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913. Nacht

Marusi fragte sie ferner wegen des Vermögens und wegen
der Gelder, auf welche Frage sie indessen ebenfalls antwortete, dass sie von dem
Allem nichts wisse.

Nunmehr setzte er sich an das Haupt des Verstorbenen, und
sagte ihm ins Ohr: „Wisse, lieber Rasi, dass ich Dich nicht eher als nach
zehn Tagen verlassen, und dass ich die Nächte hindurch bei Dir wachen werde.
Sei also kein Thor, und stehe auf.“ Rasi antwortete aber nicht. Da begann
jener mit einem Messer an den Händen und Fußsohlen des Toten zu kratzen, in
der Hoffnung, er würde sich bewegen. Indessen er wurde bald müde, und glaubte
fast selber, dass der andre wirklich tot sei. Allein da fielen ihm die Streiche
ein, die Rasi auszuüben pflegte, um Geld zu gewinnen, und sofort begann er nun
sein Leichenbegängnis anzuordnen, und ließ ihn zum Totenabwäscher bringen.
Dieser nahm den Toten sogleich vor, ließ Wasser kochen, bis es siedend, und um
ein Drittel schon eingekocht war, und goss es dann auf seine bloße Haut, dass
sie rot wurde und Blasen zog. Der Tote rührte sich indessen nicht. Sodann
wickelten sie ihn in ein Leichentuch, trugen ihn auf den Begräbnisplatz, legten
ihn in einen Sarg1) und
überschütteten ihn mit Erde.

Hierauf gingen die Leute auseinander. Doch Marusi nebst
der Frau des Verstorbenen setzten sich an sein Grab, und sie blieben dort bis
zum Untergang der Sonne, da sage die Frau zu Marusi: „Komm, wir wollen nach
Hause gehen, denn das Weinen nützt uns nichts. Auch bringt es uns den Toten
nicht zurück.“ – „Ich rühre mich nicht von der Stelle,“
antwortete Marusi, „und sollte ich zehn Tage und zehn Nächte hier
bleiben.“ Als die Frau dies hörte, fürchtete sie sich sehr, dass, wenn er
sein Wort hielte, ihr Mann umkommen würde. Gleichwohl schien es ihr am besten zu
sein, wenn sie ginge, denn er würde ihr dann bald nachfolgen. Sie entfernte
sich also, und Marusi bleib bis nach Mitternacht an jener Stelle. Da dachte er
bei sich selbst: „Wie lange soll ich hier sitzen? Dieser Hund könnte wohl
in der Tat sterben, und dann wäre das Geld verloren. Das beste ist, ich grabe
ihn aus, und überhäufe ihn mit Schlägen.“ Dies führte er auch sogleich
aus, brach einen starken Ast von einem Baum ab, entblößte ihn von seinen
Blättern, band dem Mann die Füße, und schlug ihn, so sehr er nur konnte. Der
Tote indessen bewegte sich nicht. Als ihm auch dies zu lange dauerte, und er
fürchtete, die Aufseher der öffentlichen Sicherheit möchten ihn bemerken, da
der Kirchhof sehr nahe an der Straße lag, so trug er ihn von dannen, und
brachte ihn in den sehr abgelegenen Kirchhof der Magier oder Feueranbeter, trug
ihn dort in eine Gruft, und begann von neuem, ihn zu schlagen, und zwar so, dass
ihm alle Kräfte ausgingen. Allein der Tote bewegte sich noch immer nicht. Er
blieb also an seiner Seite sitzen, sammelte wieder neue Kräfte, und begann
nochmals sein Geschäft. Allein eben so erfolglos.

Als er sich nun eben wieder etwas erholen wollte, traten
plötzlich Räuber in den Kirchhof, die gewohnt waren, ihre gestohlenen Sachen
dort zu teilen. Es waren ihrer zehn Personen, und sie hatten viel kostbare
Sachen bei sich. Da sie der Gruft näher traten, hörten sie dass darinnen
Schläge ausgeteilt wurden, und ihr Anführer sprach zu ihnen: „Seht, hier
ist ein Magier, den die Engel soeben quälen!“ Sie gingen also hinein, und
als Marusi sie erblickte, fürchtete er, es möchten Polizeidiener sein. Er
ergriff also die Flucht, und verbarg sich hinter anderen Gräbern. Die Räuber
aber näherten sich dem Ort, und fanden den Rasi mit gebundenen Füßen, und
neben ihm eine große Anzahl zerschlagener Stöcke liegen. Sie waren hierüber
außerordentlich erstaunt und sagten: „Das muss ein schändlicher Sünder
gewesen sein, denn die Erde hat ihn aus ihrem Inneren ausgespieen. Er ist
übrigens noch ganz frisch, und dies muss wohl seine erste Nacht sein. Da die
Engel ihn jetzt soeben gepeinigt haben, so muss es bei Gott wohl etwas sehr
verdienstliches sein, wenn wir ihn ebenfalls peinigen. Wer also unter
Euch,“ fuhr der Anführer fort, „Sünden zu bereuen hat, der schlage
diesen hier gleichsam zum Sühnopfer vor Gott.“ Da riefen alle: „Wir
sind alle mit Sünden behaftet!“, und somit fingen sie an, auf ihn
los zu hauen, wobei einige sagten: „Das nimm noch für die Sünden meines
Vaters!“, andere sagten: „Für die meines Großvaters!“, und noch
andere: „Für die meines Bruders!“ usw. und so fuhren sie so lange
fort, bis sie müde waren. Alles dieses hatte der versteckte Marusi mit
angesehen, und in seinem Innersten herzlich darüber gelacht. Endlich aber
schritten die Räuber zur Teilung des gestohlenen Gutes, worunter sich unter
anderen auch ein kostbarer Säbel befand, über dessen Wert sie sich nicht
einigen konnten. Da sagte ihr Anführer: „Wir wollen ihn probieren, und
wenn er gut ist, so wollen wir seinen Wert bestimmen. Ist er schlecht, so ist es
nicht der Mühe wert, dass man um ihn zankt. Probiert ihn gleich hier an diesem
Toten, denn er ist noch ganz frisch.“ Mit diesen Worten nahm der Anführer
den Säbel, zog ihn aus der Scheide, und holte aus.


1) Im
Orient werden die Särge nicht zugenagelt, sondern bloß zugedeckt.