Project Description

947. Nacht

Das Mädchen war sehr in Furcht, und hielt sich fest an
den Sattelknopf des Pferdes an. Nach Verlauf einer Stunde befanden sie sich
plötzlich auf einer schönen grünen Wiese, deren Boden einem Gewand glich, in
welches Blumen von den verschiedensten Farben eingewebt waren. In der Mitte
derselben erhub sich hoch in die Luft ein prächtiges Schloss, dessen goldene
Zinnen mit Perlen und Juwelen besetzt waren. An der Pforte desselben standen
viele der größten Geister mit den kostbarsten Kleidern angetan. Als sie den
Greis erblickten, riefen sie alle aus: „Die Fürstin Tochfa kommt!“
Als sie an die Pforte kam, näherten sie sich ihr, halfen ihr vom Pferd
absteigen, gingen mit ihr ins Schloss, und küssten ihre Hände. Das Innere des
Schlosses überraschte sie durch seine Pracht. Sie befand sich unter vier
gegenüberstehenden Säulengängen, die mit goldenen Wänden eingefasst, und von
unbeschreiblicher Höhe waren. Im Mittelpunkt des Schlosses war ein prächtiger
Thron von Gold, zu welchem man auf fünf silbernen Stufen empor gelangte. Zur
Rechten und Linken standen viele Stühle und Sessel von Gold und Silber, auf
deren einen sie der Greis sich niedersetzen hieß. Tochfa war über diese Pracht
ganz erstaunt, und pries Gott, ihren Herrn. Nun aber näherten sich die Könige
der Geister in menschlicher Gestalt jenem Thron. Nur zwei Könige hatten ihre
Gestalt beibehalten: Ihre Augen waren nämlich der Länge des Gesichts nach
gespalten. Sie hatten etwas hervorragende Hörner und herausstehende Zähne.
Jetzt aber erschien auch ein sehr schönes Mädchen, deren Gestalt und Anmut
unvergleichlich waren. Das Licht ihres Angesichts überstrahlte die Anzahl von
Wachskerzen, die in dem weiten Saal brannten. Drei Frauen, fast ebenso schön
als sie, begleiteten das Mädchen. Sie grüßten Tochfa, welche vor ihnen
aufstand, und sich bis zur Erde neigte. Jene indessen umarmten sie, hießen sie
willkommen, und setzen sie auf den Thron. Diese vier Frauen waren nämlich: Die
Königin Kamrye nebst ihren Schwestern, den Töchtern des Königs Sisban.
Kamrye, welche Tochfa’s sehr liebte, grüßte und umarmte sie nochmals. Hierauf
sagte der Greis Ablys: „Seid willkommen, und nehmt mich zu Euch.“ Da
lacht Tochfa, und Kamrye sprach: „Liebe Schwester, ich liebe Dich, und mein
Herz ist davon Zeuge.“ Worauf jene antwortete, dass auch sie ihr sehr teuer
wäre, und dass sie sich als eine ihrer Sklavinnen betrachtete. Jene lobte nun
Tochfa’s Höflichkeit, und sagte zu ihr: „Diese da sind die Frauen der
Könige der Geister.“ Hiermit stellte sie ihr ihre Schwestern vor, grüßte
sie, und fügte hinzu: „Diese hier ist die Königin Bahyme1),
jene da die Königin Scharare2).
Beide sind nur darum gekommen, um Dich zu sehen.“ Tochfa erhob sich, und
küsste ihnen die Hände, jene dagegen umarmten sie, und erwiesen ihr alle
mögliche Ehrenbezeigungen. Darauf wurden Tisch ein Bereitschaft gesetzt, und
unter andern wurde eine Schüssel aufgetragen, die von Gold, und mit Perlen und
Edelsteinen besetzt war. Auf ihrem goldnen Rand war mit grünen Smaragden
folgender Vers geschrieben:

„Ich bin verfertigt der Speise wegen: Hände der
Edeln haben mich gestaltet.
Mit vielen Seltenheiten bin ich begabt, verbotenes enthalte ich nie.
Genießt also, was ich Euch darreiche, unbesorgt, und preist Gott, den Herrn der
Kreaturen.“

Nachdem Tochfa diese Verse laut gelesen hatte, aßen sie
miteinander. Doch als sie die beiden Könige sah, die ihre Gestalt nicht
verändert hatten, sagte sie zur Kamrye: „O meine Fürstin, was sind denn
das für ein paar Tiere? Ich kann sie nicht länger ansehen, denn sie flößen
mir Schrecken ein.“ Da lachte die Königin, und sprach: „Liebe
Schwester, dieser hier ist mein Vater Sisban3)
und der andere ist Maimun, der Schwertträger. Aus Stolz haben sie ihre Gestalt
nicht verändern wollen. übrigens sind alle, die du hier versammelt siehst,
ihnen ganz gleich. Nur deinetwegen haben sie die Menschengestalt angenommen, aus
Furcht, Du möchtest Dich vor ihnen entsetzen, und hoffend, Du würdest Dich so
leichter ihnen nähern und froh sein.“ – „Ach, wie ist doch Maimun
hässlich? ich kann ihn nicht länger ansehen,“ erwiderte sie. Worauf dann
die Königin von neuem laut zu lachen begann, so dass ihr Vater sie um die
Ursache dieses Lachens fragte. Die Königin benachrichtigte ihn von den
äußerungen Tochfas in einer Sprache, die diese nicht verstand, worüber Sisban
ebenfalls außerordentlich lachen musste, doch so schrecklich, dass es einem
Donner gleich. Als sie gespeist hatten, und die Tische weggenommen waren,
wuschen sie sich alle die Hände, und Ablys nahte sich der Tochfa, und sagte zu
ihr: „Durch Deine Gegenwart hast Du diesen Ort freundlich gemacht, ihn
erleuchtet und verschönert. Die hier versammelten Könige wünschen sehr, etwas
von Deinem reizenden Gesang zu vernehmen. Die Nacht hat schon ihre Flügel
ausgebreitet, um uns zu verlassen, und nur noch kurze Zeit wird sie
dauern.“ Sie ergriff nun die Laute, und probierte auf eine ganz wunderbare
Art die Saiten, ob sie gestimmt seien? Die Töne waren so schmelzend, dass das
Schloss mit ihnen zu wogen schien, und Tochfa begann dann folgende Verse zu
singen:

„Gegrüßt seid mir, und wisst, dass mein Bündnis
fest ist, und das sich treu halten werde, was ihr sagtet: So wollen wir bleiben,
und so wollen wir uns wieder finden.
Gewiss, ich will Euch alsdann meine Gunst beweisen, sanfter wie der Zephyr,
süßer, wie klares helles Wasser.
Denn bis jetzt sind meine Augen von Tränen wund, und mein Herz voll Sehnsucht
nach Euch.
O, Ihr Geliebten, schon hat die Trennung uns entzweit; das war es, was ich von
ihr fürchtete.
Gott allein kann ich klagen, was mich betrübt, denn ich bin betrübt und voll
Sehnsucht.“

Die Könige der Geister gaben über diesen schönen Gesang
ihre Freude durch laute Beifallsbezeigungen zu erkennen, und die Königin
umarmte Tochfa, und küsste sie auf die Stirn.


1)
Tageshitze