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935. Nacht

„Nun wohl,“ sagte der Präfekt, „setze nur
alles in Bereitschaft.“ Da erbat sich die alte Frau von ihm Leute, die sie
begleiteten, die Bande gefangen nehmen, und ihm zuführen sollten.
„Indessen,“ fügte sie hinzu, „befiehl du Deinen Leuten, dass sie
alles, was ich ihnen sagen werde, genau befolgen sollen.“ Er gab ihr nun
eine Anzahl von Leuten zur Begleitung, mit denen sie sich an die Tür eines
Hauses begab, und dort zu ihnen sagte: „Hier bleibt stehen, ich werde Euch
einen nach dem anderen herausschicken, und jeden ergreift!“ Sie ging
hierauf hinein. Die Leute blieben draußen stehen, und warteten eine ganze
Stunde, ohne dass irgend jemand herauskam. Da es ihnen nun zu lange dauerte, und
sie schon Langeweile empfanden, so begaben sie sich selbst hinein, fanden aber,
dass das Haus nur ein Durchgang war, und sich folglich niemand darin befand. Sie
sahen nun zu spät ein, dass die Frau sie hintergangen hatte, und begaben sich
zum Präfekten, und zeigten ihm die Sache an. Dieser erkannte sogleich, dass es
eine listige Betrügerin gewesen, und wunderte sich bloß, wie sie sogleich auf
der Stelle den Plan zu ihrer Rettung hatte entwerfen können.“

Nun begann der sechste Vorsteher, folgende Geschichte zu
erzählen:

„Ich wurde einst zu einer Gesellschaft eingeladen,
deren Gastgeber einer meiner Freunde war. Er holte mich selbst ab, und als wir
in sein Haus angekommen waren, setzten wir uns aufs Sofa, wo er sich sehr
erfreut darüber zeigte, einen so schönen Tag erleben zu können. Die
Gesellschaft kam nun nach und nach zusammen, das Gespräch wurde lebhaft, und
man erzählte sich Geschichten. Da unterbrach mein Freund die Unterhaltung mit
folgenden Worten:

„Eine Begebenheit muss ich Euch doch erzählen, die
mir selber begegnet ist. In meinen Laden kam oft ein Mann, den ich nicht kannte,
und den ich in meinem Leben nicht gesehen hatte, und wenn er etwas nötig hatte,
nahm er es gewöhnlich von mir auf borg. Das dauerte eine lange Zeit so fort. Ja
er wurde immer zudringlicher, so dass er manchmal an einem Tag Sachen von zehn
bis zwanzig Drachmen an Wert von mir verlangte. Eines Tages kam eine Frau von
vorzüglicher Schönheit in meinen Laden, der von dem Glanz ihrer Augen
förmlich erhellt wurde, denn sie glich einem Stern. Ich wurde von ihrer
Schönheit ganz betroffen, und entschloss mich, sie anzureden. Ich fragte sie
nämlich nach ihrem Namen und nach ihrer Wohnung, und bat sie um die Erlaubnis,
sie besuchen zu dürfen. Allein ohne darauf zu antworten, kaufte sie eine
Kleinigkeit, und ging davon. Mir war ganz so, als hätte sie meine Seele
mitgenommen, so sehr war ich über ihre schnelle Entfernung bestürzt. Es
verflossen mehrere Tage, ohne dass ich den Eindruck, den sie auf mich gemacht
hatte, los werden konnte. Als ich eines Tages ganz vertieft in meinem Laden
saß, wurde ich plötzlich durch ihren Anblick überrascht. Sie trat nämlich
wiederum in meinen Laden, und entzückte mich so sehr durch ihre Unterhaltung,
dass ich sie einlud, mich mit ihrem Besuch zu beehren. „Ich kenne Dich
nicht,“ erwiderte sie, „und ich besuche nie einen Unbekannten.“ –
„Nun, so vergönne mir, dass ich zu Dir komme,“ bat ich sie. –
„Nun so komm,“ gab sie zur Antwort, und da ich vermutete, dass sie
mich kostbar bewirten würde, so nahm ich eine bedeutende Summe Geldes mit. Sie
ging voran, ich folgte ihr, und wir gelangten endlich an eine enge Straße, und
in dieser an ein Haus, dessen Türe sie mir zu öffnen befahl. Ich weigerte
mich, allein sie tat es nun selbst, führte mich hinein, und schloss die Tür
hinter sich zu. In dem Vorzimmer sagte sie zu mir, ich möchte hier sitzen
bleiben, bis sie, wie sie vorgab, ihre Dienerinnen entfernt haben würde, damit
diese mich nicht sähen. Nach einer Weile kam sie unverschleiert zurück, und
sagte zu mir: „Komm jetzt, sie sind alle entfernt. Ich werde Dich nun in
ein anderes Zimmer führen.“ Wir gingen nun aus einem Zimmer ins andere,
bis wir endlich an einen Saal gelangten, den ich aber nichts weniger als schön
fand. Es war weder Annehmlichkeit noch Symmetrie in demselben. Alles war darin
unordentlich, ja ich möchte sagen abscheulich. Außerdem war auch noch ein so
widerwärtiger Geruch in demselben, dass ich um keinen Preis mich darin hätte
lange aufhalten mögen. Plötzlich wurde ich hier in meinen Betrachtungen durch
das Erscheinen von sieben kaum notdürftig gekleideten Männern unterbrochen.
Sie hatten lederne Gürtel um, näherten sich mir, und ohne ein Wort zu sagen,
nahm der erste mir meinen Turban, der andere nahm das Tuch, in welches ich das
Geld geknüpft hatte, ein dritter entkleidete mich, noch ein anderer kam, und
band mir die Arme mit ledernen Riemen auf den Rücken. Als sie mich ganz
ausgeplündert hatten, schleppten sie mich unter einen Schoppen, um mich darin
umzubringen. Da wurde plötzlich an die Haustüre gepocht. Alle wurden nun von
einem heftigen Schreck ergriffen, und die Frau begab sich hinaus, um zu sehen,
wer da wäre. Sie kehrte indessen bald wieder zurück und sagte: „Ihr habt
nichts zu befürchten, denn Euer Herr brachte eben Euer Mittagessen, und zwar
einen gebratenen Schöps.“ Als der Herr nun selber bald darauf herein trat,
sprach er: „Was habt ihr da vor? Was wollt ihr da vornehmen?“ –
„Wir haben eine Beute gefangen. Hier ist sie.“ Der Mann sah mich
hierauf an, tat einen lauten Schrei, und rief: „Bei Gott, das ist ja mein
leiblicher Bruder!“ Dann band er mich sogleich auf, küsste mein Haupt, und
ich erkannte in ihm meinen unbekannten Freund, der mir so oft abgeborgt hatte.