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926. Nacht

Infolge seiner Betrübnis wurde Selim krank, und der Koch,
der ihn schon für verloren hielt, nahm ihn aus dem Gefängnis und aus den
Ketten, und überlieferte ihn einem alten Weib, deren Pflege er ihn anvertraute.
Die Frau übernahm ihn, und brachte ihn nach ihrer Wohnung. Die Pflege, die er
bei ihr genoss, verbunden mit der Freude, nicht mehr in den Fesseln zu
schmachten, beschleunigte seine Besserung, und da seine alte Pflegerin gehört
hatte, dass die fremde Frau den Armen so viel Wohltaten erzeigte, und dass Arme
und Reiche sie priesen, so machte sie sich auf, brachte Selim vor die Haustüre,
legte ihn auf einen Teppich, wickelte ihn in Lumpen, und setzte sich ihm
gegenüber. Die Königin ging bald darauf vorüber, und als die Alte sie
erblickte, stand sie auf, überhäufte sie mit Segenswünschen und sprach:
„Meine Tochter, Du, welche so viel Gutes ausübst, wisse, dass dieser
Jüngling ein Fremder ist, der schon vor Gram, Mangel, Hunger, Blöße und
Kälte dem Tod nahe war.“ Die Königin, als sie dieses hörte, gab ihm
sogleich Almosen, und mehreres andere, was sie eben bei sich hatte. Die Alte
nahm dies an, überbrachte es dem Selim, behielt bloß etwas davon für sich,
und kaufte von dem übrigen für Selim ein altes Hemd, zog ihm dasselbe an, und
warf die Lumpen, womit er bisher bedeckt gewesen war, weg. Alsdann kaufte sie
ihm junge Hühner, machte ihm eine gute Brühe, die er verzehrte, und die ihn so
stärkte, dass er sich am anderen Morgen schon recht wohl befand. Da sprach die
Alte zu ihm: „Wenn die fremde Frau wieder kommen wird, so stehe auf, küsse
ihr die Hand und sage: „Ich bin ein fremder Mann, der an allem Mangel
leidet, und in dem tiefsten Kummer sich befindet.“ Vielleicht kann sie Dir
etwas geben, was Deinen Zustand sehr erleichtern wird. „Sie nahm ihn
hierauf bei der Hand, und führte ihn bis an die Haustüre, wo er kaum
angekommen war, als die Königin vorbei kam. Die Alte stand sogleich auf, und
Selim küsste der Königin die Hand, und dankte ihr. Als er sie aber erblickte,
erkannte er sie, und stieß einen lauten Schrei aus, weinte, seufzte, und
beklagte sich. In demselben Augenblick näherte sie sich ihm, erkannte ihn, warf
sich ihm um den Hals, und beide umarmten sich auf das zärtlichste. Sie rief
zugleich ihr ganzes Gefolge herbei, welches ihn von diesem Ort fort brachte. Die
Alte aber rief in das Haus hinein, nach dem Koch, welcher auch sogleich
herbeieilte, und ihr zurief, sie solle dem Selim nachgehen. Sie tat es auch, und
er folgte ihr hinterdrein. Als er endlich den Selim erreicht hatte, rief er aus:
„Was fällt Euch ein, meinen Sklaven mir so wegzunehmen?“ Die Königin
indessen rief ihm zu: „Wisse, dass dies mein Gemahl ist, den ich schon
längst vermisse.“ Selim seinerseits rief: „Ich nehme meine Zuflucht
zu Gott und dem Sultan vor diesem Bösewicht.“ In diesem Augenblick
versammelte sich eine Menge Volk, welches einen so gewaltigen Lärm erhob, dass
man verlangte, die Sache solle vor den König gebracht werden, welcher eben
seine Schwester Selma war. Sie wurden nun vor diese gebracht, und der
Dolmetscher sprach: „O König, diese Frau ist von Indien hierher gekommen.
Sie hat soeben diesen jungen Mann weggenommen, und gibt vor, es sei ihr Gatte,
der schon vor zwei Jahren verloren gegangen, und sie sei bloß wegen ihm aus
Indien hierher gereist. Nun aber ist auch hier ein Koch, welcher vorgibt, der
geraubte junge Mann sei sein Sklave.“ Als Selma, welche als König diese
Stadt beherrschte, dieses hörte, wurde ihr Innerstes tief bewegt, und Seufzer
stiegen aus ihrem gepeinigten Herzen hervor, da sie sogleich ihres Bruders
gedachte. Sie befahl daher, sie näher treten zu lassen. Sobald sie die Fremden
ansah, erkannte sie ihren Bruder, und sie hatte alle Mühe nötig, um ihre
Freude nicht blicken zu lassen, und bedurfte alle ihre Geistesgegenwart, um ihre
Empfindungen zu unterdrücken. Indessen tat sie sich Gewalt an, und sprach:
„Jeder von Euch soll mir seine Geschichte erzählen.“