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923. Nacht

„Lieber Bruder,“ antwortete Selma, „ich
weiß nicht, was ich zu so etwas sagen soll. Doch Du weißt ja das Sprichwort,
welches sagt: „Wer das Beste auswählt, wählt nicht vergebens, und wer
einen guten Rat verlangt, wird es nicht bereuen.“ Auch sagt ein anderes
Sprichwort: „Wenn man sich verbrannt hat, bleiben die Spuren lange.“
übrigens ist dies da ein sehr bedenkliches Geschick, was uns trifft, und wir
müssen ein Mittel finden, um diesen Vorfall zu enträtseln, und eine List
ersinnen, diese Schmach von uns abzuwenden.“ Die beiden Geschwister hörten
sofort nicht auf, die Türe zu beobachten, bis der Morgen anbrach. Da öffnete
der junge Mann wieder die Türe, und trat heraus, begleitet von ihrer Mutter,
die von ihm Abschied nahm. Er ging hierauf von dannen, und sie begab sich in ihr
Schloss zurück. Da sprach Selim zu seiner Schwester: „Ich bin fest
entschlossen, den Mann zu töten, wenn er die folgende Nacht wieder kommt, und
ich werde dann vorgeben, es sei ein Dieb gewesen, denn niemand wird etwas von
dieser Sache vermuten.“ – „Ich fürchte sehr,“ sprach Selma,
„wenn Du ihn tötest, und man ihn nicht als einen unter die Räuber
gehörenden Mann anerkennen sollte, so wird auf uns der Verdacht fallen, und wir
sind dann nicht sicher, dass er nicht vielleicht zu einer Familie gehört, deren
Rache zu fürchten ist. So würdest Du dann, um einer verborgenen Schande zu
entgehen, Dich in eine offenbare Schmach gestürzt haben. Weißt Du denn keinen
anderen Ausweg, als ihn zu töten? übereilen wir uns doch nicht mit einem Mord,
denn ohne Ursache jemand töten, ist ja eine große Sünde.“

Da sprach der König Schachriar bei sich selbst: „Bei
Gott, ich war ein großer Verbrecher, dass ich ohne Ursache so viele Frauen habe
umbringen lassen, denn der Todschlag ohne Ursache ist ja eine große Sünde.
Gott sei gelobt, dass er mich durch dieses Mädchen vom Todschlag so vieler
anderen abgehalten hat. Wahrhaftig wenn der König Schach Bacht seinem Wesir
verzeiht, so will ich auch der Scheherasade das Leben lassen!“, und hiermit
neigte er sein Ohr, um die Geschichte zu hören. Scheherasade aber fuhr in ihrer
Erzählung also fort:

Da sprach Selma zu Selim: „übereile Dich also nicht,
ihn zu töten, und denke über die Folgen der Sache nach, denn das Sprichwort
sagt: „Wer nicht an die Folgen denkt, für den ist die Zeit kein
Freund.“1)

Nachdem sie bis zum anderen Morgen über diese
Angelegenheit beratschlagt hatten, begaben sie sich den folgenden Morgen, ihrer
Gewohnheit gemäß, zu ihrer Mutter. Diese, eine verschlagene und sehr listige
Frau, bemerkte indessen in ihrem ganzen Benehmen und sogar in ihren Augen eine
auffallende Veränderung. Sie beschloss daher vor ihren Kindern sehr auf der Hut
zu sein. Zugleich ließ sie ihnen merken, dass sie sie durchschaue.

Als sie wieder weggegangen waren, sprach Selma zu ihrem
Bruder: „Siehst Du, in welche Gefahr wir uns gestürzt haben mit dieser
Frau? Sie fühlt recht wohl, dass wir ihre Ausführung kennen, und merkt, dass
wir etwas gegen sie im Sinn haben. Sie wird nun aber ihrerseits auch trachten,
uns zu schaden, und sie kann uns auch wirklich in die größte Gefahr stürzen.
Indessen ich glaube, das Schicksal will es, dass wir uns auf eine Art, wie mir
eben einfällt, retten, und zwar dadurch, dass wir uns noch diese Nacht zusammen
entfernen, und uns in ein anderes Land begeben, wo wir in Ruhe leben, und unsere
Schande nicht vor Augen haben werden, denn das Sprichwort sagt: Wer den Augen
fremd ist, ist auch den Herzen fern. Auch sagt ein Dichter:

„Entfernt von Dir sein, ist besser und schöner, (als
in Deiner Nähe sein), wenn das Auge nicht sieht, kann sich das Herz nicht
betrüben.“

Sie kamen also überein, und suchten ihre kostbarsten
Kleider zusammen, so wie auch ihre Edelsteine und ihren Schmuck, so das sie
viele Sachen von Wert zusammen brachten. Selim ließ darauf zehn Maulesel bereit
halten, sie mit den Sachen bepacken und mietete sich Leute, die nicht aus dem
Land waren. Zugleich riet er seiner Schwester, Mannskleider anzuziehen. Sie sah
darin ihrem Bruder so ähnlich, dass die Leute sie nicht von ihm zu
unterscheiden vermochten. Hoch gepriesen sei der, dem niemand ähnlich, und
außer welchem kein anderer Gott ist!

Sie bestiegen hierauf jeder ein Pferd, und reisten in der
Nacht ab, ohne dass jemand von ihrer Familie oder von ihren Hausgenossen etwas
davon wusste. Nach Verlauf zweier Monate gelangten sie an die Stadt Scharou,
welche am Ufer des Meeres liegt, und zum Königreiche Bachchran gehört. Sie ist
die erste Stadt im Land Sind. Vor der Stadt stiegen sie ab, um zuvor dieselbe
nebst ihren Umgebungen in Augenschein zu nehmen, und es dünkte ihnen, als sei
sie sehr bevölkert, und reich an Gärten. Da sprach Selim zu seiner Schwester:
„Warte Du hier. Ich werde in die Stadt gehen, mich darin nach mehrerem
erkundigen, und eine Wohnung mieten, wo wir unsere Sachen niederlegen können.
Wenn es uns gefällt, so bleiben wir hier; wenn nicht, so reisen wir
weiter.“ Seine Schwester genehmigte dies. Er nahm nun einen Beutel mit
tausend Goldstücken, und ging in die Stadt, in welcher er nicht aufhörte, sich
nach Häusern umzusehen, und sich mit denjenigen Bewohnern, die ihm gefielen, zu
unterhalten, bis es Mittag wurde. Jetzt gedachte er, sich zu seiner Schwester
zurück zu begeben. Doch wollte er ihr einige zubereitete Speise mitnehmen. Er
ging daher zu einem Koch, trug diesem auf, mehrere Schüsseln voll Speisen und
Esswaren zu besorgen, und alles gut in einen Korb einzupacken, und gab diesen
Korb einem Lastträger, nachdem er dem Koch den Preis alles Bestellten reichlich
bezahlt hatte. Als Selim weggehen wollte, sprach der Koch zu ihm: „Junger
Herr, ihr seid wahrscheinlich fremd. Ich muss Euch vor dem Genuss fetter Speisen
in diesem Land warnen, denn wer nicht darauf alten Wein trinkt, dem sind sie so
schädlich, dass er davon tödlich krank werden kann.“ – „Ich danke
Dir für diesen Rat,“ antwortete Selim. „Kennst Du aber wohl jemanden,
der mit alten Weinen handelt?“ – „Bei mir“, antwortete jener,
„kannst Du alles haben, was Du brauchst.“ Da nun Selim ihn zu kosten
verlangte, sprang der Koch schnell auf, und führte ihn in ein Gemach, wo er ihm
Wein zu kosten gab. „Ich wünschte besseren,“ sagte Selim. Da öffnete
der Koch eine Türe, und sprach zu Selim: „Folge mir.“ Sie traten nun
aus einem Gemach ins andere, bis sie in ein unterirdisches Zimmer kamen, in
welchem er ihm wiederum Wein darreichte, der ihm indessen sehr schlecht zu sein
schien. Hier nahm der Koch eine Gelegenheit wahr, um den Selim von hinten zu
ergreifen, und ihn auf die Erde zu werfen. Zugleich zog er ein Messer aus seinem
Gürtel und kniete ihm auf die Brust.


1) D.h.
der versteht die Zeit, die ihm vor der Ausführung einer Sache noch bleibt,
nicht zu benutzen. Die Zeit wird nur dann zum Freund, wenn man sie gut anwendet.