Ruf der Barmekiden bis zur höchsten Stufe
erhuben, auf welche Verdienst und Gunst eine Familie erheben können, die nicht
auf dem Thron sitzt. Die Barmekiden haben das Eigentümliche, dass, vom Glück
verlassen und bei den Kalifen Harun Arreschyd in Ungnade gefallen, das Andenken,
welches die Völker von dem Verdienst und den Eigenschaften dieser großen
Männer bewahrten, ihr Unglück auf solche Weise überlebt hat, dass sie fast
ebenso viel Geschichtsschreiber gefunden haben, welche ihr Leben beschrieben,
als die größten Fürsten des Morgenlandes.